Needs & Know-how: Raus aus der Resteverwertung

Welche Räume sind für eine lebendige freie Musikszene in Wien nötig und wie können wir sie schaffen und erhalten? Sara Zlanabitnig und Arnold Haberl schilderten als Vertreter*innen der Initiative mitderstadtreden anhand von aktuellen Beispielen die Problemlage im Rahmen des internationalen Symposiums “Freie Szene – Orte schaffen”, das am 3. und 4. September 2020 im Semperdepot stattgefunden hat.

Wien wird nicht nur gern als Welthauptstadt der Musik bezeichnet, die Stadt hat auch eine der vielfältigsten und innovativsten Musikszenen mit allen möglichen Subszenen wie Elektronik, Pop, Jazz, neue und alte Musik, Improvisation, Klangkunst, Komposition. Die freie Musikszene umfasst Musikschaffende aller Genres, die nicht in gesetzlich abgesicherten oder durch langjährige Förderverträge garantierten Verhältnissen arbeiten. Sie fungieren innerhalb und außerhalb der Stadt als wichtige Impulsgeber. Nicht wenige Musiker*innen aus Wien machen beachtliche internationale Karrieren – dennoch ist die Repräsentanz im kulturellen Erscheinungsbild der Stadt nicht ausreichend gegeben.

Verluste der letzten Jahre

mo:e (c) Sara Zlanabitnig

Leider hat sich die Situation der Musikräume der freien Szene in den letzten Jahren (schon vor COVID-19) dramatisch zugespitzt:

  • Prominente Veranstalter haben bestehende Reihen für experimentelle Musik aufgegeben: z. B. die “Generator”-Reihe im Wiener Konzerthaus, die “charhizma”-Abende im Porgy & Bess.
  • Einst wichtige Räume wie das Metropol oder die Szene Wien sind infolge der Vergabe- und Finanzierungspolitik der Stadt Wien schon länger nicht mehr für die freie Szene nutzbar.
  • Bars und Musiklokale leiden unter zunehmend schwieriger Finanzlage und verlangen daher garantierte Mindestumsätze oder hohe Mieten. Zudem ist die Ausstattung meist unprofessionell.
  • Freiräume mit mutigem Programm werden meist auf prekärer, ehrenamtlicher Basis betrieben. Viele Kleininitiativen haben in den letzten Jahren aufgegeben (z. B. aparat, Zentrale).
  • Wichtige Räume sind dem Immobilienmarkt zum Opfer gefallen: mo:e, Ungar Grill, brut Künstlerhaus.
  • Das brut Konzerthaus wurde wegen Renovierung geschlossen und ist seitdem nicht mehr für die freie Szene nutzbar.
  • Einige Veranstaltungsreihen befinden sich mittlerweile auf Wanderschaft, wie z. B. “Velak-Gala”, “moozak”, “Der blöde dritte Mittwoch”.
  • Für die freie Szene geschaffene Räume sind im Betrieb unter- oder gar nicht finanziert und daher durchkommerzialisiert. Sie büßen Freiraum-Charakter und Lebendigkeit ein und sind von der freien Musikszene nicht oder nur zu Randzeiten nutzbar: WUK, fluc, Flex

Die derzeitige Raumsituation – die freie Szene als Resteverwerterin

echoraum (c) Werner Korn

Drei wichtige und gut funktionierende Räume für die freie Szene sind der echoraum, der Setzkasten und die Steinergasse 8.

Der echoraum besteht seit 1988 und wurde bis 2017 durch Förderungen der Theaterabteilung der MA7 finanziert. Der Konzertbetrieb in dem bis zu 100 Personen fassenden Raum hat seit den 90er-Jahren kontinuierlich zugenommen. Heute ist der echoraum mit einer Jahresförderung der Musikabteilung ausgestattet und gehört dadurch zu den wenigen Veranstaltungsräumen, denen eine längerfristige Planung möglich ist. Wie lange er sich noch halten wird, ist fraglich: Es gibt immer wieder Beschwerden von den Hausbewohnenden und im Mietvertrag sind ausschließlich Theaterproben vorgesehen.

Der Setzkasten in Hernals ist die Privatinitiative einer Künstler*innengruppe, die ein Audiolabor, eine Dunkelkammer und einen Arbeitsplatz für Video- und Tonschnitt gemeinsam nutzen. Bei den ca. einmal im Monat stattfindenden “Kastenkonzerten” platzte der Ort (vor Corona) mit 25 Menschen aus allen Nähten. Seit kurzem gibt es nebenan einen zweiten Raum, das “Modul” mit Tonstudio und Büro sowie einem weiteren kleinen Konzertraum.

Die Steinergasse 8, ebenfalls im 17. Bezirk, beherbergt mehrere Kunstateliers und eine große, bis zu 200 Menschen fassende ehemalige Werkstatthalle, die eine flexible Bespielung erlaubt. Hier fanden in den letzten Jahren neben Floh- und Kunsthandwerksmärkten unzählige Konzerte der experimentellen Szene statt. Leider wird es das Haus nur mehr bis Sommer 2021 geben.

In Räumen, die mit dichten Spielplänen und kommerzielleren Shows kalkulieren, nutzen wir die unrentablen Tage und Zeiten, also montags bis mittwochs, Early Shows und Late-Night-Termine. Wir nutzen Theaterräume während Leerzeiten, z. B. das grillX, was oft zu abenteuerlichen Zeitplänen wie Soundcheck vor 17 Uhr mit Beginnzeit um 23 Uhr führt.

Wir nutzen und gründen Privatinitiativen, die aber leider nach 22 Uhr nicht bespielbar und meist winzig sind, wie Chateau Rouge, Setzkasten / modul, Steinergasse 8, Kitchen. Derzeit gibt es keinen mittelgroßen Saal für 300 bis 500 Personen, der zu akzeptablen Bedingungen nutzbar wäre, was Festivals mit einem größeren Publikumsaufkommen undurchführbar macht. Dramatisch ist der Ausblick auf 2021, wenn die Steinergasse geräumt sein wird und vermutlich noch weitere Bars und Clubs die Krise nicht überstanden haben werden. Das betrifft die gesamte Szene, vor allem aber den Underground- und Club-Bereich.

Die Probleme

J12, Eröffnung Mediaoper (c) Arnold Haberl

Hoher ökonomischer Druck treibt Veranstalter zur Maximierung von Effizienz und Effektivität. Räume sind mit wenigen Ausnahmen durchkommerzialisiert.

  • Das fluc bekam im Jahr 2019 15.000 Euro von der Stadt Wien. Das reicht für ein schlechtes Kurator*innengehalt, aber nicht für Gagen.
  • Der große Saal im WUK wurde einst für die freie Szene konzipiert und in Betrieb genommen und wird heute an Agenturen vermietet.

Der Druck durch den Immobilienmarkt hat schon einige Räume vernichtet:

  • mo:e wurde 2017 nach einem Mietzinsstreit und Räumungsverfahren geschlossen und steht im Moment, nach mehreren Spekulationsverkäufen, immer noch leer.
  • Für das brut wurde, nachdem es 2017 aus dem Künstlerhaus gehen musste, 2020 endlich ein neuer Standort im 3. Bezirk gefunden, der aber hinsichtlich der Lage und Verkehrsanbindung nicht mit dem alten Standort vergleichbar ist.
  • Die Steinergasse 8 ist schon verkauft und wird voraussichtlich Sommer 2021 geräumt.

Zwischennutzungen sind problematisch und meist als Musikveranstaltungs- und Proberäume ungeeignet bzw. nur mit hohem Aufwand zu betreiben, der in keinem Verhältnis zum Ablaufdatum steht. Hinzu kommen oft unklare Nutzungsbedingungen mit hohen versteckten Kosten.

Prekäre Arbeit und Selbstausbeutung kompensiert Missstände im Kultursektor und ist die Basis dafür, dass kleine Strukturen existieren können. Dies darf keine Selbstverständlichkeit und kein Dauerzustand sein!

  • Der echoraum wurde jahrzehntelang quasi ehrenamtlich von Werner Korn betrieben, der für Programmleitung, Produktion, Kommunikation, Haustechnik, Grafik und Werbung zuständig war.

Kulturräume in den Stadterweiterungsgebieten werden meist nicht praxis- und bedarfsorientiert geplant und sind daher oft nur eingeschränkt nutzbar.

  • Das J12 in der Seestadt hat eine Glasfront mit Aussicht auf in Bau befindliche Wohnhäuser. Probleme mit den zukünftigen Bewohner*innen sind quasi vorprogrammiert.

Zu wenig Proben- und Produktionsmöglichkeiten stehen für die freie Szene zur Verfügung.

  • In der Alten Wäscherei proben die freien Musiktheater Wiens, bis der jederzeit widerrufbare Zwischennutzungsvertrag vom Otto Wagner Spital gekündigt wird. Der Raum ist zur Zeit durch eine benachbarte Baustelle in Mitleidenschaft gezogen, und es regnet hinein.
  • Im echoraum gibt es einen Flügel und eine gute Tonanlage – das sind Features, die in Wien sehr schwer zu finden sind.

Was wir brauchen:

brut – klingt.org-Fest (c) Dieter Kovacic

Den perfekten Raum für die freie Musikszene gibt es nicht. Die Szene ist sehr vielfältig und braucht unterschiedlichste Veranstaltungsorte in der Dimension zwischen 50 und 500 Plätzen, zentral, an der Peripherie, einmal tanzbar, einmal bestuhlt, flexibel und für Installationen geeignet.

  • Es ist dringend notwendig, die bestehenden Räume in Wien zu unterstützen, um ihr Überleben zu sichern.
  • Langfristige Investitionen und Infrastrukturförderungen vonseiten der Stadt für Projekte und Initiativen (Miete und Personal) sind nötig, um Kulturinfrastrukturen zu erhalten und zu ermöglichen.
  • Der Betrieb von Veranstaltungsräumen muss vom Zwang der Einnahmenmaximierung entlastet werden. Der Zugang zu Räumen abseits hoher kommerzieller Marktpreise muss erhalten und geschützt werden.
  • Die Grundausstattung von Räumen und Infrastruktur für die freie Szene sollte durch Förderungen gesichert sein. Eine genre- und spartenunabhängige Förderschiene für Investitionen (technische Ausstattung und bauliche Maßnahmen) ist notwendig.
  • Bei der Planung der Stadterweiterungsgebiete müssen Kulturräume bzw. Kulturzentren nicht nur mitgeplant werden, die Planung dieser Räume muss praxis- und bedarfsorientiert sowie unter Einbindung von Expert*innen der freien Szene durchgeführt werden.
  • Große Institutionen mit hoher Sichtbarkeit schaffen zu wenig Zugang für die freie Szene. Im Sinne des Artist Commons Modells der Wiener Perspektive sollen FördernehmerInnen verpflichtet werden, Räume und Infrastruktur der freien Szene zur Verfügung zu stellen, so wie es z. B. bisher das brut praktiziert hat. (In Nordrhein-Westfalen gibt es das Projekt NOperas!, das Akteur*innen der Freien Szene die Realisierung von Musiktheaterprojekten an deutschen Stadttheatern ermöglicht.)

Außerdem ist jetzt der richtige Zeitpunkt, etwas Neues zu schaffen:

Ein neues Haus für neue Musik

Setzkasten (c) Arnold Haberl

Wien braucht ein Haus für klangzentriertes Schaffen ohne Berührungsängste zwischen Underground und akademischen Ausprägungen und allem dazwischen, ein Labor zum Entwickeln neuer Formate unter Verwendung aller aktuell zur Verfügung stehenden Medien, mit Offenheit und Durchlässigkeit gegenüber Performance, Medienkunst und darstellender Kunst. Neben Kontingenten für Veranstalter und Ensembles aus der freien Szene oder auch für renommierte Festivals wie Wien Modern oder die Festwochen sollten die Räume für Proben, Projektentwicklung und Events wie Konzerte, Ausstellungen, Symposien etc zur Verfügung stehen.

Ein Zentrum ist ein Leuchtturm mit Wiedererkennungsfaktor. Es bietet nicht nur Vorteile für Öffentlichkeitsarbeit und Vermittlung (siehe Tanzquartier), es ist auch eine ökonomische Lösung, in der Technik und Räume effizient genutzt werden können.

Wie kann das konkret ausschauen?

  • Ein Saal für ca 500 Besucher*innen. Er muss vielfältige flexible Nutzungen erlauben.
  • Mehrere kleinere multifunktionelle Räume für Veranstaltungsreihen, Projekte, Konzerte, Proben, Aufnahmen, Clubs, alle Räume akustisch getrennt.
  • Ein Ausstellungsraum, der der Soundart gewidmet ist.
  • Platz für Kommunikation mit Bibliothek und Archiv und einem Cafe / Bar.
  • Eine Werkstatt. Klangkunst ist oft Handarbeit.
  • Künstlerische und technische Residencies.

Dieser Entwurf für ein neues Haus und die Erhaltung der kleinen dezentralen Veranstaltungsräume stehen nicht im Widerspruch zueinander – beide sind wichtig und eine Notwendigkeit für das Wiener Musikleben.

Wien ist eine internationale Musikstadt und profitiert von diesem Image. Wenn das auch in diesem Jahrhundert so bleiben soll, ist jetzt der richtige Zeitpunkt, kulturpolitisch verantwortungsvoll neue Wege zu gehen.

„Künstlerische Arbeit, insbesondere zeitgenössische, bildet ein Gegengewicht zu nationalistischer Stimmungsmache, zur Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche und zu einer Politik der Angstmacherei. Sie leistet entscheidende Reflexionen über alle Aspekte unserer aktuellen Gesellschafts- und Lebenssituation. Sie spürt das Persönliche im Allgemeinen und das Besondere im Alltäglichen auf. Sie schärft die Sinne und den Verstand und wird so zu einem Werkzeug der Orientierung und einer Quelle der Stabilität und Stärkung. Sie ist ein wichtiges Mittel gegen gesellschaftszersetzende Tendenzen, wie sie schon vor der Krise signifikant erstarkt waren.“
aus dem offenen Brief der Initiative mitderstadtreden an die Bundesregierung während COVID-19

Sara Zlanabitnig ist Flötistin und hat als Musikerin die Wiener Musiklandschaft in den letzten 15 Jahren aktiv mitverfolgt. 2017 hat sie die Plattform Fraufeld mitbegründet, mit dem Ziel, Musikerinnen sichtbar zu machen, die sich in den Feldern progressiver Improvisation und Komposition bewegen. Seit 2019 arbeitet sie im echoraum, dem für die freie Szene wichtigsten Wiener Veranstaltungsraum für neue und experimentelle Musik, mit Werner Korn zusammen.
sarazlanabitnig.com

Arnold Haberl / aka noid hat in Wien Musikerziehung, Mathematik und Cello studiert. Er unterrichtet Multimediaart an der FH Salzburg und ist international als Cellist, Komponist und Sound-Artist aktiv. Außerdem ist er als Organisator und Kurator tätig, unter anderem bei der Konzert/Performance-Reihe Der blöde dritte Mittwoch, beim Jahresendzeitschokoladenhohlkörper, dem Vernetzungsfestival experimenteller Musikvernastalter*innen in Wien und bei den echoraeumen, einer open source Streaming Plattform, die im Zuge der Corona-Krise entstanden ist.
noid.klingt.org

Die Initiative mitderstadtreden wurde 2017 gegründet, um die prekäre Situation der Musikschaffenden zu analysieren und in Hinblick auf den dringenden Handlungsbedarf das Gespräch mit der Stadtpolitik zu suchen. Involviert bei mitderstadtreden sind mehr oder weniger bekannte Musiker*innen sowie kleine und größere Institutionen, die sich genre- und generationsunabhängig mit den gegenwärtigen Schieflagen auseinandersetzen. Die Struktur von mitderstadtreden ist sehr offen, es gibt einen monatlichen Jour Fixe, ein Email-Forum mit rund 170 Mitgliedern und fast 600 Unterstützer*innen.
mitderstadtreden.at

Das internationale Symposium: Freie Szene – Orte schaffen/Initiative Freie Szene ist eine Initiative der Stadträtin für Kultur und Wissenschaft der Stadt Wien Veronica Kaup-Hasler in Kooperation mit den Interessengemeinschaften IG Kultur Wien, Dachverband der Filmschaffenden, mica – music austria / mitderstadtreden, Initiative für eine freie Wiener Musikszene, IG Bildende Kunst und IG Freie Theaterarbeit.

Redaktion: Elisabeth Flunger

Links:
Initiative mitderstadtreden
Initiative Freie Szene (Facebook)
echoraum
Setzkasten
Steinergasse 8 (Facebook)