Porträt: Gerd Kühr

Erfolg ist in der Neuen Musik relativ. Denn um große Massen wie in der Popkultur anzusprechen, fehlt zeitgenössischen Kompositionen oftmals eine größere Öffentlichkeit in Medien, Schule und bei Veranstaltern. Abgesehen davon handelt es sich bei Gerd Kühr um einen Vertreter seines Berufsstandes, der inzwischen seit Jahrzehnten beständig im Programm zu finden ist – sei es bei den Salzburger Festspielen, dem steirischen herbst oder den Dresdner Tagen für zeitgenössische Musik sowie über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes und den Kontinent hinaus. Zu den ebenso  zahlreichen Auszeichnungen, die Kühr in seiner beständigen Laufbahn erhielt, gesellte sich 2012 auch der Österreichische Kunstpreis im Bereich Musik hinzu. Am Mittwoch, 9.1. wird im Wiener Musikverein sein neues Werk “Jetzt wohin?” mit Ignaz Kirchner als Sprecher, dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde sowie den Wiener Symphonikern unter Fabio Luisi aus der Taufe gehoben.

Aus kleinsten Elementen gelingt es Gerd Kühr, ganze Werke zu entspinnen. Aus schnarrendem Rauschen einer kleinen Trommel dringt ein einzelner Ton in sich wandelndem, unregelmäßigem Rhythmus hervor, wird von anderen Instrumenten nach und nach übernommen und so in Klangfarbe wie Tonhöhe variiert. Der einzelne Ton wird nach und nach um kleine Verzierungen erweitert und eröffnet eine stringente Klangwelt. Hier nutzt Kühr kleine, traditionelle Gestaltungsmittel, um sie in neuem Kontext zu ungewohnter Verarbeitung in Erscheinung treten lässt. Von der steten Durchdringung mit traditionellen Elementen ist nicht nur der beschriebene Beginn von „Revue instrumentale et électronique“  (2004/05) geprägt. Denn die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Gattungen oder musikalischen Figuren ist eine wesentliche Triebfeder des Schaffens von Kühr. Dabei würde die Schussfolgerung von einer in der Tradition verhafteten Klangsprache in die Irre führen, denn gerade aus der profunden Kenntnis historischen Materials entwickelt Kühr eine sehr individuell gestaltete Verarbeitung.

“Distanz und Nähe, Stillstand und Klang-Bewegung, Statik und Tempo, teils aufgeregt und schrill … imaginäres Tanztheater”, so beschreibt Kühr seine “Revue”. Während sich die Werke der letzten Jahre spezifisch musikalischen Thematiken widmen, erreichte Kühr mit Opern erstmals ein größeres Publikum, als 1988 bei der ersten Münchner Biennale “Stallerhof” auf ein Libretto von Franz Xaver Kroetz zur Uraufführung kam und seither – für eine Oper jüngeren Datums äußerst ungewöhnlich – bereits in mehreren Städten in Österreich, Deutschland und der Schweiz zu sehen war. Und 1999 folgte “Tod und Teufel” nach Peter Turrini zum 100-jährigen Jubiläum der Grazer Oper. In dieser Affinität zur Oper, denen jeweils noch eine stringente Handlung zugrunde liegt, lässt sich eine Verbindung zu seiner Ausbildung herstellen. Denn nach seinem Kompositionsstudium am Salzburger Mozarteum holte sich Kühr Anregungen bei seinem späteren Lehrer Hans Werner Henze. Und auch Geschichte, Musikerziehung und Dirigieren gehören zu seinen belegten Fächern, weshalb er auch gelegentlich seine eigenen Werke zur Aufführung bringt.

Nach der Entstehung seiner Opern lässt sich eine Entwicklung hin zur Auflösung der traditionellen Gattung zeichnen, wobei er dem theatralen in der Musik stets treu bleibt. So auch in seinem Patricia Kopatchinskaja gewidmeten Violinkonzert “Movimenti” (2004/06), in dem gleich mehrere traditionelle Elemente zu neuer Deutung finden. So etwa, wenn die Interpreten weiter die Gesten des Musizierens ausüben, ohne jedoch einen Ton zu erzeugen – gestaltete Stille also. Auch findet hier das Ausloten der Grenzen zwischen Klang und Geräusch zu einer Auflösung dieser beiden Kategorien; und die räumliche Komponente wird wie bei der „Revue“ durch das Gegeneinandersetzen unterschiedlicher Instrumentalgruppen eingebunden. Und in einem seiner jüngsten Werke, der “Música Pura” (2010/11) stellt sich Kühr selbst die Aufgabe, eine Musik zu schaffen, die ihre Expressivität aus sich selbst schöpft – eine zu seinen Opern beinahe gegenteiliger Ansatz.

Bei Gerd Kühr darf man erwarten, dass er sich mit einem Preis wie dem verliehenen nicht auf eine einmal gefundene Klangsprache beschränken, sondern dass er sich immer wieder aufs Neue mit der Musik und ihren potenziellen Aufgaben und Gestaltungsformen auseinandersetzt und so zu möglicherweise Unerwartetem findet. (dw)

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