Am 10. November fand im Wotruba-Saal des Konzerthauses im Rahmen von Wien Modern die von mica-music austria organisierte, in 3 Panels ablaufende Podiumsdiskussion “Publikumswandel: Herausforderungen für die Kunstmusik in der ganzen Welt” statt, mit Diskussionen auch des (dortigen) Publikums. Sie wurde gemeinsam mit dem International Music Council (IMC) und der – nicht zu vergessen in Salzburg 1921 gegründeten – Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) abgehalten (wieder kräftige Lebenszeichen mit neuem Team). Im Anschluss lud das BMUKK (MinR Mag. Hildegard Siess) zu einem Empfang ins Schubert-Saal-Buffet.Bernhard Lang ist Komponist und unterrichtet Komposition an der Kunstuniversität Graz. Zurzeit ist er außerdem Capell-Compositeur der Sächsischen Staatskapelle Dresden.
TURN OUT THE LIGHTS – Einige Thesen und Hypothesen zum Thema “Publikumswandel”.
I. Begriffswandel
- Der Begriff des Publikums ist eine begriffliche Abstraktion. Der Begriff richtet sich auf die abstrakte Totale einer Rezipientenschaft.
Wir wenden unser eigenes (kultur-) politisches Kategoriensystem an, um den Begriff zu bilden. - Diese Begriffsbildung ist eine Entscheidung der politischen Ökonomie. Sie selbst muss Gegenstand der politischen Rezeptionsforschung sein, sie ist bereits Gegenstand der Marktforschung geworden.
- In dieser Hinsicht ist es vielleicht notwendig, nicht allein den Publikumswandel als Summe der Veränderungen im Rezeptionsverhalten, der rezeptorischen Kompetenzen und Performanzen zu thematisieren, sondern den Wandel des Publikumsbegriffs.
- Der Publikumsbegriff kann ein aktuales und ein potentiales meinen: sind in einem Konzert etwa 100 Menschen aktuell anwesend, so stellt das eine Teilmenge der potentiellen Hörer dieser speziellen Musikrichtung, diese wiederum eine Teilmenge aller potentiellen Konzertbesucher dar.
- Gibt es bei diesem Konzert mediale Vermittlungen, so kommt der Begriff des virtuellen Publikums, wiederum differenzierbar in ein aktuales und potentiales, hinzu.
- Entscheidend ist letztlich die Evaluation dieser unterschiedlichen Auffassungen und Eingrenzungen des Publikumsbegriffs durch die Kulturmacher und Kulturmächtigen, d.h. durch die Kulturpolitik. Hier kommen vor allem quantitative Kategorien zur Anwendung: Ist ein Publikum von etwa 100 Menschen überhaupt für die Kulturpolitik relevant, eines von 2400 Menschen, oder beginnt die politische Wahrnehmung erst bei größeren Massen?
Es geht hier also auch um die Umgangsweise mit kulturellen Minderheiten.
II. Gesellschaftspolitischer Wandel
Rezeption
- Nicht nur die kulturellen Produktionsverhältnisse, sondern auch das Rezeptionsverhalten ist ein Spiegel des politischen Verhältnisse.Politische Rückwärtsbewegungen der Gesellschaft, Restaurations- und Regressionsphasen finden in Veränderungen der Rezeptionsverhalten ihren Ausdruck. Anti-Aufklärerische Bewegungen der Gesellschaft gehen Hand in Hand mit dem Versuch, dem Voranschreiten der künstlerischen Diskurse entgegenzuwirken. (Truespeak: “Volkskultur ist Hochkultur”).
- Der Künstlerische Diskurs, ebenso wie der dahingehend unhinterfragte wissenschaftliche, ist ein fortschreitender. Bewegt sich der Rezeptive Diskurs nicht mehr, oder gar rückwärts, entsteht eine Differenz der Wahrnehmungsweisen, eine Differenz zwischen dem Selbstverständnis der Kunstschaffenden und der Rezipientenschaft.
- Hier sind unterschiedliche Weisen des Voranschreitens und der Bezugpunkte zu unterscheiden:
a) Produzent und Rezipient befinden sich (idealerweise) am Jetztpunkt des Diskurses. Es gibt ein gemeinsames Voranschreiten und Verstehen.
b) Der Produzent steht am Jetztpunkt des Diskurses, die Rezipienten bleiben zurück: Resultat ist Verständnisverlust, Aggression, Ablehnung.
Man zieht sich in die existentielle Dimension der Gestrigkeit zurück. Die Gestrigkeit zielt auf die Affirmation der klassischen Diskurse.c) Der Produzent verschiebt den Diskurs auf eine zukünftig utopischen Punkt (“Science Fiction”) und zelebriert die Entfernung von allen klassischen Diskursen: das Bild der klassischen, futuristischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts.Die Science Fiction hat gezeigt, dass wir bei der ehrgeizigen Konzeption des Zukünftigen immer ungewollt Gestrigkeiten projizieren: Stockhausen wollte zum Sirius, blieb aber stets im Köln der Fünfzigerjahre. – “The Dead Dreams of the Cold War Kids”.
d) Produzent und Rezipient befinden sich beide in vergangenen Diskursen, (das kann auch der Punkt einer vergangenen Avantgarde sein, die sich selbst zitiert: die “Staubige Avantgarde”:). Hier jene Übereinstimmung noch möglich, welche einerseits große Teile der Landschaft der Neuen Musik ermöglicht, sich jedoch auch mit einer Feindlichkeit gegenüber neueren Diskursen vermischen kann.
Fotos Bernhard Lang: Katharina Gossow