„Natürlich sind das dicke Bretter, die man bohren muss” – ALEXANDER HIRSCHENHAUSER im mica-Interview

Für ALEXANDER HIRSCHENHAUSER, Sprecher des VERBANDES UNABHÄNGIGER TONTRÄGERUNTERNEHMEN, MUSIKVERLAGE UND MUSIKPRODUZENTINNEN ÖSTERREICHS (VTMÖ), ist Streaming alles andere als fair. „Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir definitiv wissen, dass bei den Indie-Labels und den Urheberinnen und Urhebern viel zu wenig ankommt”, sagt er. ALEXANDER HIRSCHENHAUSER sprach mit Markus Deisenberger über Marktdiktat und Marktversagen, dem nur durch Regulierung beizukommen ist. 

Der aktuelle „Music Consumer Report 2016“ der International Federation of the Phonographic IndustryIFPI – zeigt, dass der globale Trend zu Musik-Streaming weiterhin anhält. Streaming hat 2016 in Deutschland und Österreich zum ersten Mal den Download abgehängt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? 

Alexander Hirschenhauser: Wir gehen alle davon aus, dass die Entwicklung so weitergehen wird. Wir haben allerdings auch gelernt, dass ein Formatwechsel nicht bedeuten muss, dass die alten Formate völlig aussterben. Die bleiben vielmehr in der Nische erhalten, zumindest war es in den vergangenen Jahrzehnten so. Also gehen wir mal davon aus, dass der Siegeszug des Streaming der vitalen Nische des Vinyls nichts anhaben wird, und auch die CD ihre Nische finden wird, deren Größe ich derzeit aber nicht abschätzen kann und will. Ich gehe auch davon aus, dass der Download ein Nischenprodukt sein wird – mit abnehmenden Umsätzen, aber für gewisse Anwendungsgebiete brauchbar und gut. Aber die Mainstreamnutzung geht über auf das Streaming, davon gehen wir alle aus. Es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange es dauert, bis das Streaming auch in weniger progressive und hippe Gesellschaftsschichten vordringt, aber es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon relativ weit vorgedrungen.

Streaming wird oft zum Allheilmittel für den ehemals krankenden Tonträgermarkt stilisiert. Nun kennen wir aber die Klagen der Musikerinnen und Musiker – von Taylor Swift bis Portishead –, sie würden von Spotify und anderen Streamingdiensten nur unzureichend beteiligt. Demgegenüber heißt es im „Consumer Report“, Abo-Dienste wie SpotifyDeezer und Apple Music schlössen „faire Lizenzdeals” ab. Tatsächlich? 

Alexander Hirschenhauser: Ich kann diese Einschätzung nicht teilen. Das sind keine fairen Deals. Das sind Deals, die vom Markt diktiert werden. Marktgetrieben sind. Fair sind sie schlicht und ergreifend deshalb nicht, weil das Preisniveau nicht stimmt. Weil zu wenig bei denen ankommt, die davon leben sollen. Jetzt kann man sich überlegen, warum nicht genug ankommt. Es könnte an der Verteilung liegen. Man könnte davon ausgehen, dass die Größe des Kuchens stimmt und er nur falsch aufgeteilt wird. Oder aber der Kuchen ist zu klein.

Und ist er zu klein? 

Alexander Hirschenhauser: Interessant ist, dass das Volumen ständig steigt – damit meine ich den Betrag, den eine Person für Musikkonsumation ausgibt. Wenn ich ein Bezahl-Abo für Streaming abschließe, zahle ich 9,90 Euro pro Monat. Statistisch gesehen ist das wesentlich mehr, als die durchschnittliche Hörerin bzw. der durchschnittliche Hörer seinerzeit für CD-Käufe ausgab, und auch wesentlich mehr, als die Durchschnittsuserin bzw. der Durchschnittsuser für Downloads ausgab. „Heavy User“ immer ausgenommen, jene wenigen also, die wesentlich mehr ausgegeben, als ihrem Haushaltsbudget vielleicht zuträglich ist. Grundsätzlich wären die Euro 9,90 also mal ein Fortschritt. Es müsste mehr da sein als zuvor. Warum aber bleibt dann am Ende weniger übrig für die Urheberinnen und Urheber? Das ist das Mysterium, das uns allen zu denken gibt.

Aber ist es tatsächlich so mysteriös?

Alexander Hirschenhauser: Na ja, irgendwo bleibt es. Jedenfalls bekommen die Indie-Labels nicht so viel, dass man sich jetzt die Hände reiben könnte. Auch die Plattformen machen ein Minus. Da gibt es keine einzige Plattform, die schwarze Zahlen schreibt. Selbst Spotify schreibt rote Zahlen. Die großen Plattenfirmen behaupten nun, sie bekämen auch nicht mehr. Ich gehe davon aus, dass die ausgezahlten Einheiten pro Stream überall gleich sind. Das heißt, dass nebenbei noch anderes Geld fließen muss. Nachweisbar ist das freilich nicht.

„Der permanente Ausbau der technischen Infrastruktur ist ein wichtiger Punkt, damit der gewünschte Zuwachs stattfindet.“

Dass das Geld beim „Mittelsmann“ hängen bleibt, ist aber doch logisch. Schließlich ist der Musikmarkt wegen der Streamingdienste im vergangenen Jahr in Deutschland um 4,2 Prozent gewachsen. Dieses Wachstum wird auf Basis der Umsätze der Labels ermittelt. Wenn zeitgleich die Einnahmen der Künstlerinnen und Künstler sinken, dann muss beim „Mittelsmann“ mehr hängen bleiben. Diese Profiteure, die zwischen den Streamingdiensten und den Künstlerinnen und Künstlern agieren, sind also die Plattenfirmen.

Wenn es bei den kleinen Firmen nicht hängen bleibt, dann muss es bei den größeren hängen bleiben …

Bild Alexander Hirschenhauser
Bild (c) Alexander Hirschenhauser

Alexander Hirschenhauser: Seit es Merlin [globaler Zusammenschluss der Indie-Labels, der u. a. als Verhandlungspartner von Spotify auftrat; Anm.] gibt, sind wir einigermaßen sicher, dass wir [die Indie-Labels; Anm.] die gleichen Verträge wie die großen Labels bekommen. Oder sagen wir: gleiche bis ähnliche. Da wir also gleiche bis ähnliche Verträge haben und die Vorauszahlungen für alle gleich sind – seit Merlin gibt es auch kein Indie-Repertoire mehr ohne Vorauszahlung, da hat sich einiges zum Besseren geändert – und ja ohnedies gegengerechnet werden, ist der einzig logische Schluss, dass es irgendwelche anderen Finanzflüsse geben muss. Lizenz- oder Markenrechtsentgelte, Fees für technische Nutzung bzw. Bereitstellung etc. Alles im Konjunktiv freilich, das sind reine Spekulationen darüber, wo das Geld bleibt. Ich kann nur Überlegungen anstellen, was der Grund sein könnte. Das heißt also, es könnte werkunabhängige Beträge geben, die direkt in die Taschen der großen Labels fließen. Wovon ich auch ausgehe, ist, dass viel Geld in die Expansion fließt, die durch sehr hohe Marketingbudgets erkauft werden muss. Der permanente Ausbau der technischen Infrastruktur ist ein wichtiger Punkt, damit der gewünschte Zuwachs stattfindet. Auch die Software, die Datenbanken und Algorithmen veralten schneller, als wir zuschauen können. Vom an sich schönen Umsatzvolumen für Musik dürfte daher auch ein durchaus hoher Teil in Expansion und Maintenance fließen. Früher ging viel in die Presswerke, jetzt hat man andere Kosten. Alles unter dem Strich führt zum Schluss, dass zehn Euro zwar mehr sind, als die Durchschnittskonsumentin bzw. der Durchschnittskonsument früher ausgegeben hat, aber immer noch zu wenig, damit beim Artist genug ankommt.

Der Durchschnittskonsumentin bzw. dem Durchschnittskonsumenten ist das aber doch schwer nahezubringen. Sie bzw. er gibt ohnedies schon mehr aus als vorher. Und jetzt soll sie bzw. er noch mehr zur Kasse gebeten werden?

Alexander Hirschenhauser: Das Konsumieren von Musik ist noch nie so einfach gewesen wie heute. Nicht einmal einen Mausklick, sondern einen Touchscreen-Wisch entfernt wartet nicht nur eine begrenzte Anzahl von Tracks, sondern fast alles. Das ist schon ein Mehrwert an Convenience, an Optionen. Man schleppt kein Material mehr durch die Gegend. Und ich gehe auch davon aus, dass es dadurch mehr und intensiver genutzt wird. Wenn du mehr entdecken und herumstöbern kannst, ohne deinen Hintern zu bewegen und Material in die Hand zu nehmen, wirst du das auch tun. Ich verlange ja nicht, dass es teurer wird. Aber wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir definitiv wissen, dass bei den Indie-Labels und den Urheberinnen und Urhebern viel zu wenig ankommt. So geht es nicht weiter. Das ist nicht fair.

Was kann man dagegen tun? 

Alexander Hirschenhauser: Eine Einzelne bzw. ein Einzelner kann nichts tun. Eine große Verbesserung hat Merlin gebracht, vor allem bei YouTube. Seit alle Indies mit einer Stimme verhandeln, bekommen sie ähnliche Verträge wie die Majors. Es heißt „gleiche“, aber das kann man nicht überprüfen. Was man immer noch nicht weiß, ist, was sonst so läuft.

Streaming könnte also teurer werden. Seitens der Artists und seitens der kleinen Labels kann man dann hoffen, dass von der Teuerung ein beträchtlicher Anteil bei den Urheberinnen und Urhebern ankommt. Welche anderen Optionen gibt es?

Alexander Hirschenhauser: Man könnte den Verteilungsschlüssel ändern. Aber wie soll das gehen, wenn die Plattformen jetzt schon Miese schreiben? Weniger Investitionen in Expansion kann man ihnen von außen kaum vorschreiben. Das könnte nur durch Wettbewerb erzielt werden. Aber wie wir alle wissen, gibt es in der digitalen Welt nur schwachen Wettbewerb, denn wenn sich der Marktführer durchgesetzt hat, dann ist er es, der diktiert. Aber vielleicht schaffen wir es ja doch rauszufinden, wieso große Labels so gute Geschäfte mit Streamings machen, während das die kleinen Labels nicht tun, damit man dem, was immer es ist, was da läuft, ein Ende setzen kann. Aber es gäbe da noch eine Möglichkeit, wie man das Ding aus Sicht der kleinen Labels angehen könnte.

Und zwar?

Alexander Hirschenhauser: Wenn ein Markt versagt, und dieser Markt versagt gerade eben, denn alle erbringen Leistung und können nicht davon leben, dann braucht es eben Regulierung. Die Neoliberalen werden zwar schreien, aber so ist das nun mal. Auch in anderen Gebieten braucht es ab und zu Regulierung. Eine Regulierung des Marktes auf dem Gebiet des Streaming könnte bedeuten, dass die Verwaltung der Rechte, das Administrieren der Deals und das Abschließen der Verträge zwingend den Verwertungsgesellschaften übertragen werden.

Wäre das etwas, was von der EU ausgehen müsste? 

Alexander Hirschenhauser: Ja. Das wäre auf nationaler Ebene sicher nicht machbar. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob alle Mitglieder des VTMÖ mit dieser Aussage glücklich sind. Wir haben diesbezüglich noch keine Urabstimmung durchgeführt. Ich habe auch noch keine relevante Anzahl der Mitglieder befragt. Aber aus vielen Gesprächen und Diskussionen reift bei mir mehr und mehr die Überzeugung, dass das ein Ausweg sein könnte. Warum? Weil immer dann, wenn eine Verhandlungspartnerin bzw. ein Verhandlungspartner schwächer als die bzw. der andere ist, der Abschluss eines fairen Deals in weite Ferne rückt.

Andererseits lässt die Implementierung eines Urhebervertragsrechtes in Österreich auf sich warten. Wie realistisch ist das?

Alexander Hirschenhauser: Das ist schwer zu beurteilen, aber es könnte eine Lösung sein. Auf diese Weise ist es ja auch gelungen, das Radio zu organisieren. Beim Radio wird nicht hinterfragt, warum nicht jede und jeder ihre bzw. seine eigenen Verträge abschließt. Rechtssicherheit und eine einfache Lizenzierung sind da das Argument. Genau das Gleiche lässt sich auch für Streaming ins Treffen führen. Wieso nicht die Verwertungsgesellschaften? Die sind verpflichtet, alle gleich zu behandeln und für alle die gleichen Bedingungen auszuhandeln, und können mit den Plattformen auf gleicher Höhe reden.

Wie begeistert wären die Verwertungsgesellschaften über diesen Zuwachs an Agenden? 

Alexander Hirschenhauser: Wie gesagt ist das eine relativ junge Idee, die durch die Szene geistert. Das ist noch nicht so weit gediehen, dass es darüber eine klare Diskussion gibt. Aber ich gehe davon aus, dass eine Diskussion darüber kommen wird. Ein Problem ist natürlich der in der neuen EU-Richtlinie, die ich sehr kritisiere, eingeführte Wettbewerb zwischen den Verwertungsgesellschaften.

„Eine Chancengleichheit hat es nie gegeben.“

Das Web 2.0 hat den Handlungsspielraum der zuvor marktbeherrschenden Konzerne stark beschränkt, da im Zuge der digitalen Revolution alternative Distributionsstrukturen entstanden, die zeit- und ortsunabhängiges Hören möglich machten. Könnte man sagen, dass diese Macht durch das Streaming wieder zurückgewonnen wurde? 

Alexander Hirschenhauser: Das war ja damals ein Versprechen, das ich niemals geglaubt habe. Dass im Zuge der Digitalisierung eine Demokratisierung eintreten würde, hielt ich immer für extrem unwahrscheinlich, weil relativ schnell klar war, dass der scheinbar niederschwellige Zugang zu allen Möglichkeiten im Netz für alle Unfug ist. Die Barrieren sind die Marketingaufwendungen. Die aber sind in der virtuellen Welt genauso massiv wie in der analogen. Eine Chancengleichheit hat es nie gegeben. Die großen Corporate-Economy-Unternehmungen hatten da ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung als die kleinen Unternehmen. Ich habe es selbst gemerkt, als ich eine Downloadplattform selbst betrieb, soulseduction.com, die nie vom Konkurs betroffen war und die ich bis 2013 weiterbetrieben habe, um sie dann sauber und ohne böse Nebengeräusche runterfahren und zu liquidieren. Auch mir hätte dieses Versprechen, dieselben Chancen zu haben wie die großen Plattformen, geholfen. Ich aber konnte nicht mithalten, weder im Marketing noch mit den notwendigen Kapitalzuschüssen, die einfach notwendig sind, wenn man nicht veralten, sondern expandieren will.
Spätestens seit klar ist, dass sich in der digitalen Wirtschaft immer nur einer durchsetzt, dass es für jede Leistung also genau einen gibt, der übrig bleibt, ist dieses Heilsversprechen ad absurdum geführt. Die digitale Wirtschaft lässt nicht einmal zwei Große übrig, die ein Gleichgewicht des Schreckens aufbauen könnten, von denen die Nutzerinnen und Nutzer profitieren könnten, weil so etwas wie Wettbewerb herrscht. Es gibt einen, der verdient, die anderen „grundeln“ herum. Allerdings gibt es ja auch Plattformen, wo mehr ankommt. Zum Beispiel Napster.

Die Marktregulierung also ist ein Wunsch. Welche anderen gibt es aus Sicht des VTMÖ?

Alexander Hirschenhauser: Wie gesagt ist das mit der Marktregulierung einstweilen nur eine Idee, die in der Indie-Szene alles andere als Konsens ist. Es gibt genug Leute, die ihre Rechte selbst verhandeln wollen. Die gibt es auch in der Indie-Szene. Noch also ist das keine konsolidierte Position. Aber ich persönlich glaube, dass das eine gute Idee ist.

Aber wie realistisch ist es, dass solch eine Idee in einem Europa, das zunehmend mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint, auch tatsächlich ankommt?

Alexander Hirschenhauser: Ich bin immer dafür, Ideen auf ihre Realisierbarkeit abzuklopfen. Es wäre fatal, sich von vorneherein davon abzuhalten, gute Ideen weiterzuverfolgen, nur weil etwas vermeintlich unrealistisch ist oder weil man in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ich will nicht resignieren. Natürlich sind das dicke Bretter, die man bohren muss. Aber warum sollte man deshalb eine gute Idee verwerfen? Aber zum Schluss eines noch: Je mehr Gewicht, Verantwortung und Anteile am Entgelt über Verwertungsgesellschaften fließen, desto wichtiger ist es, dass die Verwertungsgesellschaften sich weiter in Richtung Transparenz, Demokratisierung und Verteilungsgerechtigkeit bewegen. Da ist ein erster Schritt gelungen, aber wir sind noch lange nicht am Ende des Weges angelangt.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Markus Deisenberger

Links:
VTMÖ