THOMAS DESI und GEORG STEKER rufen zum zweiten Mal die MUSIKTHEATERTAGE WIEN aus, heuer unter dem Thema Weltflucht. Ein Gespräch über Elitekunst, Eskapismus, Schlafstädte und dezentrale Kultur im zwölften Bezirk. Ruth Ranacher und Michael Franz Woels trafen die beiden künstlerischen Leiter an ihrer organisatorischen Wirkungsstätte im siebten Bezirk zum Interview.
Letztes Jahr gab es bei den Musiktheatertagen Wien kurzzeitig das Maskottchen Peri, das dann auch sogleich wieder sterben musste. Was ist mit Jacobo Peri passiert?
Georg Steker: Wir wollten uns doch nicht so stark am Erfinder der ersten Oper orientieren. Jacobo Peri hat formal Ende des 16. Jahrhunderts die erste Oper der Welt geschrieben. Das war der Anfang der Oper in Florenz, der Vater von Galileo Galilei, der auch Musiker und Musiktheoretiker war, war da dabei. Wir haben uns aber dann gegen seine Anwesenheit als Maskottchen entschieden. Dieses Jahr gibt’s kein Maskottchen.
Thomas Desi: In der Renaissance wurde ja versucht, die griechische Antike auf neue Weise zu entdecken. Wie waren die griechische Musik, die Gesten, die Texte? Und es wurde versucht, in diesem Stil eigene Stücke zu erfinden und aufzuführen. Das war sozusagen damals schon der Versuch einer Rekonstruktion, denn eigentlich hatten ja die Griechen 2000 Jahre vorher die Oper erfunden. Der Gedanke, dass das eine Rekonstruktion von etwas Griechischem ist, bringt mich jetzt darauf: diese Open-Air Situation, wie sie ja auch im römischen Theater überliefert ist und das Naturspektakel, das man durch die großen Fenster der Arena sieht; dazu immer dieses Kollektive. Wo kommen diese tausende von Leuten her? Sie sind aus ihren kleinen Dörfern zu Fuß zu so einer Arena gepilgert und das Ereignis hat tagelang gedauert. Das ist dann letztlich ja alles eine Festivalidee.
Georg Steker: Wir haben uns bei den Musiktheatertagen – mit der Idee der Verdichtung – für das Format des Festivals entschieden. Ein Festival bietet die Chance, all die Energie, die du für Einzelproduktionen verwendest, zu bündeln. Ich denke hier auch an Drucksorten und Pressearbeit. Wir verdichten hier weiters mit einem neuen Format, dem Producers Meeting. Diese dienen dazu, Partnerschaften und den Austausch zu intensivieren. Im letzten Jahr haben wir zum Beispiel mit dem Teatro della Tosse aus Genua, der Neuköllner Oper, Òpera de Butxaca i Nova Creació aus Barcelona und ODC Athens/VYRSO. zusammengearbeitet. Wir lernen daraus.
Wir machen im Rahmen des Festivals diese Producers Meetings auch, da wir unsere Stücke gerne öfter spielen wollen. Umgekehrt folgen dann Gegeneinladungen und wir sehen andere Stücke.
Die Vision einer Einheit von Musik, Sprache und Aktion
Was ist denn nun das Neue Musiktheater?
Thomas Desi: Die Frage ist insofern kompliziert, da dieser Begriff auch von angestammten, großen Opernhäusern verwendet wird. Der Begriff selbst stammt aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Georg und ich haben unsere beiden vorherigen Vereine zoon und progetto semiserio zusammengelegt, um dieses Festival realisieren zu können. Wir sind sowohl Geschäftsführer, künstlerische Leiter als auch Produzenten und somit an der Entwicklung von eigenen Stücken interessiert. Davor machte ich mit zoon 20 Jahre Musiktheater im Sinne eines théâtre d’auteur, eines Autorentheaters: Als Vision einer Einheit von Musik, Sprache und Aktion. Während bei der Oper ja das Modell der Arbeitsteilung vorherrscht, das in der Gestalt des Dirigenten und des Regisseurs eigentlich konfliktgeladen ist, weil beide fast gleichwertig sind. Man sieht das ja auch immer wieder, dass Produktionen sogar abgesagt werden, weil sich die nicht einigen können.
Bei meiner Vorstellung von Musiktheater steht also der Prozess im Vordergrund: von der ersten Idee, über die Komposition, die Texte, die Arbeit mit den SchauspielerInnen bis hin zur Premiere. Da sehe ich große Unterschiede zur Oper. Ich war kürzlich in London bei einem Vortrag des künstlerischen Leiters von Tête à Tête, das sich das größte Opernfestival der Welt nennt. Er bezeichnete folgendes als Oper: Jugendliche, die in einer großen Halle mit ihren Skateboards rund um einen Chor fahren und reklamierte dafür den Begriff der Oper des 21. Jahrhunderts. Das ist im Unterschied zum Repertoire der klassischen oder romantischen Oper eine andere Sichtweise, die ich gut finde. Wir hier machen ja auch EINE ART OPER.
Georg Steker: In Österreich ist der Begriff Oper stark besetzt – durch Hochkultur und Repräsentationspartner. Das ist in anderen Städten und Ländern nicht so, die gehen mit diesem Begriff freier um. Bei den renommierten Operadagen Rotterdam gibt es Kunstformate, die wir lange nicht als Oper bezeichnen würden. Eine neue Zusammenführung von Klang, Sound und Szenerie. Mit dem Festivalcredo EINE ART OPER spielen wir auf den vagen Opernbegriff an, machen aber keine klassischen Opernformate. Intern müssen wir aber eine Abgrenzung zu Formaten wie dem Konzert oder auch der Performance finden. Für Musiktheater braucht es eine dramaturgische Idee, es muss inszeniert sein und die Musik ist formleitendes Element beim Prozess wie auch beim Produkt. Das unterscheidet sie von der Theatermusik.
Auf Ihrem Blog postulieren Sie, dass das Musiktheater die heiligen Hallen der Oper verlassen hat.
Georg Steker: Das Werk X ist ein guter Ort, um Musiktheater zu machen. Wir haben diesen Ort gewählt, weil wir der Meinung sind, dass unser Musiktheater ganz gut in diese Ästhetik passt. Weil man hier sehr unmittelbar Zuschauer und Bühne zusammenbringen kann. Wenn möglich versuchen wir ohne Dirigenten auszukommen. Diese Verabredungen zwischen Sängern und Instrumentalisten zum Werk kann man auch anders probieren und auch schon anders komponieren. Es gibt dann keine organisierte Ablenkungseinheit. All das sind Fragen, die uns beschäftigen – ganz ohne doktrinären Anspruch.
Thomas Desi: Wir kooperieren, wie schon im letzten Jahr, wieder mit internationalen Partnerorganisationen. Das Thema Europa ist ja sozialpolitisch und realpolitisch extrem brisant. Es gibt Kommissionen, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, Kultur zu fördern. Aber da divergiert der Gedanke der europäischen Union mit der Wirklichkeit. Da gibt es meiner Meinung nach einen großen Widerspruch zwischen der Aufforderung zur Mobilität und Zusammenarbeit in Europa und der Koppelung mit einem totalen Streamlining. Alles soll über ein Formular gebrochen werden. Die Realitäten, wie in verschiedenen Ländern an Kunst oder an einem Theater gearbeitet wird, unterscheiden sich aber. Man kann sich vorstellen, dass in Italien und Spanien oder in Griechenland anders gearbeitet wird, als zum Beispiel in England oder Deutschland. Hier liegt die Diversität des Musiktheaters.
Vielleicht gibt es mehr Publikum als die Politik glaubt
Sie sorgen für neue Präsenz von Musiktheater. Warum gibt es noch immer kein eigenes Haus für Musiktheater in Wien?
Georg Steker: Diese Diskussion eines eigenen Hauses für Musiktheater in Wien hat es schon vor 20 Jahren gegeben und wurde dann von der Politik abgedreht. Es ist auch heute so, dass die Politik dafür nicht die Notwendigkeit sieht, weil sie nicht glaubt, dass die Zielgruppe dafür da sei. Man könnte aber mit der Politik sprechen, ob es nicht einen Stagione-Betrieb geben kann.
Thomas Desi: Es gibt ja auch den Begriff der Off-Szene. Was ist das Interessante an der Off-Szene und wofür steht sie? Denn es gibt ja auch die Häuser und Institutionen. Das Musiktheater steht dazwischen. Was kann Musiktheater als Format innerhalb eines institutionalisierten Rahmens alles sein: Opernstudiobühne, kleines Haus, Laboratorium? Da wurde in den 1990ern schon viel probiert.
Georg Steker: In Wien ist die Verbindung von Musiktheater-Produzenten zu den großen und mittelgroßen Häusern sehr dünn. Wir, und damit meine ich die fünf bis acht produzierenden Gruppen, werden nicht eingeladen, ein Gastspiel zu produzieren. Wir können uns einmieten und haben so mit unseren Gruppen die letzten Jahre verbracht. Was wäre, wenn die netzzeit, sirene Operntheater, die Wiener Taschenoper oder das Ensemble Phace regelmäßig ein bis fünf Stücke zeitgenössischen Musiktheaters an einem Haus produzieren? Oder ein Monat im Sinne einer Stagione, um die Sichtbarkeit zu erhöhen? Vielleicht gibt es mehr Publikum als die Politik glaubt? Was es gibt sind zarte Berührungen von Neue Oper Wien unter der Leitung Walter Kobéra mit dem Theater an der Wien, die Einladungen zum Festival OsterKlang, das Roland Geyer macht, und in die Kammeroper, seitdem sie zum Theater an der Wien gehört. Und Michael Scheidl, der Leiter der netzzeit hat in der Saison 2008/09 an der Volksoper das Stück Kehraus um St. Stephan von Ernst Krenek inszeniert. Das aber nicht als netzzeit, sondern als Regisseur Michael Scheidl.
Thomas Desi: Mit dem dieTheater ist ein zentraler Ort für die freie Szene in Wien verloren gegangen und ich glaube, der fehlt nach wie vor. Es gibt einfach nicht genug Räume. Die systematische Durchforstung des Immobilienmarktes und die Abstoßung von Häusern hat die finanzschwache Szene immens getroffen. Dazu kommen verschärfte Auflagen, Polizeivorschriften, Theatervorschriften.
Hürden abbauen, die unnötigerweise da sind
Wen wollen Sie mit Ihrer Form von Musiktheater ansprechen? Heuer haben Sie Pay as you want als Preispolitik beim Festival, letztes Jahr konnte junges Publikum unter 25 Jahre gratis zum Festival. Hat es letztes Jahr mehr junge Leute ins Theater gelockt, was erwarten Sie sich heuer von dieser Maßnahme?
Georg Steker: Ja, das U25 hat viel junges Publikum angezogen. Wir sind mit dem Musiktheater immer noch nahe an einer konservativen Form, der Oper. Heuer überlegten wir, was ein fairer Preis sein könnte. Sobald man aber einen fixen Preis nennt, fängt diese Unwahrheit an. Man hat einen Eintrittspreis, aber unzählige Ermäßigungen. Die Verantwortung über die Preisfrage wird heuer also an die RezipientInnen weitergegeben. Zudem fällt es mir schwer, kategorisch jemanden auszuschließen. In erster Linie geht es uns mit der Pay as you want Preispolitik darum, Hürden abzubauen die unnötigerweise da sind. Die Neue Musik – egal wie hörbar sie nun sein mag – schreckt manche vielleicht ab, die sagen, das ist mir nicht vertraut. Musik in ihren unterschiedlichsten Facetten ist aber das Element, vor dem sich kaum jemand drücken kann, berührt zu werden. Mit Musiktheater kann man aktuelle Themen aufgreifen, das Zusammenspiel von Musik, Text, Licht, Raum anders gestalten. Und ich finde, man kann so schon mehr als das klassische Theater- oder Konzertpublikum ansprechen.
Sie fragen indirekt auch, was Kultur wert ist?
Thomas Desi: Es gab im Zuge der Flüchtlingsdiskussion plötzlich die Debatte über Wertekurse. Da ging es anscheinend um Kultur. Aha, jetzt auf einmal, wenn die Scheiße bis zum Hals steht, wird von der Kultur gesprochen. Da sieht man, wenn alles nicht mehr hilft, dann zeigt man, was unsere Kultur ist. Und zwar auch mit einem hegemonialen Hintergedanken: unsere Kultur ist besser als eure Kultur. Doch was passiert, wenn man plötzlich diesen Wertkurs in einen Geldwert umrechnet? Wenn man die BesucherInnen direkt fragt, was ihnen die Kultur, der vermittelte Inhalt wert ist? Hier, bei den Musiktheatertagen findet die Essenz von Kultur statt, nicht ein Kurs über Kultur. Wir machen mit den Musiktheatertagen im Festival ganz konkrete künstlerische und auch sozial relevante Aussagen und vertreten eine klare Meinung.
Trotzdem bleibt Musiktheater hochschwellig?
Thomas Desi: Jetzt kommen wir zum Thema der Elite und Elitekunst. Oper ist per se Elitekunst. Das war immer so. Wir haben das Festival einerseits in das Werk X gesetzt, weil das Haus ein interessanter Raum ist, andererseits hat das Werk X hat einen zweiten Dreh – das Dezentrale. Dezentrale Kultur ist irgendwo auch Randkultur. Man muss sich die Zukunft der Städte ansehen. Im Zentrum wohnt keiner mehr weil das unerschwinglich geworden ist und außerhalb gibt es die Schlafstädte. Das ist extrem ungesund für die Gesellschaft. Und das weiß die Stadt. Das ist schon kulturpolitisch. Bewusst zu sagen, es ist Theater am Arsch der Welt, aber wir wollen das so. Die Musiktheatertage Wien sind ein dezentrales Kulturprojekt. Es darf hier nicht nur Dodel-Veranstaltungen oder Bierzelte geben.
Wir wollen die Theaterwelt ins Schwingen bringen
Nachdem heuer das Leitthema Weltflucht ist, jetzt die Frage, nach welchen Kriterien die Stücke ausgewählt wurden?
Georg Steker: Ich finde es gut, wenn man in der Kunst nicht immer direkt auf aktuelle Themen wie zum Beispiel das, was gerade real, existenziell an Flucht passiert, zusteuert. Sondern, dass man auch andere Aspekte mit reinnimmt, wie beispielsweise den Eskapismus: die vielen Wege, die es gibt, um aus dem, was uns umgibt, zu flüchten. Je länger man darüber nachdenkt, weiß man oft schon nicht mehr, was ist noch Flucht und was ist die Summe der Flucht und ist dann wieder die Existenz und Gegenwart. In der Art und Weise, wurde bei der Opera of Entropy künstlerisch gearbeitet. Man wird als ZuhörerIn nur ahnen können, was Zufall und was Absicht, was Ordnung, was Unordnung ist. Die Opera of Entropy ist auch formal ein gutes Beispiel um zu zeigen, was wir auch noch als Musiktheater inkorporieren können.
Thomas Desi: Entropie als Flucht der Elemente. Flucht hat ja auch etwas Chaotisches. The Butt nach einer literarischen Vorlage von Will Self ist hingegen formal eine Oper im Gegensatz zu der Opera of Entropy. Was ist wichtig für eine Oper? Vor allem das Libretto. Daran scheitern meiner Meinung nach viele neue Opern. Ein Libretto muss Raum lassen für die Musik. Beim Theater ist es ziemlich üblich geworden, dass man Romane und Filme zu Theaterstücken bzw. Libretti umarbeitet. Ein Roman wird nicht nach Zeitkriterien wie einer Lesbarkeit in drei Stunden oder fünf Tagen konzipiert. Die Herstellungsprozesse sind völlig verschiedene. Man vergisst das oft bei Auftragswerken. Oft entsteht ein Libretto, das total wortbasiert ist, denn viele Libretto-AutorInnen verlassen sich sehr stark auf die Verständlichkeit des Textes. Es sollte aber kein Sprechtheater sein, der gesungene Text wird ja quasi zersungen.
Georg Steker: Wir wollen die Theaterwelt ins Schwingen bringen und machen das mit den Mitteln des Musiktheaters. Wir thematisieren das Theater selbst als Ort der Weltflucht.
Thomas Desi: Treten Sie ein in eine andere Welt, um Airan Berg zu zitieren. Dieses Sich-verzaubern-lassen, diese Funktion von Theater ist mir sehr wichtig. Es bietet nicht nur die Möglichkeit der Zusammenkunft, sondern auch eines kollektiven Berauschens. Es gibt ja auch den Rausch der Fülle oder der Lautstärke in einem Club. Das sind Körpererfahrungen, die man sonst nirgends machen kann.
Georg Steker: Das Entkommen in den Wahnsinn – ob als bewusste oder unbewusste Entscheidung. Der eigenen Realität entkommen, in dem man sich in Irrsinn flüchtet.
Ist das eine aktive Art von Weltflucht, oder vielmehr ein Rückzug, eine Abkehr?
Thomas Desi: Beides.
Georg Steker: Ist der Rückzug nicht auch etwas Aktives? Der Rückzug kann auch in einem Kollektiv erfolgen. Der Rückzug aus der Eigenwahrnehmung. Ich gebe mich einem Kollektiv hin. Man verliert sich temporär in einer Masse oder einem Thema.
Thomas Desi: Wo ist das Tor, durch dass ich muss? Das ist heute ganz konkret für viele Menschen eine Kontrollstelle mit einem Scanner, eine Migrationsbehörde, ein Zoll oder ein Loch in einem Zaun, durch das ich hindurchkriechen kann. In der Menschheitsgeschichte haben wir das x-Mal gesehen. Den Moment des Übertritts gibt es auch in der mentalen Welt. Diese Pforte gibt es auch im Theater, in der Kunst. Ich finde das faszinierend zu beobachten. Mein Theater ist nicht der Brecht´sche Verfremdungseffekt, ich mache den Rausch des Bürgertums.
Vielen Dank für das Gespräch!
Interview: Ruth Ranacher, Michael Franz Woels
Musiktheatertage Wien:
30. August – 11. September