Vom 14. bis 24. September 2022 zeigen die MUSIKTHEATERTAGE WIEN für zwei Wochen im Wiener WUK neueste Werke des Musiktheaters aus Europa und darüber hinaus. Eröffnet wird das Festival mit der dystopischen Oper CHORNOBYLDORF aus der Ukraine: Die Nachkommen einer Menschheit, die eine Serie von Katastrophen überlebt haben, streunen zwischen den Ruinen von Reaktoren und versuchen die zerstörte Zivilisation wieder aufzubauen. “Welche Welt wollen wir?” ist die zentrale Frage der Eigenproduktion des Festivals: KOLLAPSOLOGIE 2022-2025. Diese Serie wird heuer mit der hybriden Oper KUNSTSCHNEE die Zerbrechlichkeit unserer Systeme erstmals erkunden und das Publikum zur aktiven Teilhabe einladen. Von Widerstand und Solidarität handelt das Musiktheater MITRA der österreichischen Komponistin Eva Reiter und des belgischen Filmregisseurs Jorge León. Mit insgesamt 10 internationalen Produktionen u.a. aus Belgien, China, Dänemark, Russland, Ungarn und der Ukraine präsentieren die MUSIKTHEATERTAGE WIEN ein multiperspektivisches Spektrum.
Mit CHORNOBYLDORF eröffnen die MUSIKTHEATERTAGE WIEN eine Oper, die aktueller nicht sein könnte und von der brutalen Realität des Krieges in der Ukraine eingeholt wurde. Vor diesem dystopischen Opus eröffnet Georg Nussbaumer das Festival opulent mit der WALKÜRE, DEN FELSEN HERABSTEIGEND. Nach der Premiere von CHORNOBYLDORF lädt Clara Frühstück mit ihrem selbstspielenden Klavier das Publikum mit ihrem LATE NIGHT FRÜHSTÜCK ein zu einer Nachtfahrt, in der sie gemeinsam mit Samuel Schaab Klavierkunst mit Elektro und Lichtdesign verwebt. Über den gesamten Festivalzeitraum macht sich Marino Formenti auf musikalische Spurensuche, indem er alle Projekte und Produktionen des Festivals mit Notenpapier und Aufnahmegerät durchreist. Zum nächtlichen Festival-Abschluss am 24.9. spielt er schließlich eine mehrstündige Klavierperformance aus seinem “diebischen Reisebericht” des Festivals, die zur LATE LATE NIGHT formenti erleben sein wird.
In welcher Welt wollen wir leben?
Mit dem Blick auf mögliche Enden der Welt setzt sich die vierteilige KOLLAPSOLOGIE 2022-2025 auseinander. Entworfen und inszeniert von dem Komponisten Thomas Cornelius Desi, einer der beiden künstlerischen Leiter der MUSIKTHEATERTAGE WIEN, soll ein Zeit-Raum angeboten werden, in dem das Publikum sich aktiv mit unserer Welt als Vielzahl von Systemen künstlerisch auseinandersetzt. Der Musiktheatermacher dazu: „‘In welcher Welt wollen wir leben? ’ erscheint mir als die bessere Frage zu sein ein im Gegensatz zu der ständig mediatisierten bedrängenden Aufforderung, wie wir leben ‘sollen’.“ Im ersten Teil – KUNSTSCHNEE – wird die Aufführung als Hybridform auch online zu erleben sein, mit interaktiven und alternativen visuellen Gestaltungen.
Was die Welt uns abverlangt
2020 machte sich das Musiktheater-Kollektiv Opera Aperta aus der Ukraine auf den Weg, im eigenen Land nach bereits verschütteten oder vergessenen Elementen unserer Kultur und ihren Leistungen zu fahnden. „Die Frage, welche Welt wir wollen, wird im Angesicht des russischen Angriffskrieges in der Ukraine nun auf brutale Weise konkret: Eine Welt ohne Angst um Leib und Leben, aber auch eine, in der die persönliche Freiheit und das demokratische Miteinander bedingungslos gelebt werden können,“ erläutert Georg Steker, künstlerischer Leiter der MUSIKTHEATERTAGE WIEN und Mitinitiator des diesjährigen Eröffnungsstücks CHORNOBYLDORF.
Flucht in die Freiheit
Das “weiße Rössl am Wolfgangsee“ hat nicht nur zeitlich, sondern auch geografisch eine lange Strecke hingelegt: Die Erfolgsrevue hat es vom Wolfgangsee über Berlin bis nach New York geschafft. Dort haben es geflüchtete Europäer*innen in Miniaturen in verschiedenen Cafés aufgeführt. In IM WEIßEN RÖSSL AM CENTRAL PARK begeben sich Johannes Müller und Philine Rinnert auf Spurensuche zwischen Wien, Berlin und New York und sammeln die Überreste einer dieser vergessenen Rössl-Versionen ein: die von Jimmy Berg. Und gehen dabei u.a. der Frage nach, was mit kulturellen Praktiken nach der Flucht passiert. Der Gedanke nach Flucht mag auch in der dokumentarischen GEISELOPER eine Rolle gespielt haben. Was geschah in den fünf Nächten 1973 in Ungarn, in denen zwei junge Männer fünfzehn Mädchen ohne Wasser und Nahrung einsperrten? Wie fühlt es sich an eine Geisel zu sein? Entführt von den Söhnen eines ranghohen Parteimitglieds, die das staatssozialistische Ungarn hinter sich lassen und nach Österreich fliehen wollen. Die ungarische Schriftstellerin Csenge Hatala hat die Dokumente der vertuschten Geschichte ihrer Heimatstadt ausgegraben. Die Musiktheater-Company MuPATh entwirft ein opernhaften Gemeinschaftsereignis, um die Geiselnahme zu rekonstruieren.
Ohnmachtsgefühle
Mit Macht und Ohnmacht setzten sich die beiden Stücke MITRA und KASSANDRA auseinander. MITRA erzählt in einer Mischung aus Oper, Dokumentarfilm und Installation das Schicksal der iranischen Psychoanalytikerin Mitra Kadivar, die 2012 zu Unrecht in die Psychiatrie eingeliefert wurde, nachdem sie in Teheran eine Schule für Psychoanalyse aufbaute und ihr zu Hause in eine Anlaufstelle für Drogensüchtige umfunktionierte. Regisseur Jorge Leòn und das Ictus Ensemble setzen die emotional intensive Komposition der österreichischen Komponistin Eva Reiter eindringlich um, ziehen das Publikum mitten in die Realität einer psychiatrischen Institution hinein und gemeinsam mit der fälschlich als psychotisch diagnostizierten Psychoanalytikerin auch wieder heraus.
In KASSANDRA verkörpern Julia Hagenmüller und Lena Spohn die Frauenfigur, in der wir uns einmal wiedererkennen und der wir gerne zuhören, die uns ein anderes Mal Angst macht und der wir nicht glauben wollen. Kassandras Warnungen finden weder Gehör noch Glauben und sie bewegt sich damit auf einem schmalen Grat zwischen prophetischer Macht und wirkungsloser Ohnmacht.
Der weibliche Blick
Die Performance KASSANDRA ist ausschließlich von Frauen erarbeitet: Von den Komponistinnen Huihui Cheng, Anna Korsun, Katharina Roth, den Sängerinnen Julia Hagenmüller (Sopran), Lena Spohn (Mezzosopran), Kapitolina Tcvetkova (Regie, Ausstattung, Kostüm, Skulptur), welche die mythische Frauenfigur aus weiblicher Sicht interpretieren.
In völlig anderem Kontext verhandelt die Punk-Oper LA BOHÈME SUPERGROUP von glanz&krawall aus Berlin feministische Positionen. glanz&krawall – der Name ist Programm. Musikalisch setzt die Berliner Combo dem großen romantischen Orchester bei Puccini nicht nur Synthesizer, Bass, E-Gitarre, Drummachine und Elektronik entgegen, sondern auch eine unkonventionelle Besetzung: Die von einer noch immer patriarchal strukturierten Kunst- und Opern-Welt ausgeschlossenen Stimmen verschaffen sich Gehör. „Female Empowerment“ trifft auf Verismo und das erzeugt eben nicht nur Krawall, sondern verleiht Puccini einen politisch engagierten Glanz, der ihm ziemlich gut steht.
Künstliche und köstliche Realitäten
Die MUSIKTHEATERTAGE WIEN suchen auch immer wieder Verbindungen zwischen neuen Technologien und Kunst. So stellt sich in VR-BANIA die Frage, wie virtuelle Wirklichkeit schmeckt. Mithilfe von Virtual Reality-Brillen reist das Publikum in die Stadt Verbania am Lago Maggiore, wo sich die österreichische Regisseurin Carmen C. Kruse und der italienische Komponist Manuel Zwerger auf die Suche nach einer gemeinsamen kulinarischen Identität im 21. Jahrhundert begeben haben. Dort treffen sie auf das dortige beliebte Gericht Risotto giallo con salsiccia, welches live von von den italienischen Performer*innen Leo Morello und Anna Piroli für das Publikum zubereitet wird.
NO DISTANCE LEFT TO SOUND setzt hingegen völlig auf ein analoges musikalisches Erlebnis und bringt dafür einen Hörsaal der Uni Wien zum Schwingen. Dieses Musiktheater der Vibrationen öffnet ein Experimentierfeld, in dem Komposition und Bühnengeschehen in einen Dialog treten, der Resonanzkatastrophen, Sympathien und Missverständnisse provoziert und einen Ort des Staunens entstehen lässt.
Neues Fahrradöl in alte Opernteile
Bei der Outdoor-Zero-Emission-Fahrrad-Oper R¡NGD!NG sind die Teilnehmer*innen mit dem Fahrrad unterwegs und besuchen fünf Stationen, an denen Musik aus Opern von Mozart, Puccini, Wagner oder Rossini und Strauss völlig neu textiert a capella, also unbegleitet und unverstärkt gesungen wird. Auf einer Web-App können diese neuen Texte – sie stammen allesamt aus eigenen Interviews mit Fahrrad-Aficionados – am Smartphone auf Deutsch und Englisch als live-Untertitel mitgelesen werden. Unter anderen erzählt etwa eine tunesische Fahrradbotin zur Musik aus dem »Rosenkavalier«, wie sie mitten in Wien Notrufe von Flüchtlingsbooten aus dem Mittelmeer erhält, um die Seerettung zu alarmieren…
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