„Inklusion muss in der Mitte der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen ankommen.“ – Petra Linecker (IGMI) im mica-Interview

In den letzten Jahren ist ein Paradigmenwechsel von separierenden zu inkludierenden Musiziermöglichkeiten eingetreten – schließlich befruchtet sich das gemeinsame Musikmachen. Um diesen Prozess noch intensiver anzustoßen und das Bewusstsein dafür zu stärken, trifft sich seit nunmehr zehn Jahren eine Gruppe von Ausbildner*innen im Bereich Musikpädagogik, RhythmikMB und Bewegungspädagogik aus mehreren Bundesländern zu einem Sommergespräch. Im Sommer 2019 schlossen sie sich zur INTERESSENGEMEINSCHAFT MUSIK INKLUSIV IN ÖSTERREICH, kurz: IGMI zusammen, um sich bezüglich inklusiven Musizierens engmaschiger auszutauschen. Mit dem Gründungsmitglied PETRA LINECKER sprach Veronika Prünster über die Entstehung und Hintergründe der igmi-Gründung und verrät die nächsten Schritte, aber auch die Herausforderungen, vor denen die neue Interessengemeinschaft steht.

Frau Linecker, Sie sind Gründungsmitglied der Interessensgemeinschaft Musik Inklusiv Österreich, kurz: igmi, was war der ausschlaggebende Punkt zur Gründung dieser neuen IG?

Petra Linecker: Alles begann mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Ausbildner*innen aus ganz Österreich, die sich über Jahre hinweg immer wieder im Sommer bei Helga Neira-Zugasti, der Initiatorin, trafen, um sich zum Thema Inklusion auszutauschen und um sich gegenseitig mit Tipps zu unterstützen. Der Gedanke zur Gründung einer Interessensgemeinschaft kam auf, als wir uns mit dem Nationalen Aktionsplan, der 2008 in Österreich verabschiedeten UN-Behindertenrechtskonvention, auseinandersetzten. Das darin Beschriebene und die Umsetzung dazu war für uns nicht sehr befriedigend. Der „Neue Aktionsplan“ (NAP2) für 2022-2030 war bereits in der Entwicklung und für uns die Initialzündung, um aktiv zu werden. Wir wollten nun mehr an die Öffentlichkeit treten und aufzeigen, was wir machen und worum es uns geht. Der nächste Gründungsimpuls war die „Potsdamer Erklärung“ des VdM (Verband deutscher Musikschulen) aus dem Jahr 2014, in der sich alle Musikschulen in Deutschland verpflichtet haben, etwa die Teilhabe aller Menschen durch diskriminierungsfreie Angebote und angemessene Vorkehrungen zu ermöglichen. Dies zeigt, dass Deutschland bereits einen großen Schritt voraus ist und für uns war es eine große Motivation, auch in Österreich auf die Wichtigkeit von Inklusion im Bereich Musik aufmerksam zu machen. Und dann kam auch noch die Pandemie. Wir mussten erkennen, dass in dieser Zeit Menschen mit Behinderung keinen Zugang mehr zu den meisten kreativ-musikalischen Angeboten hatten. Einerseits, weil man sie mit digitalen Medien schwer bis gar nicht erreichen kann, und andererseits, da sie durch die gesetzlichen Vorgaben während der Pandemie nahezu hermetisch abgeriegelt wurden. Ich habe dies selbst im Unterricht an der Musikschule gemerkt, es war einfach ganz schwierig, in Kontakt zu treten und musikalisch mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten. Und dies war dann der ausschlaggebende Impuls, an dem wir erkannt haben, dass es jetzt nicht mehr um unseren privaten Austausch geht, sondern wir etwas Offizielles brauchen, um an die Öffentlichkeit treten können und in Österreich großflächig etwas bewirken können. Und so haben wir mit dem Verfassen des Impulspapiers begonnen. Darin wird Inklusion per se erklärt, aber auch auf die Rechte von Menschen mit Behinderung auf Musik aufmerksam gemacht und Impulse zur Umsetzung aufgezeigt. Ein ganzes Jahr lang haben wir an unserem Impulspapier gearbeitet – und schließlich war igmi geboren mit einer Kerngruppe aus elf Personen, von denen auch zwei Menschen mit Behinderung dabei sind.

Wie kann man sich die derzeitige Arbeit bei igmi vorstellen?

Petra Linecker: Die derzeitige Arbeit besteht darin, dass sich die Kerngruppe einmal im Monat trifft, um igmi weiterzuentwickeln. Da wir örtlich und räumlich keinen zentralen Standpunkt haben, werden diese Treffen momentan Online gehalten. Derzeit geht es in unseren Sitzungen vor allem darum, genauer zu definieren, was igmi ist, wohin igmi will und wie sich igmi strukturiert. Inklusion muss in der Mitte der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen ankommen.

„Unser Ziel ist es, einen Paradigmenwechsel vom Separierenden hin zum Inkludierenden zu schaffen.“

Gibt es einen konkreten nächsten Schritt für die Weiterentwicklung von igmi?

Petra Linecker: Ja, einer der nächsten und wichtigen Schritte ist, dass wir in allen Bundesländern je eine Gruppe installieren wollen, die dann miteinander und mit uns kooperiert. In diesen Gruppen soll u.a. je eine Vertreterin bzw. ein Vertreter der Pädagogischen Hochschulen, Universitäten und Musikschulen des jeweiligen Bundeslandes dabei sein. Somit sollten die wichtigsten musikalischen Bildungsbereiche abgedeckt werden, um eine möglichst breite Wirksamkeit zu erzielen. Dabei geht es nicht nur um die Umsetzung einzelner Projekte, die natürlich wichtig und toll sind, sondern vielmehr darum, dass Inklusion endlich als Bereicherung erkannt wird und nicht als abschreckendes Aufgabengebiet. Wichtig ist es, das Thema Inklusion bereits in den Ausbildungsstätten zu etablieren, um wirkliche Barrierefreiheit zu erreichen. Mit Barrierefreiheit ist nicht gemeint, dass es zum Beispiel keine Treppen mehr gibt, Inklusion muss in der Mitte der Gesellschaft und in den Köpfen der Menschen ankommen. Unser Ziel ist es, einen Paradigmenwechsel vom Separierenden hin zum Inkludierenden zu schaffen.

Also könnte man sagen, dass für igmi nicht die einmaligen Prestigeprojekte im Vordergrund stehen, sondern es um die Selbstverständlichkeit geht, Menschen mit besonderen Bedürfnissen an den allgemeinen und stetigen Angeboten im Musikbereich teilhaben zu lassen?

Petra Linecker: Richtig. Wenn ich etwa an Musikschulen denke, muss es sowohl in der Bevölkerung als auch im Lehrpersonal selbstverständlich sein, dass das gesamte Angebot für alle Menschen da ist – und dafür kämpfe ich schon lange. Nicht nur den Ansatz zu verfolgen, dass wir eine Gruppe, speziell für Menschen mit Behinderung haben, die von einer Lehrperson betreut wird, sondern dass es völlig klar ist und außer Diskussion steht, dass jedes Angebot für alle Menschen offen ist. Und das muss soweit reichen, dass dies auch die Bevölkerung wahrnimmt. Es ist tatsächlich oft so, dass im Umkehrschluss wahrgenommen wird, dass kein Bedarf da ist, denn Mensch mit Behinderung melden sich nur selten an einer Musikschule an. Und warum? Weil es oftmals nicht der Vorstellung der Menschen entspricht. Die Musikschule hat eigentlich die Verpflichtung, barrierefreien Musikunterricht anzubieten, wenn sie die UN-Behindertenrechtskonvention und die allgemeine Schulpflicht ernstnimmt. Um diesen Paradigmenwechsel voranzutreiben, ist es wichtig, bereits in den Ausbildungsstätten anzusetzen. Alle Studierenden sollten während des Studiums Menschen mit Behinderung unterrichten. Am besten in Form von inklusiven Ensembles. Dann wird es in weiterer Folge auch in den Musikschulen kein Thema mehr sein.

„Jetzt weiß ich wieder, warum es Musik gibt, warum ich Musik spüre und warum ich Musik mache.“

An der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, an der Sie unterrichten, gibt es durch Ihre Initiative bereits einen speziellen berufsbegleitenden Lehrgang: „Musik & Inklusion. Musizieren mit Menschen mit Behinderung“. Wie wird dieses Lehrgangsangebot angenommen?

Petra Linecker: Der Lehrgang ist berufsbegleitend und wird momentan hauptsächlich von jenen besucht, die bereits im Berufsleben stehen und ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in Hinblick auf die Arbeit mit der Zielgruppe von Menschen mit Behinderung erweitern möchten. Aktiv Studierende können den seit zwanzig Jahren bestehenden Schwerpunkt „Musizieren mit Menschen mit Behinderung“ wählen. Bezüglich des von mir bereits erwähnten inklusiven Ensembles gibt es schöne Neuigkeiten, die ich auch der igmi zu verdanken habe. Denn durch die Kraft, die man durch den Austausch schöpft, durch die Unterstützung, die man erfährt, durch die Ideen, die man dadurch bekommt, aber sicherlich auch durch das Impulspapier habe ich es geschafft, die Universität hier ein wenig wachzurütteln. Somit wird es ab Herbst 2022 an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz eine inklusive Band geben und in weiterer Folge, wenn sich dieses Angebot etabliert, über ein verpflichtendes Semester in diesem Ensemble für Studierende nachgedacht. Das wäre sehr wichtig. Von meinen Schwerpunktstudierenden bekomme ich sehr viele positive Rückmeldungen. Sie erkennen, wie bereichernd die Arbeit mit Menschen mit Behinderung ist und finden oft einen neuen Zugang zur Musik. Das Expertentum, das an den Universitäten herrscht, geht – und das ist jetzt eine ganz persönliche Meinung – manchmal sehr weit weg von dem, was Musik meint, was Musik bewirkt und warum man Musik macht. Diese nonverbale und emotionale Ebene, die sich in der Musik abspielt, geht manchmal vor lauter „schneller, höher und weiter“ verloren. Und das ist etwas, das die Studierenden in meinem Unterricht wieder finden. Sie gehen oft ganz beseelt aus meinem Unterricht und sagen: „Jetzt weiß ich wieder, warum es Musik gibt, warum ich Musik spüre und warum ich Musik mache.“ Und pädagogisch lernen sie durch die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen natürlich auch enorm viel, vor allem auf Menschen zuzugehen und sie abzuholen, was eigentlich in jedem Unterricht stattfinden sollte.

Sie erwähnten bereits, dass das Verfassen des Impulspapiers ein wichtiger Schritt war, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Ist dies gelungen und wie geht es damit weiter?

Petra Linecker: Nun, wir haben angefangen, das Impulspapier sehr großflächig zu verschicken, an diverse Bildungsinstitutionen bis hin zu den zuständigen Bundesministerien. Und es kamen einige tolle Rückmeldungen, die zeigen, dass es positiv aufgenommen oder zumindest positiv bemerkt wird. Aber jetzt heißt es für uns: dranbleiben, damit es nicht in den Schubladen verschwindet. Somit sind wir sehr bemüht, Workshops und Fortbildungen anzubieten und bei Tagungen aufzutreten, um dort das Impulspapier zu erklären, was es will und was es kann. Wir erhoffen uns dadurch, die eine oder andere Institution oder auch Einzelperson dazu zu verführen, sich in irgendeiner Weise zu den Inhalten des Impulspapiers zu bekennen und uns zu unterstützen – Menschen für unser Anliegen zu gewinnen. Weiters möchten wir es schaffen, als Dachorganisation zu agieren und Ansprechpartnerin für alle Menschen und Institutionen zu sein, die sich mit dem Thema auseinandersetzen möchten oder auch nur Fragen dazu haben. Es soll sich ein Netzwerk über ganz Österreich bilden – und dafür ist eben dieser bereits beschriebene nächste Schritt der Gruppenbildung in den einzelnen Bundesländern so wichtig.

Gibt es schon eine Ansprechperson pro Bundesland?

Petra Linecker: Dieser Punkt ist derzeit in Arbeit. Ich kann nur soviel sagen, dass wir dazu im Austausch sind und ausgewählte Personen anfragen. Fixiert wird dies in einer unserer nächsten Sitzungen. Manche Bundesländer wie Steiermark, Tirol, Oberösterreich, Kärnten sind in diesem Punkt schon etwas weiter. Aber wie gesagt, dieser Gruppenaufbau ist zurzeit eines unserer wichtigen Themen und wird sich im Laufe der nächsten Wochen strukturieren und fixieren. Und das wirft ein weiteres Thema auf: Wie kann man finanzielle oder personelle Unterstützung lukrieren, um etwa eine Tagung für unsere große Österreich-Gruppe finanzieren zu können?

„… aber wenn igmi so groß wird, wie wir uns das wünschen, sind unsere zeitlichen und finanziellen Ressourcen nicht mehr ausreichend.“

Das bedeutet, die Arbeit, die die igmi-Kerngruppe leistet, ist derzeit ehrenamtlich?

Petra Linecker: So ist es. Wir machen das alle nebenberuflich, obwohl wir alle mit unseren Tätigkeiten sehr eingedeckt sind. Darum ist dies auch immer wieder Thema in unseren Sitzungen. Es steckt sehr viel Arbeit dahinter und uns liegt das Thema auch allen sehr am Herzen, aber wenn igmi so groß wird, wie wir uns das wünschen, sind unsere zeitlichen und finanziellen Ressourcen nicht mehr ausreichend. Darum werden wir uns auch in dieser Hinsicht Schritte überlegen müssen. Was mir persönlich zu diesem Thema öfters durch den Kopf geht, ist, warum bei Tätigkeiten in der sozialen Arbeit ganz oft angenommen wird, dass sie doch unentgeltlich zu sein haben, denn man ist ja mit dem Herzen dabei. Da denke ich mir immer, das heißt, all jene, deren Tätigkeiten hoch dotiert werden, sind mit dem Herzen nicht dabei?

Wie könnte man diesen von Ihnen beschriebenen Paradigmenwechseln weiters anstoßen?

Petra Linecker: Nun, bisher haben etwa 120 Studierende meinen Lehrgang an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz absolviert, das heißt, dass in Oberösterreich in jeder Musikschule bereits eine Absolventin bzw. ein Absolvent meines Schwerpunktangebots sitzt. Unsere Idee ist es, dass hier allmählich ein Netzwerk entsteht, an jeder Musikschule eine Ansprechperson für Menschen mit Behinderung eingesetzt ist und somit sichtbar wird, dass das Angebot der Musikschulen für alle da ist. Eines unserer obersten Ziele ist es, dass das Angebot der Musikschulen für alle Menschen zugänglich wird und sich auch alle Menschen angesprochen fühlen. Bis es dazu kommt, sind wiederum einzelne Schritte notwendig, z. B. zu einem Musikschuldirektorentag eingeladen zu werden und mit Hilfe des Impulspapiers Musikschulen für unser Anliegen zu gewinnen.

Was sind für Sie persönlich die Herausforderungen in der Arbeit mit Menschen mit besonderen Bedürfnissen?

Petra Linecker: Ich finde es eine große Herausforderung, im Unterricht permanent ganz präsent zu sein. Ganz auf den Menschen zuzugehen, kleinste Impulse wahrzunehmen und diese musikalisch hochwertig in den Unterricht einzubauen. Gleichzeitig aber nicht das Konzept, das ich haben muss und auch haben will, dadurch zu verändern. Das Hineinstürmen, wer was gerade braucht, dies in der Sekunde in den Unterricht einzubinden und eine Unterstützung anzubieten, aber nur soviel, wie notwendig ist, fordert mich in der Arbeit sehr. Weiters ist mir wichtig, dass man im musikalischen Tun auch ganz bei sich selbst bleibt. Ich möchte keine Animateurin sein. Ich überlege mir ein Konzept und setze dieses mit der Gruppe um. Ich arbeite dabei gerne Impulse aus der Gruppe ein, aber ich bin nicht da, um die Gruppe zu bespaßen. Hier die richtige Mischung zu finden, stellt sicherlich auch eine Herausforderung dar.

„Die Musik ist eigentlich von Grund auf inklusiv.“

Und was fasziniert Sie an Ihrer Arbeit besonders?

Petra Linecker: Mich fasziniert diese musikalisch nonverbale Ebene, die sich in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung abspielt. Wie man automatisch mit der Musik mitgehen kann, wie Rhythmus herrschend ist, wie Rhythmus Sicherheit bietet, wie ein Schluss nur musikalisch herbeigeführt werden kann. Dies wird gerade bei inklusiven Musikgruppen extrem spürbar. Die Musik ist eigentlich von Grund auf inklusiv. Es ist für mich absolut faszinierend, was sich in der Musik auch kommunikativ abspielen kann, dieses Erleben auf der musikalisch elementaren Ebene, das spüren von Musik per se.

Gibt es einen besonderen Wunsch seitens igmi, den Sie abschließend äußern möchten?

Petra Linecker: Es würde uns sehr freuen, wenn interessierte Personen zu uns Kontakt aufnehmen. Wir stehen gerne für Fragen wie auch für Anregungen zur Verfügung und freuen uns sehr, wenn sich unser Netzwerk erweitert. Ein Wunsch unsererseits ist, dass Institutionen, Vereine und auch Einzelpersonen sich mit unserem Impulspapier ein Stück weit identifizieren, dieses auch nach außen tragen möchten und den so wichtigen Austausch damit unterstützen.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Veronika Prünster

Links:
igmi – Interessensgemeinschaft Musik Inklusiv Österreich:
igmi-Impulspapier
Anton Bruckner Privatuniversität Linz: Lehrgang Musik & Inklusion. Musizieren mit Menschen mit Behinderung