Musikprogramm bei den Wiener Festwochen, aber auch etliches Anderes im Mai (Echoraum, Augarten, Konzerthaus) – eine Zwischenbilanz.

Die Wiener Festwochen 2010 haben die Halbzeit erreicht – die szenischen Operndarbietungen gehören Alban Berg („Wozzeck“, „Lulu“), aber auch viele Konzerte sind diesem gewidmet. Bestechend ist aber auch das Schauspielprogramm mit bisher bereits großartigen Aufführungen – auch mit ausgefallenen Gastspielen, die Stefanie Carp programmiert hat. Das Musikprogramm (Festwochenkonzerte) gestaltet in diesem Jahr die Gesellschaft der Musikfreunde. Hier gab und gibt es noch etliches Hörenswertes, auch in Bezug auf Erstaufführungen (Cerha) und Entdeckungen. Am Freitag, 28.5. nützt im Gläsernen Saal des Musikvereins Marino Formenti gemeinsam mit Studenten des Wiener Konservatoriums seine „Carte blanche“.

Der Wiener Musikverein verzichtet natürlich nicht auf repräsentative Symphoniekonzerte im Großen Saal mit den drei Wiener Orchestern und auch den Niederösterreichschen Tonkünstlern, hat auch die Sächsische Staatskapelle (Luisi) oder das Pittsburgh Symphony Orchestra (Manfred Honeck) mit „klassischen“ Werken, darunter auch viele des 20. Jahrhunderts, eingeladen, Nikolaus Harnoncourt wird Mozarts Serenata drammatica „Il sogno di Scipione“ mit prominenten Sängern leiten. Aber – abgesehen von Alban Berg – gab und gibt es vor allem mit dem Radio-Symphonieorchester Wien Spannendes, auch Aktuelles. Im Musikverein gibt es zudem die Neuen Säle – und hier musste, wollte und sollte man noch hingehen.

Das Musikvereinsprogramm mit den Festwochenkonzerten begann bereits am 9. Mai in vier Sälen, im Gläsernen /Magna Auditorium etwa mit dem Steude Quartett und der Pianistin Barbara Moser mit Kammermusik von Hugo Wolf, Franz Schmidt, Anton Webern und Alban Berg. Sehr überzeugend war tags darauf (10. Mai) auch der Besuch im Metallenen Saal und des Konzerts des Trio Prestige: Hinter dem Namen verbergen sich drei junge Interpreten, die sich 2006 an der Universität für Musik und darstellende Kunst zum Trio zusammenfanden. Fast im – verdienten – Mittelpunkt des Programms im Zyklus „Young Musicians“ stand die Klarinette. Der junge, 1982 im mazedonischen Śtip geborene Solist Hidan Mamudov spielt hervorragend, Bergs „Vier Stücke“ für Klarinette“ op. 5 (1913) etwa – die grandiose, bahnbrechende Quintessenz einer „geschrumpften“ zyklischen Sonate – interpretierte er überzeugender noch, als 10 Tage später ein Solist des Mahler Chamber Orchestra im Arnold Schönberg Center! Ganz toll auch das Stück von Brahms, seine Sonate für Klarinette und Klavier f-Moll op. 120. Ihm zur Seite die Pianistin Balba Ošina, aus dem lettischen Riga stammend. Zum Trio gesellte sich die in Bulgarien 1985 geborene Geigerin Irina Belomazhova, die konzertierend im Adagio aus Alban Bergs Kammerkonzert op.8 (Fassung für Violine, Klarinette und Klavier) die konzertierende „Prima“-Funktion ausübte. Das Programm eröffnete – der Komponist war im Saal anwesend – ein schönes Trio für Klarinette, Violine und Klavier (op.59) von Ivan Eröd und wurde von einem weiteren Trio von dem 1947 in Detroit geborenen jüdischen Komponisten Paul Schoenfield beschlossen, der Elemente der klassisch-romantischen Tradition mit solchen der Klezmer-Foklore verbindet.

À propos österreichische Komponisten: Außerhalb der Wiener Festwochen feierte an zwei aufeinanderfolgenden – allesamt vom Rezensenten besuchten – Tagen (14./15. Mai) das Festival Schrattenberg im Echoraum eine 20Jahresfeier seines Bestehens im Steirischen: Hotelpupik. O(ffen). R(eal). F(undamental) nannte sich das Unternehmen Zu hören waren u. a. – neben auch ganz jungen Musikerinnen und Musikern wie Lukas Kranzelbinder, der tags auch im Konzerthaus Kontrabass spielte  (!) – Martin Siewert (Gitarre), Joanna Lewis und Diane Pascal mit schönen „Konzerten ohne Orchester“ für zwei Violinen von Werner Pirchner, weiters Josef Novotny (Tasten/Electronics) und Heimo Wallner (Trompete), sowie – last but not least – Katharina Klement mit einem Solo-Recital am Klavier.

Zurück zu den Festwochen – Moment – vorher musste man auch noch zum Augartenspitz (Dienstag, 11.5.) Dort ist der Bauplatz für die Wiener Sängerknaben mittlerweile versperrt, die Bäume sind gefällt: Doch vor der Mauer des öffentlichen Parks luden die verschiedenen Initiativen, u. a. das „Josephinische Erlustigungskomitee“ zu einem Konzert mit Otto Lechner (Akkordeon) und Klaus Trabitsch, ein Saxophonist gesellte sich dazu. Und wie Lechner zum Beispiel „Like a bridge over troubled water“ und andere Songs aus den 60-ern und 70-ern singt und spielt, das rührt zu Tränen, manchmal auch einfach zum Mittanzen und Mitsingen der Refrains(das tat auch Lechners Lebensgefährtin, die Burgschauspielerin Anne Bennent).

Aber am Mittwoch, 12. Mai musste man wirklich zu einem Festwochenkonzert: Unter Chefdirigent  Bertrand de Billy gab es zunächst eine vom RSO Wien eindrucksvoll virtuos gespielte 4. Symphonie von Beethoven (mit einem vielleicht um eine Spur zu schnell gespielten quirligen Finale – wiewohl Beethoven den Satz „Allegro ma non tanto“ überschrieb, aber egal). Nach der Pause dann eine Uraufführung, und was für eine! Es handelte sich um Friedrich Cerhas „Kammermusik für Orchester“, ein Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, verfasst 2005-2008. Das wunderbare nun zur Uraufführung kommende Werk war faszinierend zu hören – es ist eine Auseinadersetzung Cerhas „mit früheren Konstellationen und Fragestellungen …“  Schon der „Catalogue des objets trouvées“ (1970), habe, so Cerha,  in seinem Schaffen eine „quasi singuläre Erscheinung“ dargestellt, ähnlich auch anderes, wie „Les Adieux“ von 2005 für das Klangforum Wien. „Catalogue“ bereits kam ohne Formschema aus. Aber: „Das Gesamtbild meiner Arbeit ist immer von einem bewussten Wechsel von Perspektiven gekennzeichnet und nie dem ideologischen Zwang bestimmter ästhetischer Positionen unterworfen.“ Cerha betont, dass es in seinem neuen Orchesterwerk keinerlei „symphonisches Gehabe“ gibt. Es gehe ihm aber auch hier darum, in den letzten zehn Jahren besonders, dass von der Arbeit möglichst viel vom unmittelbaren Einfall, von der Frische der Vorstellung im Kopf des Autors, erhalten bleiben soll. Und: „Es gibt wenige Tutti-Stellen, aber über weite Strecken Passagen, in denen einzelne Instrumente quasi solistische Funktionen innehaben. Angesichts der filigranen Verästelung, die kammermusikalisches Aufeinander-Eingehen erfordern, habe ich das Stück ‚Kammermusik für Orchester’ genannt“. … Cerha überschreibt sie ausdrücklich auf dem Titelblatt des Autographs in Klammer mit „(mit konzertanter Oboe)“, mitunter wechselt der Oboist auch auf die Oboe d’amore.  Darüber hinaus verwendet er neben den traditionellen Gruppen der Streicher gleichberechtigt Instrumente, die „sonst nur Randaufgaben im Orchester haben  – etwa Orgel, Klavier, Celesta, Cembalo, Harfe, Mandoline, Vibraphon und Marimbaphon.

Eine nicht direkt im Rahmen der Wiener Festwochen, sondern im Rahmen des „19. Wiener Frühlingsfestivals“ stattfindende Reihe von Veranstaltungen im Konzerthaus am Sonntag, den 16. Mai, war Friedrich Gulda (1930-2000) gewidmet, der an diesem Tag 80 Jahre alt geworden wäre. Unter dem Titel „Play Gulda Play“ gab es eine Hommage mit ehemaligen Weggefährten (Limpe Fuchs, Günther Rabl, Martha Argerich, Harry Sokal, den Söhnen Paul und Rico) und prominenten Gästen und in mehreren Konzerten ein  Programm, das von Werken der Wiener Klassik über Eigenkompositionen Guldas bis hin zum Jazz reichte. Von diesen Eigenkompositionen beeindruckte viele am meisten das Wieder- und Neuhören von Guldas „Sieben Galgenliedern“ in dessen Fassung für Mezzosopran, Bariton und Instrumente. Die grandiosen Solisten in diesem Konzert: Agnes Heginger und Willi Resetarits.

Über Bergs „Wozzeck“ im Theater in der Wien (Leitung am Pult des Mahler Chamber Orchestra: Daniel Harding, Inszenierung: Stéphane Braunschweig) konnte man ja viele Besprechungen und Kritiken lesen. Szenische Umsetzung und Hardings manchmal etwas wenig subtiles Dirigat gefielen nicht allen Besuchern, berührten nur teilweise. Grandios jedenfalls die Sänger von Wozzeck (Georg Nigl) und Marie (Angela Denoke), sehr gut auch die meisten anderen Sängerdarsteller (darunter Wolfgang Bankl, Heinz Zednik, Andreas Conrad) und der Arnold Schoenberg Chor. Über Alban Bergs Oper „Lulu“ in der Inszenierung von Peter Stein, die in der vollendeten Instrumentalfassung von Friedrich Cerha zu sehen sein wird, werden wie hier noch berichten. Die Uraufführung der vollständigen Oper war 1979 in Paris. Den größten Teil von Cerhas Arbeit stellte die Instrumentation dar – von den 1326 Takten des III. Akts lagen nur 390 von Berg instrumentiert vor. Nun stellt der III. Akt der „Lulu“ wieder einen zusammenhängenden Organismus von über einer Stunde Dauer dar, aus dessen Musik vor 1979 nur 6 Minuten in den letzten beiden Sätzen der ‚Symphonischen Stücke’ bekannt geworden sind.

Bleibt noch, einen Besuch am Freitagabend, 28.5.,  im Musikverein („Carte blanche à Marino Formenti“) dringend zu empfehlen. In dem in einigen Tagen erscheinenden mica-Interview mit dem Pianisten und Dirigenten, der das Spielen an diesem Abend den Studierenden der Privatuniversität Wiener Konservatorium überlassen wird und – soviel sei verraten – die Werkzusammenstellung ausgehend von „Pierrot lunaire“ Schönbergs „Wiener Brut“, also österreichischen Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts widmen wird, wird man mehr darüber von Formenti lesen können.
Heinz Rögl

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