Podiumsdiskussionen über "Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt" im Konzerthaus – Beitrag von Katharina Klement

Am 10. November fand im Wotruba-Saal des Konzerthauses im Rahmen von Wien Modern die von mica-music austria organisierte, in 3 Panels ablaufende Podiumsdiskussion “Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt” statt, mit Diskussionen auch des (dortigen) Publikums. Sie wurde gemeinsam mit dem International Music Council (IMC) und der – nicht zu vergessen in Salzburg 1921 gegründeten – Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) abgehalten (wieder kräftige Lebenszeichen mit neuem Team). Im Anschluss lud das BMUKK (MinR Mag. Hildegard Siess) zu einem Empfang ins Schubert-Saal-Buffet.Katharina Klement ist Komponistin und Leiterin des Lehrgangs “Computermusik und Elektronische Medien an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

 
Zeitgenössische Musik als Neo-Oralität des 21. JahrhundertsDie Spieltechniken der zeitgenössischen Musik haben sich in den letzten 60 Jahren geändert. Neben der traditionellen Schriftkultur hat das Aufkommen der Elektronik und die Reintegration der Improvisation eine neue orale Technik begründet.
Das junge Publikum für Neue Musik verlinkt sich auf Internet-Foren, bezieht sich in seiner Hörkultur auf Ambient genauso wie auf Ligeti. Seine Musik bezieht sich u.a. wiederum auf ethnologische Musik aus Afrika. Wir befinden uns längst in einem diaphanen musikalischen Spektrum, d.h. in einem transparenten Übereinander vielfältiger musikalischer Kulturen. Die europäische Tradition ist nur eine “Falte” darin.
Die Frage ist, ob in dieser vielfältigen Überlagerung noch ein differenziertes “Registrieren” möglich bleibt, oder ob letztlich alles als “Muzak” im Alltagslärm untergeht.

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Nachdem ich von Neo-Oralität im Titel spreche, möchte ich an erster Stelle die bereits geprägten Begriffe primäre und sekundäre Oralität erläutern:

Unter primärer Oralität versteht man diejenigen Kulturen, in denen Musik über das Hören, ohne Schrift, von einer Generation an die andere weitergegeben wird. Diese drohen auszusterben.

In der sekundären Oralität ist der Tonträger das eigentlich vermittelnde Medium, es beherrscht in unserer Zeit den musikalischen Austausch. Die “i-pod-Generation” lädt sich die Musik, die sie hören will, aus dem Internet oder von CDs in ihren temporären Speicher. Werke der zeitgenössischen Musik werden in diesen Speichern eher selten zu finden sein. Diese Musik entzieht sich in mehrfacher Weise diesem Medium:

Sie lässt sich nicht in komprimierter Qualität abbilden. Sie ist eine Kunst, die immer wieder die Ränder der Wahrnehmung berührt, seien es die Ränder der Lautstärke (ppp bis fff) oder die des Klangspektrums (vom Sinuston bis zum weißen Rauschen). Auch ein komplexeres räumliches Konzept lässt sich nicht im Stereo-Hörraum abbilden. Zeitgenössische Musik lässt sich schwer nebenher in der U-Bahn hören.

Die komprimierte Qualität beziehe ich aber nicht nur auf die technisch komprimierten Daten sondern implizit auch auf die ästhetisch limitierte und schematisierte Audio-Produktion, die so ein Medium vorgibt. “Funktionieren” tut in so einem Medium eine Audio-Produktion, die ganz mit und in diesem elektronischen Speichermedium arbeitet, so wie es eine gute Pop-Produktion längst tut. Pop-Musik hat sich die sekundäre Oralität als ihr primäres Medium zunutze gemacht. Pop-Musik lernt man in erster Linie über Datenträger kennen, ein Live-Konzert ist hier eher die Ausnahme, das Besondere.

Zeitgenössische Musik arbeitet in erster Linie nicht für das Medium Tonträger. (Ausgenommen sei hier die elektronische Tape-Musik, die natürlich mit dem Medium Tonträger in ursprünglicher Funktion arbeitet). Sie wird als Live-Konzert konzipiert und rezipiert. Die Spieltechniken dieser Live-Konzerte haben sich aber von Grund auf erneuert, erweitert. Seit dem Aufkommen der Elektronik in den 1950er Jahren und der Reintegration der Improvisation (in den 1950ern und 1960ern beispielsweise mit der englischen Gruppe AMM (Keith Rowe,git/Eddie Prevost,dr/Lou Gare, sax/viol), oder den Komponisten Cage, Earle Brown, Haubenstock-Ramati) kamen wieder Techniken ohne Schriftkultur bzw. mit grafischer Schriftkultur ins Repertoire der Neuen Musik. Die Partitur allein, sofern vorhanden, gab nur mehr einen Bruchteil eines Werkes wieder.

Die Elektronik mit ihrer Speichermöglichkeit jeglichen hörbaren Materials revolutionierte natürlich auch den ästhetischen musikalischen Zugang: vom bellenden Hund bis zum abfahrenden Zug, von singenden Pygmäen bis zum Violinton, das Mikrofon, Tonband bzw. Harddisk und der Lautsprecher wandeln alles zur virtuellen Sample-Datenbank um. Längst haben wir uns auch schon vom Schock erholt, die Existenz von InterpretInnen in Frage zu stellen, da sie von Lautsprechern als letzte Instrumente der elektronischen Musik verdrängt zu werden schienen.

Friedlich agieren InstrumentalistInnen, LaptopistInnen, DJs, Live-ElektronikerInnen, Sound Artists usw. nebeneinander in der Konzertlandschaft.
Oberste Prämisse bleibt: man muss in solche Konzerte gehen, um diese (zeitgenössische) Musik hören zu können, egal, wo sie stattfindet: im Konzerthaus, im Club, im Kinosaal oder im Studio…

 
Das junge Publikum für Neue Musik verlinkt sich im Internet auf Foren wie myspace, bezieht sich in seiner Hörkultur auf Ambient genauso wie auf Ligeti oder Stockhausen. Der Zugriff auf Musik aller Art scheint im Internet unbegrenzt, auch die Möglichkeit des Selbstproduzierens bzw. Komponierens ist mit günstig erwerbbaren komplexen Soundtools keine elitäre Angelegenheit mehr. Doch meist bleibt es bei einem oberflächlichen Gebrauch dieser Werkzeuge, es gibt ein Meer an so genannten UserInnen, die mehr oder weniger im vorgegebenen Schema der Software produziert. Mehr denn je muss der kulturelle Bildungsauftrag erhalten bleiben, um das Fortbestehen einer non-konformen, zeitgenössischen Musik zu sichern.
Jeder (junge) Mensch sollte

  1. zum aktiven Hören angehalten werden: lernen, eine achtsame Haltung des Hörens, des Horchens, einzunehmen, um überhaupt einmal das Gehörte differenzieren zu können.
  2. jeder junge Mensch sollte einmal aufgefordert werden, ohne Vorlage ein Musikstück zu bauen, ähnlich wie es im Zeichenunterricht längst Usus ist. Sich selbst sozusagen vor das leere weiße Blatt setzen.

Diese beiden Anweisungen sollten genügen, ein neues Hörvermögen zu erreichen, das für das Erleben und Verständnis von zeitgenössischer Musik unabdingbar ist. Es geht auch darum, eine Einstellung zu lernen, sich bei einem Konzert nicht eine “Erwartung” abzuholen (diese Haltung herrscht bei einem klassischen oder Pop-Konzert vor), sondern sich auf etwas Ungewisses und Unmittelbares einzulassen.

Dieser Zugang zum Unmittelbaren, so selbstverständlich das klingen mag, muss langwierig erarbeitet werden. Meine langjährige Erfahrung im Schulprojekt “Klangnetze” hat mir gezeigt, dass nichts so schwierig zu lehren ist wie das Einfachste: “einfach nur zuhören”. Auch das Erlernen eines Instruments scheint trotz Musikcomputer nichts an Attraktivität verloren zu haben, sofern es Vermittlung und langjährige Förderung dafür gibt. Musikausübung gehört nicht zu den sogenannten “quick wins”, ist aber eine kulturelle Investition, die sich langfristig auf allen möglichen Bereichen der persönlichen Entwicklung auswirkt: wie bz.B. Konzentrationsfähigkeit, Förderung von Teamfähigkeit oder Vorbeugung vor burn out, um nur einige zu nennen.

Wir leben in einem Alltag, in dem wir gelernt haben, mit akustischer Dauerberieselung zu leben, mit Fertigprodukten aller Art (handy-Klingeltöne, Werbejingels, Kaufhausmusik) zu leben und das aktive Hören abzuschalten, eine “Easy Listening” Hörhaltung wird allerorten propagiert. Dieser Haltung eine andere entgegen zu halten ist ein Gebot der Stunde.

Es gilt, sich mit aller Deutlichkeit abzugrenzen vom Ausverkauf der vermarktbaren und damit funktionalen Musik, der sogenannten Muzak. Cage hat in den 1950ern die Fenster des Konzertsaals geöffnet, um die Geräusche von draußen in diesen Raum herein zu lassen. Müssen wir sie, in diesem mittlerweile veränderten Konzertsaal, nicht wieder schließen, damit wir wieder einen Raum gewinnen, in dem es still ist, in dem wir unsere Ohren wieder öffnen können für ein Hörerlebnis, das sich nach wie vor den Luxus leisten kann, vom künstlerischen Impetus geleitete Werke zu schaffen, egal ob sie wirtschaftlich rentabel sind oder nicht.

Dieser Raum einer neuen Oralität, im diametralen Gegensatz zur immer noch zunehmenden Dauerbeschallung des lärmenden Alltags, muss geschützt werden, muss gefördert werden, muss vermittelt werden. Dieser Raum steht auch im Gegensatz zur sogenannten “world music”, die auf ein exotisches musikalisches Menü abzielt, in denen die Gewürze Emotion und Fernweh nicht zu kurz kommen, letztlich aber ein Ausverkauf im Kolonialstil ist. Vielmehr muss die Musikkultur und Musik-Ausbildung im jeweils eigenen Land nach Kräften gefördert werden.

Zeitgenössische Musik muss zum Scharfstellen des Hörens einladen, ein Ereignisraum bleiben, der das Offene beherbergt, keine Hochglanzprodukte liefert, und per se keine Unterhaltung. Neue Musik muss eine Kategorie des Ungewissen bleiben, es darf nicht zum Establishment werden, und bleibt damit ein sensibles und schützenswertes Vorhaben.