„Niemand hat mehr ein Mischpult“ – ALEXANDR VATAGIN im mica-Interview

ALEXANDR VATAGIN ist Produzent, Recording, Mixing und Mastering Engineer und kooperierte bereits mit vielen heimischen, aber auch internationalen Acts. Man kennt ihn möglicherweise auch noch aus der Zeit, als er selbst aktiv Musik gemacht hat, inzwischen hat er sich aber ganz der reinen Studioarbeit zugewandt. Ada Karlbauer traf ALEXANDR VATAGIN zum zweiten Teil der Interview-Reihe über österreichische Produzentinnen und Produzenten und sprach mit ihm über seine Arbeit im Wiener „Sunshine Mastering“. Es ging um Mastering als eine Art „Dark Art“, die amerikanische Überwältigungsindustrie als „Role Model“, über das „Trap-Zeug“ und langweilige Gitarrenmusik aus den 70ern, „Retrotopia“ als Gegenwartsignoranz und darum, warum die Zeiten des analogen Mischpults schon lange vorbei sind.

Vom Staatsstipendium für Musik zur reinen Studioarbeit: Wie verlief der Weg vom Musiker zum Mixing, Mastering und Recording?

Alexandr Vatagin: Ich hatte relativ wenig Bezug zu Musik gehabt, bis ich mir mit achtzehn sehr unbedarft meine erste CD gekauft habe. Ab da ging es dann relativ flott bergauf. Zwei Jahre später waren Acts wie Radiohead und Sigur Ros meine Idole und ich beschloss, mit Peter Holy – einem Freund aus Jugendtagen – die Band Tupolev zu gründen. Mit Tupolev und der italienischen Formation Port-Royal bin ich dann viel live herumgekommen. Wir spielten Konzerte in über dreißig Ländern. Recording war früh ein Thema, da ich von Anfang an eigentlich alle meine Bands immer selbst aufgenommen habe. Nur Mixing und Mastering haben damals immer andere übernommen. Der wirklich große Bruch passierte dann 2012. Ich hatte mich in ein kleines Studio eingemietet, um mein letztes Soloalbum [„Serza“; Anm.] zu mischen, und bin quasi dort hängen geblieben.

„Es gab eigentlich dann nur diesen Plan A.“

Alexandr Vatagin: Von Mischen und Mastering hatte ich zum damaligen Zeitpunkt jedoch noch nicht wirklich eine Ahnung. Ich hatte davor zwar schon ab und zu was für andere produziert, wie zum Beispiel eine EP für Fettkakao, aber eigentlich lief es die Jahre davor ganz gut als Musiker. Ich hatte gerade ein Staatsstipendium bekommen, zudem war ich damals auch auf dem Gap-Cover der „besten“ jungen Musikerinnen und Musiker aus Österreich, aus denen auch tatsächlich etwas wurde: Dorian Concept, Clara Luzia, Soap&Skin und so weiter. Aber da es auch schön ist, wenn sich Dinge im Leben ändern, war mir ziemlich schnell klar, dass mir die Studioarbeit so viel Spaß macht, dass ich es wirklich durchziehen will und auch muss. Ich bin damals gerade dreißig geworden und konnte es mir nicht vorstellen, einen Bürojob oder Ähnliches zu machen. Es gab eigentlich dann nur diesen Plan A. 

Es scheint fast so, als wäre die Trial-and-Error-Methode der gängige Zugang zur Musikproduktion.

Alexandr Vatagin: Ja, ich glaube, das ist sehr normal, außer man arbeitet im Klassikbereich. Denn als Tonmeister muss man durchaus andere Kriterien erfüllen. Bei Popmusik im weitesten Sinne, egal ob es um experimentelle Elektronik, um Indie-Rock oder um Mainstream-Pop geht, zählt am Ende immer nur das Endprodukt. Der Weg dorthin kann bei jeder und jedem anders verlaufen. Jeder hat seinen eigenen Stil, geprägt von Musikvorlieben und der eigenen Persönlichkeit, was es eigentlich extrem spannend und vielfältig macht. Ich mache ja hauptsächlich Mastering, was als eine „Dark Art“ bekannt ist. Da ist das eigene Einwirken im Vergleich zum Mixing oder Recording theoretisch viel kleiner, aber je besser man wird und je unfertiger ein Mix ist, desto mehr macht das Mastering dann noch sehr große Unterschiede.

„Ich arbeite mit einigen Leuten, die ich noch nie gesehen habe.“

In Österreich scheinen viele Aufträge über persönliche Connections zustande zu kommen. Ist das international gesehen anders?

Alexandr Vatagin: Es ist relativ ähnlich, weil die meisten Jobs eigentlich über Empfehlungen kommen, und die Empfehlungen kommen meist von Künstlerinnen und Künstlern, mit denen man schon länger arbeitet. In dieser Hinsicht ist das immer noch alles sehr persönlich. Wobei es jetzt immer öfter vorkommt, dass ich wegen des Sounds einer gewissen Produktion angefragt werde. Der wirklich große Unterschied in der internationalen Zusammenarbeit ist, dass man sich nie sieht. Ich arbeite mit einigen Leuten, die ich noch nie gesehen habe, obwohl sich die Zusammenarbeit bereits über Jahre erstreckt. 

„Mich hat immer das Globale immer mehr interessiert.“

Alexandr Vatagin: Ich fand es schon als Musiker damals langweilig, nur in Österreich zu spielen. Mich hat das Globale immer mehr interessiert. Dieser Blickwinkel war auch gut für meine Studioarbeit, weil ich auch international schon Leute kannte. So konnte ich, obwohl ich noch nicht so bekannt war, regelmäßig internationale Projekte machen, was vor allem am Anfang der Karriere nicht so gewöhnlich ist. Ich habe meine Kontakte im Ausland und es freut mich einfach, mal eine Platte aus Italien zu mastern oder ein Album aus Amerika. Jetzt kommt bald auch eine Homepage, das macht bestimmt auch alles etwas einfacher. Momentan bin ich noch ein bisschen DIY und inkognito unterwegs [lacht].

Bild Alexandr Vatagin
Bild (c) Alexandr Vatagin

Gibt es für dich so etwas wie einen Mixing- oder Mastering-Helden? 

Alexandr Vatagin: Ich habe tatsächlich einen ganz großen Helden, den Mixing Engineer Tchad Blake. Er ist ursprünglich Amerikaner und arbeitet mit Künstlerinnen und Künstlern wie Tom Waits, The Black Keys und Stina Nordenstam zusammen, also mit Musikerinnen und Musikern, die mich persönlich auch sehr geprägt haben. Er mischt so wie kein anderer und das ist so groß und fett, aber immer noch „Indie“. Es hat einfach so viel Charakter. Diese starke Persönlichkeit, die er in der Musik hinterlässt, aber die Musik immer noch sich selbst sein lässt, hat mich extrem beeindruckt. 2019 habe ich ihn dann endlich kennengelernt, als ich ihm bei einem Seminar in Frankreich eine Woche lang beim Arbeiten zusehen durfte.

„Warum sollte etwas klein und dünn klingen, wenn es auch groß bzw. – plakativ gesagt – fett sein kann?“

In den vergangenen fünfzehn Jahren gab es maßgebliche qualitative Veränderungen und eine flächendeckende Professionalisierung der österreichischen Musikszene.

Alexandr Vatagin: Ja, vor allem im Indie-Pop-Sektor. Durch Wanda, Bilderbuch und so weiter hat sich extrem viel getan. Durch diese Entwicklungen hat sich auch die Produktionsszene auf ein anderes Level gesteigert. Wir helfen auch mit, die Artists in der Zusammenarbeit auf ein internationales Level zu bringen. So wie hier im „Sunshine Mastering“, wo ich seit letztem Sommer auch arbeite, orientiert man sich beispielsweise vom Qualitätsdenken und vom Anspruch her an einem internationalen Standard. Und dieser ist – so ehrlich muss man sein – ein höherer. Vor allem in der in der Unterhaltungsindustrie der USA.

„In der Produktion ist Amerika schon die Referenz.”

Kann man in diesem Zusammenhang von Amerika als „Role Model“ sprechen? 

Alexandr Vatagin: Warum auch immer, aber das US-Modell funktioniert tatsächlich am besten. Das heißt aber natürlich nicht, dass alles, was von dort kommt, toll ist. Aber da wir jetzt hauptsächlich von Produktion und der Unterhaltungsindustrie reden, sind die USA schon im Großen und Ganzen die Referenz und eine Benchmark. Es ist natürlich nicht für jede Musik der richtige Anspruch, es so zu denken, aber für vieles eben schon. Warum sollte etwas klein und dünn klingen, wenn es auch groß bzw. – plakativ gesagt – fett sein kann? The Black Keys sind dafür ein gutes Beispiel. Sie waren eigentlich gar nicht meine Musik, aber mich hat die Produktion sehr beeindruckt. Es war einfach direkt, groß und punchy. Das hat mich stark beeinflusst. Auch wenn es vielleicht etwas überheblich klingt, aber ich persönlich habe diesen Anspruch, Musik internationaler klingen zu lassen.

Dieser Approach klingt auch sehr mainstreamorientiert. Gibt es da im Produktionsbereich auch entgegengesetzte Tendenzen, die sich dem Großen, dem Überwältigenden verweigern?

Alexandr Vatagin: Ich glaube, die gibt es immer und überall. Aber durch die Entwicklungen der vergangenen zehn, fünfzehn Jahre in Österreich wurde kollektive Zugang einfach internationaler und weniger „nischig“. Ich denke, für Leute aus den 1980er-Jahren ist diese Veränderung schwieriger zu verstehen. Die Entwicklung ging vom großen Studio mit Tonbandmaschine und analogem Mischen hin zum Digitalen. Niemand hat mehr ein Mischpult. Es hat sich einfach extrem viel geändert und ich bin eher so aufgewachsen, dass ich in diese neuen Tendenzen hineingewachsen bin.

„Es wäre absurd, eine Entwicklung zu verdammen, nur weil sie passiert.” 

Ist dir diese langsam schwindende analoge Arbeitsweise inzwischen komplett fremd?

Alexandr Vatagin: Ich kenne sie schon ein bisschen. Ich hatte einmal ein analoges Mischpult. Nach drei, vier Jahren habe ich es aber verkauft, weil ich bemerkt habe, dass es einfach für mich nicht mehr zeitgemäß war. Die Technik ist in den letzten zehn Jahren auch einfach so viel besser geworden, vor allem im digitalen Bereich. Die Sachen klingen jetzt einfach so gut, dass man sonst einfach nichts mehr braucht. Abgesehen vom rein wirtschaftlichen Faktor: Früher brauchte man einen riesigen Raum mit einem Mischpult, das dreimal im Jahr kaputtgegangen ist [lacht].

Bild Studio Alexandr Vatagin
Bild (c) Alexandr Vatagin

Du hattest in den vergangenen Jahren Kollaborationen mit einer Vielzahl an österreichischen Künstlerinnen und Künstlern wie etwa Aiko Aiko, Spitting Ibex, Electric Indigo und vielen mehr. Was war dein persönliches Highlight?

Alexandr Vatagin: Es gibt natürlich viele Favoriten. Und in jedem der Tracks – egal ob man sie gemischt, gemastert oder aufgenommen hat – ist ja etwas von einem selbst drin. Man hat also immer eine Verbindung damit. Aber es gibt zwei Produktionen, die ich von der Musik, aber auch von der Intensität und Leidenschaft her hervorheben möchte.
Was mir wirklich sehr gut gefallen hat, war die Zusammenarbeit mit dem österreichischen Duo Aiko Aiko, das schon ein paar Jahre nichts gemacht hat, dieses Jahr aber ein neues Album herausbringen wird. Das habe ich gemischt und gemastert. Das zweite wirklich spezielle Projekt aus Österreich war David Howald. Das ist wirklich intensive, spannende und spezielle Musik. Manche Leute lieben sie, manche hassen sie, sie polarisiert einfach sehr, was ein sehr gutes Zeichen ist, finde ich. Die Sachen hat Wolfgang Möstl aufgenommen und ich habe sie gemischt und gemastert. Das waren für mich die zwei spannendsten Projekte im letzten Jahr.

Kennst du eigentlich Frauen, die in diesem Bereich tätig sind?

Alexandr Vatagin: Es gibt jedenfalls zu wenige Frauen, das ändert sich aber gerade auch sehr stark. Das finde ich gut. Ich arbeite mit einer weiblichen Produzentin zusammen, Emily Minely Fakic auch bekannt als Soulcat E-Phife. Sie produziert hautsächlich Hip-Hop. Aber in Hinblick auf Tontechnik oder Mixing gibt es in Österreich wenige, die ich kenne. Ich denke, es dauert seine Zeit, bis sich der Bereich noch mehr öffnen wird. Ich freue mich jedenfalls, wenn es passiert.

„[…] sich der Vergangenheit bewusst sein, aber in die Zukunft blicken.“

Was sind deine Gedanken zu weniger exklusiven Zugängen und zur zunehmenden Entprofessionalisierung von Studioarbeit und Produktion?

Alexandr Vatagin: Ganz ideal ist es nicht, aber es gibt immer zwei Seiten der Medaille. Abgesehen davon ist es so, wie es ist. Man muss sich anpassen und neue Herausforderungen annehmen, also sich der Vergangenheit bewusst sein, aber in die Zukunft blicken. Tchad Blake, über den ich zuvor schon gesprochen habe, ist mittlerweile 65 und bespricht in seinem Seminar Künstlerinnen und Künstler wie Cardi B und J. Cole, quasi modernen Trap. Diesen offenen Zugang finde ich super. Ich finde es super, wenn eine Person, die eigentlich schon in Pension sein könnte, moderne Musik, die normalerweise von 20-Jährigen gehört wird, vorspielt und damit viel anfangen kann. Ich kenne natürlich auch Personen, die mit dem „Trap-Zeug“ nichts anfangen können, weil sie nur Gitarrenmusik aus den 70ern hören [lacht]. Das finde ich schon okay, aber es wäre für mich einfach zu langweilig.

Solche Mindsets erinnern auch stark an den vom Soziologen Zygmunt Bauman entwickelten Begriff „Retrotopia“, womit er meint, dass der Blick stets an der „untoten Vergangenheit“ haften bleibt und dabei die Gegenwart – in dem Fall Trap – als tragender Bestandteil der Popkultur oder Ähnliches komplett abgelehnt wird.  

Alexandr Vatagin: Solche Beschränkungen sind persönliche Entscheidungen. Für mich wäre es einfach zu einschränkend. Ganz abgesehen davon, dass es langfristig für den Beruf nicht ideal ist. Musik verändert sich immer und ich finde das spannend. Man muss nur bereit sein, mit der Veränderung zu gehen. Seitdem ich Tidal benutze, die High-Quality-Alternative zu Spotify, habe ich so viel neue Musik entdeckt, wie ich das nicht mehr getan habe, seit ich neunzehn oder zwanzig war. Die Entmonetarisierung der Künstlerinnen und Künstler ist natürlich die dunkle Seite der Medaille. Einfach mit der Zeit gehen ist schon eine gute Geschichte – und dabei die Vergangenheit zu kennen und zu berücksichtigen, aber trotzdem in der Gegenwart zu stehen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Ada Karlbauer

 

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