Die Nachricht traf die heimische wie internationale Musikwelt Sonntagmittag als ein Schock: NIKOLAUS HARNONCOURT ist am 5. März 2016 verstorben – nur drei Monate nachdem der Pionier der historischen Aufführungspraxis seinen Rückzug vom Pult erklärt hatte. Christian Heindl zum Tod des österreichischen Dirigenten und Musikvermittlers.
Die Fähigkeit zum Kern zu dringen
Ein Nachruf auf den am 6. Dezember 1929 geborenen Johann Nicolaus Graf de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt kann letztlich nur unvollständig ausfallen: Zu groß waren seine Leistungen, zu umfassend sein Wirken, zu begnadet seine Fähigkeit, für die komplexesten musikalischen (und nicht nur diese) Fragen die schlüssigsten und weise Antworten zu geben. Ein einziger Satz von Harnoncourt, oft ganz spontan ausgesprochen, konnte denjenigen, der ihn las, oft Stunden, Tage und darüber hinaus beschäftigen. Mit einer Präzision, die dem Begriff „Genie“ sehr nahekommt, erfasste er intuitiv Ursache und Wirkung. Langer Beschäftigung mit einem Werk oder einer Epoche folgte eine oft unerwartete Erkenntnis, die durchaus sehr subjektiv gewesen sein mochte und doch durchaus immer schlüssig, plausibel und glaubwürdig wirkte – auf den Punkt den Kern der Materie treffend. Wäre er kein Musiker geworden, er hätte mit seinem Charisma durchaus zum Stifter einer neuen Religion werden können.
Aufführungspraxis als Glaubensfrage
Der Gedanke des Religionsgründers mag nur scheinbar weit hergeholt sein. Genau genommen war er nichts anderes in seinem ureigensten Gebiet: einer der zentralen Vorkämpfer einer historischen Aufführungspraxis, die die bis dahin gängige Interpretation weltweit revolutionierte. Es war der legendäre Josef Mertin, durch den der junge Cellist Harnoncourt mit der Problematik konfrontiert wurde. Obwohl er noch bis 1969 bei den Wiener Symphonikern, also im Bereich des „modernen“ Orchesterklangs engagiert war, gründete er bereits 1953 sein eigenes Ensemble, um die vielen Fragen, die sich ihm stellten, ganz unmittelbar zu lösen: die Geburtsstunde des Concentus Musicus Wien.
Der Concentus Musicus als Medium
Die bis dahin unbefriedigende Situation, Musik etwa der Renaissance und des Barock generell nur im gewohnten Klangbild der Gegenwart zu erleben, darin gleichzeitig auch oft eine gewisse Schwerfälligkeit hinnehmen zu müssen, veranlassten Nicolaus Harnoncourt und seine Kolleginnen und Kollegen – darunter auch seine Frau Alice – sich ein „Zurück zum Original“ zum Ziel zu setzen. Man suchte und fand oder rekonstruierte alte Instrumente und beschäftigte sich intensiv mit allen Quellen, die Hinweise auf die damalige Spielpraxis ergaben; und selbstverständlich wurde auch unermüdlich nach vergessenen oder vermeintlich verlorenen Werken geforscht und so das Repertoire mit vielen Entdeckungen angereichert. Viele folgten seinen Spuren, viele fanden davon ausgehend auch andere Wege, nahmen seine Ergebnisse nicht widerspruchslos hin – die Anerkennung für seine Pioniertaten versagte ihm aber kaum jemand.
Von Bach zum Neujahrskonzert
Es wäre müßig, Harnoncourts zentrale Dirigate im Konzert- und Bühnenbereich, seine zum Standard erhobenen Einspielungen aufzuzählen. Die Liste wäre selbst für einen Internetbericht zu lang. Im Zentrum stand, Bach, Bach und immer wieder Bach – ein Fixstern in Harnoncourts Sonnensystem oder besser: die Sonne selbst. Seine Bach-Edition ist nach wie vor ein Standard. Und ebensolches gilt für seine Monteverdi-Darstellungen, seinen Händel, seinen Mozart. Anfangs noch umstritten, als er sich auch in späteres Repertoire vertiefte, wurden auch hier die Kritiker bald sehr leise: Sein Smetana, sein Dvořák, ja, selbst sein Johann Strauß überzeugten – Letzterer nicht zuletzt vor einem Millionenpublikum bei den Neujahrskonzerten der Wiener Philharmoniker 2001 und 2003.
Er war und bleibt Musikvermittler
Natürlich wird jeder einige Sternstunden aufzählen können, die er Harnoncourt verdankt. Damit in Verbindung fast immer auch die Erkenntnisse, die er einem verschaffte, wenn er die Musik erklärte – in einer für jedermann verständlichen Sprache und nichtsdestoweniger wissenschaftlich fundiert. Für mich individuell am beeindruckendsten war vielleicht seine Vermittlung des Fragments des Finalsatzes der neunten Symphonie von Anton Bruckner, erstmals 1999 mit den Wiener Symphonikern im Wiener Musikverein (2002 folgte ein weiteres Konzert mit den Wiener Philharmonikern bei den Salzburger Festspielen). Die Art und Weise, wie er schlüssig den Aufbau des Satzes Teil für Teil durchging, dazwischen aber nur jene kurzen Abschnitte dirigierte, die Bruckner tatsächlich niedergeschrieben hatte, erhob diese Methode weit über alle bis dahin schon erfolgten Vollendungsversuche durch verschiedene Bearbeiter. Auch von dieser Art der Vermittlung wird sich vieles bleibend fortsetzen.
Doppelter Nachruf
Die Musikwelt, insbesondere aber Wien, das sein Wirkungszentrum war, waren zutiefst entsetzt, als Nikolaus Harnoncourt am 5. Dezember des Vorjahres in einem handschriftlichen offenen Brief seinen Rückzug als Dirigent verkündete. Die Anzahl an Würdigungen war unüberschaubar. Exakt drei Monate später, am 5. März 2016 ist er gestorben. Die Anzahl an Würdigungen wird nicht minder unüberschaubar sein.
Christian Heindl