Musikexpertinnen und -experten, die sich einmal im Jahr treffen, um darüber zu diskutieren, was im Business so läuft? Klingt vertraut, oder? Ja und nein. THE KRISTIANSAND ROUNDTABLE CONFERENCE ist speziell: Eine besondere Hausordnung garantiert, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, obwohl alle Gespräche aufgenommen werden, frei und unabhängig von jeder Firmenpolitik sprechen können. Die Aufnahmen stellen ein wahres Eldorado für alle Musik-Biz-Analystinnen und -Analysten dar. Was fehlte, war, dass jemand all diese Daten und Zitate in einem Buch auswertet. DANIEL NORDGÅRD hat dieses Buch nun geschrieben und es offenbart interessante Einsichten in ein Business, das zu sterben drohte und sich mehr als einmal neu erfand. Markus Deisenberger sprach mit dem Autor über heikle Angelegenheiten, magische Lösungen und das, was nach der Corona-Krise „normal“ sein wird.
Ihr Buch „The Music Business and Digital Impacts“ bezieht sich sehr stark auf die Kristiansand-Roundtable-Gespräche, zu denen seit 2007 eine sehr breit gefasste Gruppe an Leuten aus den Musikindustrien zusammenkommt, um sich über die aktuellen Themen auszutauschen. Diese Gespräche basieren auf den „Chatham House Rules“, die man zusammenfassen könnte mit: Was in der Runde gesprochen wird, verlässt die Runde auch nicht. Oder mit anderen Worten: Nichts wird geleakt.
Daniel Nordgård: Um präzise zu sein: Was dort gesprochen wird, kann das Haus verlassen, aber die Statements dürfen nicht einer bestimmten Person oder Firma zuordenbar sein.
Diese Hausregeln, schreiben Sie in Ihrem Buch, seien die Basis dafür, dass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer frei von der Leber weg und ohne die Angst, zitiert zu werden, sprechen würden. Nun ist das aber genau, was Ihr Buch tut: Es zitiert. Oder war das okay für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, so lange die Zitate anonym sind?
Daniel Nordgård: Es war von Anfang an beabsichtigt, dass die Gespräche von mir oder anderen verwendet werden. Das war eines der Ziele der Roundtables. Wir hatten Teilnehmerinnen und Teilnehmer von politischen und internationalen Organisationen, die genau darauf aus waren. Und Peter Jenner, der den Roundtable ins Leben rief, hat noch, bevor ich eingeladen wurde, verlautbart, dass alle Gespräche aufgezeichnet werden. Er war sich sicher, dass in der Zukunft irgendjemand all das analysieren und versuchen würde, ihm einem Sinn zu geben. Die Herausforderung war aber, dass das Business klein ist und die Leute einander kennen. Ich musste daher sehr vorsichtig sein, wie viel Information ich in den Zitaten preisgab. In manchen Fällen war es notwendig, Teile umzuschreiben, weil die Originalzitate vom Wortlaut zu eindeutig jemand Bestimmtem zuordenbar waren und in unbearbeitetem Zustand alle gewusst hätten, wer das gesagt hat.
Klingt nach einer heiklen Angelegenheit.
Daniel Nordgård: Ja, das war es in der Tat. Eine weitere Herausforderung war, dass nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten eigentlich alle Zugriff auf die Daten haben sollten. Aus den genannten Gründen aber war es unmöglich, allen Zugriff auf die Transkripte zu geben. Es ist einfach zu heikel. Und die Transkripte zu anonymisieren und zu entschärfen würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber trotz all dieser Schwierigkeiten haben neben mir auch zwei andere wissenschaftlich Arbeitende Zugriff auf die Daten erhalten. Ich bin also nicht der Einzige, der damit arbeitet.
„Wenn man die Türen schließt und den Menschen erlaubt, wirklich frei zu sprechen, steigt das gegenseitige Verständnis.“
Die Hausregeln, schreiben Sie in Ihrem Buch, hätten eine Atmosphäre kreiert, die es den Diskutantinnen und Diskutanten ermöglicht habe, fernab ihrer Firmenpolitik zu argumentieren. Glauben Sie, dass das der Schlüssel zu interessanteren und vor allem tieferen Auseinandersetzungen war, als wir sie gemeinhin von Musikwirtschafts-Panels kennen?
Daniel Nordgård: Auf jeden Fall. Ich denke, das war geradezu essenziell. Viel zu viele dieser Diskussionen werden durch Firmenpolitik limitiert. Oft weiß man schon vorher, dass es heikel wird. Wenn man dann die Teilnehmerinnen und Teilnehmer daran erinnert, dass das, was sie sagen, nichts mit der Firmenpolitik oder -philosophie zu tun haben muss und nichts von dem, was sie sagen, nach außen dringen wird, kann man fruchtbare Ergebnisse erzielen. Und: Es ist immer noch besser, wenn jemand sagt, er verstehe deine Auffassung, könne sie aber nicht teilen, als wenn er das Problem von vorneherein negiert. Wenn man die Türen schließt und den Menschen erlaubt, wirklich frei zu sprechen, steigt das gegenseitige Verständnis. Die meisten verstehen auch, wie heikel und komplex manche Themen sind. Trotzdem hatten wir natürlich auch sehr hitzige Auseinandersetzungen, in denen sich die Diskutierenden regerecht anschrien.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Daniel Nordgård: Mir fällt gerade keines ein, aber ganz generell gibt es einfach Themen, bei denen von vorneherein Emotionen mit im Spiel sind. Wenn dann noch kulturelle Unterschiede hinzukommen, z. B. wenn die US-amerikanische Art, Business zu machen, und die europäische aufeinandertreffen, kann das mitunter eine hochexplosive Mischung ergeben.
An diesen Roundtable-Gesprächen teilzunehmen und ein Buch darüber zu schreiben, sind dann doch zwei grundverschiedene Paar Schuhe. Was hat Sie dazu veranlasst, die Gespräche zu transkribieren und ein Buch daraus zu machen?
Daniel Nordgård: Es lief andersrum, um ehrlich zu sein. Ich wurde, wenn Sie so wollen, eingeladen, weil man ein regionales Alibi brauchte. Das heißt, die Veranstalter brauchten eine regionale Finanzierung. Also suchten sie nach jemanden, der das ins Rollen bringen könnte, jemanden, der die Region und das lokale Musik-Business repräsentiert. Ich habe damals Norwegens größtes Musikfestival geleitet, und genau das war der Hauptgrund, weshalb man mich einlud. Zwei Jahre später wurde ich von der Universität, die den Großteil der Kosten der Roundtable-Gespräche trug, gefragt, ob ich nicht meine Doktorarbeit über dieses Thema schreiben möchte.
Das heißt, es war ab dem Zeitpunkt, ab dem Sie teilnahmen, auch geplant, ein Buch darüber zu machen?
Daniel Nordgård: Nicht unbedingt ein Buch, aber die wissenschaftliche Arbeit und eine weitere darauf basierende Publikation. Natürlich hätte ich auch einzelne Artikel darüber schreiben können. Aber mir war schnell klar, dass die Komplexität der behandelten Themen nicht Kleinkram, sondern ein richtiges Buch erforderte.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Kristiansand Roundtable Conference repräsentieren die Musikindustrien im breitesten Sinne: Managerinnen und Manager, Komponistinnen und Komponisten, Vertreterinnen und Vertreter von Independent-Labels, Major-Labels, Indie-Verlagen, Major-Verlagen und Verwertungsgesellschaften mit ihren sehr unterschiedlichen Interessen etc. Glauben Sie, dass diese breite Basis verantwortlich für den „Mangel an Konsens“ war, den Sie konstatieren?
Daniel Nordgård: Die Zusammensetzung und die Einladungsliste haben definitiv was mit dem Mangel an Konsens zu tun, ja. Aber das generelle Problem mit Panels oder Diskussionen ist doch: Entweder man hat eine homogene Gruppe. Dann stimmt man in bestimmten Dingen überein, zum Beispiel im allgemeinen Hass auf Major-Labels, und man endet in kleinen Echokammern, in denen jede und jeder dasselbe sagt. Wenn man aber Fortschritte erzielen will, braucht man eine heterogene Gruppe. Du kannst dich ja weiterhin über Major-Labels beschweren, weil sie nicht das tun, was deiner Meinung nach das Beste für die Musik ist, aber du solltest sie zumindest einladen, damit sie Teil der Diskussion sind und du gemeinsam mit ihnen feststellen kannst, wo die Schwierigkeiten liegen. Das Gleiche gilt für Hightech-Unternehmen, Managerinnen und Manager, Verwertungsgesellschaften. Du musst sie alle einladen, was gleichbedeutend mit einer Menge von Themen und Schwierigkeiten ist. Aber noch mal: Das ist das Wichtigste. Normalerweise, wenn wir uns im Musikbusiness-Zusammenhang treffen, gibt es zwei Schwierigkeiten mit den Panels, und ich habe wirklich viele dieser Panels besucht: Entweder ist es zu homogen oder aber es ist zu heterogen und man hat zu wenig Zeit, um einen Fortschritt zu erzielen. Wenn vier, fünf Leute eine Dreiviertelstunde zusammensitzen, solltest du nicht zu viel davon erwarten. Aber wenn Leute wie in Kristiansand zusammenkommen, die sich lange kennen, im Business mehr als zehn Jahre zusammenarbeiten, dann gibt es da ein echtes Potenzial für Lösungen. Die Leute kennen einander, wissen, wo die bzw. der jeweils andere herkommt und respektieren einander.
In Ihrem Buch schreiben Sie: „Es gab eine Sache, an die ich mich im Besonderen erinnere, nämlich die einander entgegengesetzten und widersprüchlichen Vorstellungen unter den Stakeholdern innerhalb eines Feldes oder in einem bestimmten Zweig der Industrie (wie etwa dem Zweig der Recording-Industries). Das war keine einige und kohärente Industrie oder einheitlicher Industriekomplex, sondern es gab schwerwiegende Konflikte zwischen den Industrien, Firmen und Menschen. Und, noch wichtiger: Diese Konflikte waren nicht nur unterschiedliche Meinungen oder Nuancen in den Vorstellungen und Zielen.“ Das klingt so, als wären sie damals beeindruckt von der Diversität der Meinungen gewesen, die es innerhalb ein und derselben Industrie geben kann.
Daniel Nordgård: Ja, sehr sogar. Die Unterschiede waren auch nicht auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beschränkt, da waren sie ja zu erwarten, sondern sie bestanden auch innerhalb einer speziellen Gruppe. Manchmal vertrat eine Teilnehmerin bzw. ein Teilnehmer eine bestimmte Meinung zu einem bestimmten Thema, und wenig später hörte man die Meinung einer Person an der Spitze des gleichen Unternehmens, die wesentlich moderater und kompromissbereiter war. Das war schon überraschend. Dass man selbst innerhalb derselben Firma auf eine große Meinungsvielfalt stieß. Selbst im gleichen Zweig. Indie-labels etwa sind solch eine höchst diverse Gruppe von Stakeholdern. Von den Indie-Labels zu sprechen macht wenig Sinn, weil sie so grundverschieden sind.
Besonders mochte ich auch das Zitat zur „lähmenden Argumentationskette“: „Wir können uns über Prinzipien nicht einigen, ohne vorher bestimmte Probleme angesprochen zu haben. Diese bestimmten Probleme aber (von denen es einige gibt) scheinen unüberbrückbar, wenn wir uns vorher nicht über einige größere prinzipielle Absichten und Ziele geeinigt haben.“ Das nenne ich ein Dilemma. Gab es auch positive Beispiele, wo man dieses Dilemma hinter sich ließ? Trotz aller Unterschiede sitzt man am Ende des Tages ja im gleichen Boot, oder?
Daniel Nordgård: Es gab schon auch generelle Einigkeit, so einfach und schlicht wie: „Es funktioniert nicht und wir müssen es richten.“ Selbst unter Stakeholdern, die mit gewissen Dingen zufrieden waren, herrschte Einigkeit darüber, dass es eine Veränderung braucht. Es gab auch eine allgemeine Einigkeit über die Notwendigkeit einfacherer Lizensierung. Das war ein wichtiges Thema der Meetings und ist es noch immer: Wir müssen die Lizenzierung umstrukturieren oder ein besser funktionierendes Lizenzmodell für grenzüberschreitende Lizenzierungen schaffen.
Aber wenn es darum geht zu fixieren, wie genau das funktionieren soll, driften die Meinungen auseinander?
Daniel Nordgård: Nicht unbedingt, nein. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn man festlegen will, wer es umsetzen soll. Alle sagen: „Es funktioniert nicht.“ Dann kommt jemand und sagt: „Okay, ich mach’s. Schickt mir alle Daten und ich mach euch das.“ Und dann kommt ein anderer und sagt: „Moment mal, nein. Schickt mir alle Daten und ich mach’s.“ Das Verwertungsgesellschaften-Thema ist eines, das viel zu wenig diskutiert wird, das aber eines ist, das essenziell für die Lösung der grenzüberschreitenden Lizenzgeschäfte ist. Da sieht man die Machtspiele. Ein paneuropäisches Lizensierungsmodell zu schaffen, das die Existenz der Verwertungsgesellschaften garantiert, ist essenziell. Darin sind sich auch alle einig. Aber die großen sagen: „Wir machen euch das.“ Die Kleinen sagen: „Schön und gut. Aber wenn ihr das macht, war’s das für uns.“
Sie sprechen im Buch auch über den Wandel. Während 2007, als sie begannen, der Pessimismus vorgeherrscht habe, habe sich das mittlerweile in eine optimistischere Sichtweise geändert. Was war dafür verantwortlich?
Daniel Nordgård: Spotify. Der große Umbruch im Denken fand 2012/2013 statt. Das war, als wir sahen, dass Geld reinkam. Es ging nicht mehr darum, dir Kurve abzuflachen. Nein, es wurden plötzlich wieder Gewinne eingefahren. Bis 2009/2010 sahen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer keine Lösung, keinen Weg, um ein Business zu betreiben, das den Geldfluss zwischen Fan und Musikerinnen und Musiker bzw. Rechteinhaberinnen und -inhaber herstellt. Die einzigen drei Optionen, die es gab, waren ein werbebasiertes YouTube-Modell, ein firmenbasiertes Subscription-Modell und eine von der Regierung initiiertes Beteiligungsmodell. Das waren die Optionen, bis Spotify zeigte, dass Geld reinkam. Da realisierten die Leute, dass es tatsächlich möglich sein würde, das Business fortführen. Bis dahin hatten wir Statements wie: „Wir sind tot. Es ist vorbei.“ Oder: „Es ist aus. Wir müssen uns alle neue Jobs suchen, weil das nicht mehr funktionieren wird.“
„Die Herausforderung ist, dass wir keine Diskussion mehr darüber haben, ob die Industrie oder überhaupt die Musik noch zu retten ist. Heute geht es darum, einige zu retten, weil einige mehr straucheln als andere.“
Klingt fast wie ein Widerspruch zu einem anderen Zitat, das sich auf die „magische Lösung“ bezog. Da hieß es: „Jeder sucht nach der magischen Lösung, aber das ist ein großer Trugschluss, weil sich die Welt anders dreht. Sie fragmentiert. Und wir suchen immer noch nach der großen allgemeingültigen Lösung. Die aber gibt es nicht.“ Es scheint, plötzlich habe es sie entgegen dieser Einschätzung doch gegeben. Trotzdem lesen wir heute in den Zeitungen, dass, obwohl mehr Geld fließt als noch vor Jahren, davon bei den Artists wenig ankommt. Hat sich die Euphorie, Spotify sei die magische Lösung, in eine Nüchternheit gedreht, die Spotify eher als notwendiges Übel begreift?
Daniel Nordgård: Die Diskussion hat sich geändert. Am Anfang unserer Roundtables haben alle gehofft und die Daumen gedrückt. Einer hat einmal, daran erinnere ich mich gut, die „magische Lösung“ so beschrieben: „Warum zahlt nicht jeder 10 Dollar im Monat und wir lassen sie hören, was immer sie hören wollen?“ Dafür wurde er damals ausgelacht. Wie konnte er sich auch nur so etwas Dummes ausdenken? „Geh bitte“, sagten alle. Heute macht Spotify etwas, was dem, was er damals als die „magische“ Lösung vorstellte, sehr ähnlich ist. Aber warum hat sich die Diskussion geändert? Weil es leichter ist, einen Team-Spirit zu erzeugen, wenn alle am Boden sind, als wenn es nur ein paar sind. Die Herausforderung ist, dass wir keine Diskussion mehr darüber haben, ob die Industrie oder überhaupt die Musik noch zu retten ist. Heute geht es darum, einige zu retten, weil einige mehr straucheln als andere. Das hat sich verändert. Und genau deshalb ist es schwieriger, eine einheitliche Agenda zusammenzubekommen, zum Beispiel, wie sich Streaming nachhaltiger gestalten lässt.
„Eine Hauptaufgabe von Labels hat immer darin bestanden, Risikos einzugehen […]“
Ein Kapitel Ihres Buches ist den Plattenlabels gewidmet, die eine Weile lang wie Auslaufmodelle wirkten, zumindest aus der Sicht einiger privilegierter Bands, wie sie es beschreiben, die mithilfe von Labels groß wurden, aber einen Punkt erreichten, an dem sie sie nicht mehr zu brauchen schienen. Sie sprechen vom Markenwert und der Rolle von Plattenlabels, einen solchen herzustellen. Hat sich die Rolle der Labels geändert? Vor allem auch vor dem schon angesprochenen Hintergrund, dass Streaming zwar Geld ausschüttet, davon aber bei den Künstlerinnen und Künstlern wenig bis gar nichts ankommt? Welche Rolle haben Labels heute? Welche sollten sie haben?
Daniel Nordgård: Ich denke, viele Diskussionen über die Digitalisierung wurden darauf reduziert, Plattenlabels vorzuwerfen, dass sie alles ruinieren. Plattenlabels sind zu einem leichten Ziel geworden, wenn es darum geht, die Schuldigen dafür auszumachen, was schief läuft im Musikbusiness. Einige der größten Probleme wie etwa die grenzüberschreitende Lizenzierung aber haben mit Labels nicht zu tun. Da sind sie diejenigen, die alles korrekt machen. Da liegen die Probleme bei den Verlagen. Die öffentliche Diskussion wurde durch dieses Label-Bashing völlig ruiniert. Eine Hauptaufgabe von Labels hat immer darin bestanden, Risikos einzugehen, entweder ökonomischer Natur oder kompetenznetzwerkbasiert, indem neue Musik und neue Artists kreiert wurden. Eine der Effekte der Wirtschaftskrise, die wir hatten, war, dass weniger Risikos eingegangen wurden, weniger Geld ausgegeben wurde. Ein größerer Teil des Geldes wurde für weniger Veröffentlichungen ausgegeben. Was ich hoffe, ist: Wenn wieder mehr Geld in die Kassen fließt, werden die Labels auch wieder mehr Risiken eingehen, sie werden in Genres und Artists investieren. Ich glaube, das wird passieren. Darauf sollten wir fokussieren und nicht auf die ermüdenden Anschuldigungen, dass sie angeblich die Leute um ihr Geld betrügen. Artists sollten ein breiteres Investment verlangen, und wir müssen gemeinsam einen Weg finden, wie wir das reinkommende Geld an kleinere Labels und ungewöhnliche Genres umverteilen.
Sie glauben tatsächlich, dass nach Krisen, auch nach der aktuellen, mehr Risikos eingegangen werden?
Daniel Nordgård: Oh ja, das tue ich. Ich arbeite gerade an einem Artikel darüber. Eine der Konsequenzen der Corona-Krise wird natürlich sein, dass nicht mehr Geld als vorher zur Verfügung steht. Aber es wird wieder ein größerer Fokus auf das Aufnehmen von Musik gelegt werden. Das wird aufregend zu beobachten sein. Was wird mit dem Live-Geschäft passieren? Im Moment ist es schlichtweg ruiniert, und das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben. Aber was, wenn sich die Dinge wieder zurück ins Normale entwickeln. Wie wird das „Normale“ aussehen? Wird es so sein wie vorher oder wird es eine andere Version seiner selbst sein? Eine schmälere Version? Ich denke, dass das Aufnehmen von Musik wieder mehr Bedeutung bekommen wird, und zwar sowohl für Musikerinnen und Musiker als auch für Konsumentinnen und Konsumenten.
In Ihrem Buch findet sich eine Statistik, welche die Zunahme des Live-Sektors verdeutlicht. Sie reicht von 1996 bis heute. Heißt das, wir werden ins Jahr 1996 zurückgebeamt?
Daniel Nordgård: [lacht]: Ja, und Scooter und viele mehr werden ihr Comeback feiern.
Sehen Sie die europäische Urheberrichtlinie als ein Instrument, um die Rahmenbedingungen nachhaltig zu verbessern?
Daniel Nordgård: Sie führt einige wichtige Dinge ein, wie etwa, dass Technologie-Plattformen verantwortlich gemacht werden können, aber insgesamt ist sie ein wenig verwässert worden. Es hätte noch besser werden können, aber wir werden sehen. Wissen Sie, wenn irgendjemand aus den Zeiten, auf die wir zusteuern, Nutzen ziehen und Geld machen wird, dann sind es die Technologie-Plattformen. Wenn alles online geht, funktioniert alles technikbasiert, und es wird wohl noch eine Weile so bleiben. Genau deshalb ist es umso wichtiger, dass man diese Unternehmen in die Verantwortung nimmt und klare Regeln aufstellt, wie sie sich zu verhalten haben.
Wird es in absehbarer Zukunft eine weltweite Musikdatenbank geben?
Daniel Nordgård: Nein, das wird nicht funktionieren. Aber was wir hoffentlich schon bald sehen werden, ist eine weltweite Infrastruktur für Datenbanken, ein Distributionsdatenbanksystem. Aber die letzten Jahre haben die Idee einer einheitlichen Datenbank unwahrscheinlich gemacht – aus den Gründen, die ich bereits erwähnt habe. Sie können sich einfach nicht einigen, wer das umsetzen wird. Und genau da kommt die Technik ins Spiel: Algorithmen zu entwickeln, die unterschiedliche Datenbanken miteinander kommunizieren lassen.
Es gibt bereits technische Lösungen wie Legitary, ein algorithmusbasierter Dienst gegen Unregelmäßigkeiten, die bei der Abrechnung von Streamingplattformen entstehen können. Wir haben über die europarechtliche Dimension gesprochen. Was bräuchte es aus Ihrer Sicht noch, um das gesamte System zu verbessern?
Daniel Nordgård: Politische Lösungen sind das Herzstück. Es ist wichtig zu begreifen, dass es auf lange Sicht für das gesamte Business und für die Gesellschaft als Ganzes besser sein wird, wenn wir einige Änderungen vornehmen. Zuckerbrot oder Peitsche? Zuckerbrot, bitte. Die Europäische Union sollte keinesfalls die „Digital Single Market Strategy for Europe“ in Bezug auf Musikrechte aufgeben. Das ist heute wichtiger denn je. Aber vielleicht hat die Union ja schon eine Lösung und ich sehe sie nur nicht. Und wir müssen Mittel und Wege finden, die es ermöglichen, dass mehr Musik produziert und distribuiert wird. Und das hat nichts mit technischen Lösungen zu tun. Das ist mehr als alles andere ein politisches Thema, und das war es auch immer schon.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Markus Deisenberger
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Daniel Nordgård ist Assistenzprofessor für Musik, Digitalisierung und Musikbusiness an der norwegischen Universität Agder. Er unterrichtet Musikbusiness im Rahmen des Masterprogramms und leitet die Forschung über internationale Musikindustrien und den Wandel durch den Digitalisierungsprozess. 2013 leitete er ein von der Regierung berufenes Gremium, das sich mit Streaming auseinandersetzte und schrieb einen Bericht über den norwegischen Streaming-Markt. Er war früher selbst sehr aktiv in der norwegischen Musikszene. So arbeitete er beim Quart Festival, das er später selbst leitete, und war bei zahlreichen anderen Events und Festivals in unterschiedlichen Funktionen tätig. Neben seiner akademischen Tätigkeit ist Nordgård auch Mitglied zahlreicher nationaler wie internationaler Boards.
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Daniel Nordgård: „The Music Business and Digital Impacts“
Springer-Verlag GmbH, Berlin 2018
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