"Tausende Formen des Spielens vor der Entsagung bewahren" – DIETMAR FLOSDORF im mica-Interview

Der Musikvermittler Dietmar Flosdorf konzipiert seit 2002 in Österreich die Projektinitiative „Musik zum Anfassen“, organisiert und moderiert Workshops und Projekte für die unterschiedlichsten Auftraggeber im gesamten deutschsprachigen Raum. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Universität für Musik und darstellende Kunst sowie an der Musikschule der Stadt Wien ist er beim Wiener Kammerorchester tätig und unterstützt im Beirat die plattform musikvermittlung österreich inhaltlich. Das Interview führte Barbara Semmler.

Warum vermitteln Sie Musik?

Weil diese Tätigkeit mich als ganzer Mensch und Musiker pädagogisch und künstlerisch immer wieder in jedem Projekt neu herausfordert und natürlich weil es Spaß macht und die Arbeit sehr wichtig und sinnvoll ist!

Österreich, ein Kulturland – auch in Zukunft?

Was sind Eckpunkte Ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn?

Matura, Studium Konzertfach Viola in München und Wien, Magister Artium, Konzerttätigkeit als Orchester- und Kammermusiker u. a. beim Wiener Kammerorchester, dem Klangforum, dem Ensemble Modern, dem Freiburger Barockorchester sowie bei der Deutschen Kammerphilharmonie; erste Vermittlungsprojekte unter dem Titel „Musik zum Anfassen“ seit Mitte der 80er-Jahre in Deutschland, seit 2002 in Österreich für verschiedenste Auftraggeber wie z. B. dem Wiener Mozartjahr, den Wiener Symphonikern, dem Theater an der Wien oder auch den Niederösterreichischen Tonkünstlern und dem Technischen Museum Wien –  mehrfach wissenschaftlich evaluiert und u. a. mit dem „junge ohren preis“ ausgezeichnet; Lehrtätigkeit für Viola an der Musikschule der Stadt Wien und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, dort inzwischen als Senior Lecturer für Musikvermittlung angestellt.

Mit welchen Herausforderungen sind Sie als Musikvermittler in der österreichischen Kulturlandschaft konfrontiert?

Österreich ist ohne Zweifel ein Kulturland! Musik und Kultur genießen ein hohes gesellschaftliches Ansehen und sind ein Aushängeschild für Österreich im Ausland. Inwieweit dieses Ansehen und die Wertschätzung für den einzelnen kleinen freien Musiker spürbar sind bzw. sich in seiner Bezahlung widerspiegeln, ist eine andere Frage und wird sich hoffentlich nicht noch mehr problematisieren. Ebenso ist zu hinterfragen, ob nicht die Gefahr besteht, dass dieses Ansehen größtenteils auf historischen kulturellen Leistungen und Verdiensten beruht. Zu bedenken gilt, ob entsprechendes auch in Zukunft von der breiten Bevölkerung und in allen Schichten gelebt bzw. aktiv mit- und weiter getragen werden kann und will.

Hier sind Defizite meines Erachtens spürbar und hier wird – und das ist die Herausforderung – Musikvermittlung notwendig. Eigentlich wäre Musikvermittlung, wie sie zu uns aus dem anglo-amerikanischen Raum gekommen ist und dort auf Grund der anderen Bildungstraditionen natürlicherweise entstanden ist, gar nicht nötig. Würden kulturelle Bildung und deren Angebote in einem noch größeren Ausmaß ganz selbstverständlich sein bzw. nicht vielerorts – auch aus budgetären Zwängen – in Frage gestellt werden, könnten viele Aktivitäten im Bereich der Musikvermittlung sich auf einer ganz anderen Basis entfalten.

Schule als Ort der Muße

Wenn Sie einen Wunsch an die Fee, die für Kulturpolitik zuständig ist, frei hätten, was würden Sie sich wünschen?

Von einer Fee würde ich mir wünschen, dass Kultur- und Bildungspolitik mehr an einem Tisch arbeiten und gemeinsam den Mut zu wirklichen Veränderungen finden. Denn wenn unser Land in Zukunft weiterhin kreative Köpfe – d. h. wirkliche Persönlichkeiten nicht nur in den künstlerischen, sondern in allen Gesellschaftsbereichen – will, dann sollte die Politik mutiger sein. Dann sollte sie zum Beispiel in ihren Schulen die Begegnung und einen von Offenheit und Achtsamkeit getragenen Dialog mit KünstlerInnen alltäglich ermöglichen, dann sollte sie Lebenswelten erlebbar machen, in denen es weniger um richtig oder falsch geht, sondern um Leidenschaft und Originalität, weniger um Wissen als um Suchen und Finden, weniger um Lernen als Erfahren, weniger um Ausbilden als um Bilden, weniger um Regeln als um Improvisationsfähigkeit, weniger um Anpassung als um Reibung, weniger um Besser-Sein und Schnelligkeit als um Vertiefung.

Wenn Schule das will, dann könnte sie wieder mehr zu dem Ort werden, dem sie ihrem Wortstamm nach ist. Schule bedeutete ursprünglich „freie Zeit“, „Müßiggang, Nichtstun“, „Muße“, später „Studium“. Schule als ein Ort also, wo freie Zeit sein darf, um sich zu vertiefen, wo etwas reifen kann. Ein Ort, in dem die Heranwachsenden wirklich wachsen – eben ihre Kreativität in einem geschützten Rahmen erfahren und leben können, um ihre tausenden Formen des Spielens, des Sich-persönlich-Ausdrückens vor der Entsagung zu bewahren.

„Du fühlst, ich höre, wir musizieren“

Haben Sie ein Lieblingsprojekt, das Sie gerne erneut durchführen möchten? Was zeichnet es aus und was wären optimale Voraussetzungen, um das Projekt wieder aus der Schublade zu holen?

Ein Lieblingsprojekt habe ich nicht – aber viele, von denen ich sagen kann, dass sie so gelungen waren, dass ich ihre Grundidee und Konzeption wieder verwenden und weiterentwickeln würde. Eine Wiederholung im klassischen Sinne könnte es aber nicht geben, weil natürlich die Menschen andere wären, als die, die damals daran beteiligt waren. Das betrifft sowohl die Ansprechpersonen der Projektpartner als auch die beteiligten Künstler, bis hin zu den Adressaten – also die Zielgruppe des Projektes. Da meine Arbeit immer interaktiv, dialogisch und prozessorientiert angelegt ist, könnte es sein, dass sich die Projektidee heute in eine ganz andere, wahrscheinlich nicht minder spannende neue Richtung ausformen würde.

Auswählen würde ich v. a. die Projekte, die verschiedene Bildungs- und Kulturinstitutionen in ein Boot geholt und dadurch Synergien gestiftet haben, die sonst nicht entstanden wären. Und natürlich die Projekte, die im Laufe der Workshop-Arbeit eine eigenständige und positive Eigendynamik entwickelt haben und deren Energie die öffentliche Abschlusspräsentation zu einem unvergesslichen Erlebnis für alle Beteiligten werden ließ.

Ein Beispiel für eine weiterentwickelte Wiederaufnahme war z. B. das Projekt „Samba for BIG-Kids“ mit dem Bundesinstitut für Gehörlosenbildung Wien. Hier hat das Projekt bei allen Beteiligten so positiv eingeschlagen, dass in Folge nun in den letzten zwei Jahren das von „Sparkling Science“ finanzierte Forschungs- und Musikvermittlungsprojekt „Du fühlst, ich höre, wir musizieren – ein Dialog“ wieder mit dem BIG umgesetzt werden konnte.

Worauf legen Sie in Ihrer Lehrtätigkeit besonderen Wert bzw. was möchten Sie vermitteln?

Meinen Studierenden im Bereich der Musikvermittlung möchte ich v. a. den Mut und das Vertrauen mitgeben, bei der Konzeption und Verwirklichung eines Projektes oder Workshops „Ich“ sagen zu dürfen. Ich meine, dass sie sich einen ganz persönlichen Zugang zu einem Werk oder Thema suchen und diesen auch weitergeben bzw. zum Inhalt machen dürfen. Schließlich gibt es tausende von Möglichkeiten, ein Werk für sich zu erleben und damit auch anderen zu vermitteln. Aber besonders der persönliche Zugang ist authentisch und kann dann letztendlich auch in allen Projekt- oder Workshop-Phasen tragen bzw. überzeugen. ‚Persönlich‘ kommt ja aus dem Lateinischen von ‚per-sonare‘, also durchklingen. Also das, was mir wichtig ist, bei mir selbst und damit bei meinem Gegenüber zum Klingen zu bringen, durch mich hindurch sprechen zu lassen. Und natürlich überzeugt der Inhalt am meisten, wenn ich als der Resonanzkörper mit dem, was ich vermittle bzw. präsentiere, mich voll und ganz identifizieren kann.

Was Musik jedem geben kann

Gibt es etwas, das Sie jungen MusikvermittlerInnen, die gerade eine Ausbildung in diesem Bereich absolvieren oder am Beginn ihrer beruflichen Laufbahn stehen, mit auf den Weg geben könnten?

Wie schon gerade gesagt, kann ich nur ermutigen, im Zugang zu einem Werk oder Thema seinen eigenen persönlichen Weg zu gehen und mit Mut und Risikobereitschaft überzeugt von diesem zu erzählen. Nicht anders wie bei jedem anderen ausübenden Künstler, der schöpferisch tätig ist …

Und zum Schluss eine persönliche Frage: Welches Stück/Song begeistert/berührt Sie gerade und was tut es mit Ihnen?

Hmmm …? Eigentlich die Stücke oder Songs meiner dreieinhalbjährigen Tochter, die sie frei und ganz aus sich heraus wie nebenbei singend, ihren Emotionen freien Lauf lassend, erfindet. Dabei improvisiert oder zitiert sie bekannte Lieder und verarbeitet Erlebtes. Eigentlich genau das lebend, wofür Musik da ist … bzw. was sie jedem geben kann … Freude und Halt.

Foto: Jens Lindworsky

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