Längst gilt er als einer der prominentesten Vertreter der elektroakustischen Musik und daraus weiterentwickelt als Vorreiter des Einbindens aktuellster elektronischer Medien in musikalische bzw. klangliche Prozesse. Leicht übersieht man/übersehen Veranstalter dabei freilich, dass Karlheinz Essl auch ein ebenso beachtliches Œuvre im mit traditionellen akustischen Mitteln erzeugten Bereich aufzuweisen hat – soll heißen Instrumental- und Vokalmusik, die auch ohne allzu aufwendige elektronische Gerätschaften umgesetzt und aufgeführt werden kann.
Dass es dabei oft auch zu Verknüpfungen der beiden musikalischen Zugänge kommt, die er zu einem einzigen verschmelzen lässt, schafft nicht nur spannende Hörerlebnisse, sondern bildet auch einen möglichen Weg bei einem auf „traditionellen“ Hörerfahrungen aufbauenden Publikum allfällige Vorurteile gegenüber den technischen Apparaturen abzubauen – dass, was vorerst als Geräusch empfunden wird, im musikalischen Prozess auch als Musik wahrnehmen zu können.
Mit der Uraufführung von Chemi(s)e ist am 24. März 2010 im Arnold Schönberg Center ein Werk zu hören, das diesem Anspruch ideal entsprechen dürfte, baut es doch auf einem ursprünglich eine Elektrogitarre mit Live-Elektronik verknüpfenden Stück auf, das nun in eine Neuschöpfung für E-Gitarre und Instrumentalensemble transformiert wurde.
Chemi(s)e für E-Gitarre und Ensemble stellt ein Ergebnis von Essls neu erwachtem Interesse an der E-Gitarre dar – einem Instrument, das er als Jugendlicher selbst spielte und erst vor wenigen Jahren wieder für sich „entdeckt“ hat. Das Stück basiert nach der Beschreibung des Komponisten auf dem früheren Sequitur VIII für E-Gitarre und Live-Elektronik (2008), woraus nunmehr ein Ensemblestück geformt wurde. Dabei wurde der ursprüngliche Solopart beibehalten, hier aber von akustischen Instrumenten „umkleidet“, die den Solisten auch optisch auf der Bühne umgeben und die ursprüngliche Live-Elektronik ersetzen:
Klavier Schlagzeug
Posaune E-Gitarre Horn
Bassklarinette Tenorsaxophon
Viola Violoncello
Um die Differenz zwischen den beiden Versionen nachzuvollziehen, ein kurzer Blick auf die ursprüngliche Funktion der Live-Elektronik in Sequitur VIII: Hier spielt das Instrument (die E-Gitarre) über ein Mikrophon in den Computer, der daraufhin aufgrund von Echtzeitalgorithmen einen sehr komplizierten achtstimmigen Proportionskanon entwickelt, der allerdings immer wieder „durchlöchert“ und „ausgehöhlt“ wird. Bei mehrmaligem Spielen entstehen immer andere Zusammenhänge – der Musiker hört immer Ähnliches, aber nie das Gleiche, und erhält dadurch auch immer andere Gelegenheit zur Reaktion. Durch die Hinzunahme des Ensembles übernehmen nun die anderen Instrumente das von der Gitarre vorgegebene, führen es weiter, färben es ein und öffnen Räume. Das Instrumentalensemble stellt somit durchaus nicht nur einen bloßen Ersatz für die Live-Elektronik dar. Es erhält eine gewissermaßen multifunktionale Bedeutung. Indem es die „Kommentare“ zum Gitarrepart liefert, wird es auch zum Kammermusikpartner. Zum anderen bildet es einen Resonator, der die akustische Struktur des Gitarreklangs reflektiert und modifiziert und dadurch virtuelle Klangräume entstehen lässt.
Der Titel Chemi(s)e bezieht sich auf Luciano Berios Werkreihe „Chemins“, in der er einzelne seiner für Soloinstrumente komponierten „Sequenze“ in größere Ensemblestücke „umkomponierte“. In Essls Werk kann das Instrumentalensemble – der Bedeutung des französischen Wortes „chemise“ gemäß – als eine Art Hemd gesehen werden, das maßgenau um den in der Mitte stehenden, „nackten“ Gitarrepart herumgeschneidert wurde.
Durch die Einklammerung des Buchstaben „s“ ergibt sich im Fall von dessen Entfernung noch eine weitere Bedeutung: Chemie ist hier auf eine alchemistische Transformation des Gegenstands bezogen: Bildlich könnte man sich die Verästelung vorstellen, die entsteht wenn man einen Tropfen Säure in ein Glas mit Lackmuslösung fallen lässt. Die verschiedenen Klangcharaktere der akustischen Instrumente und der E-Gitarre verschmelzen miteinander, und die Unterschiede zwischen den einzelnen Instrumenten verschwimmen. Dadurch entwickelt sich eine neue klangliche Einheit, in der die Einzelstimmen schließlich dem übergeordneten Ganzen, dem „Gesamtklang“ untergeordnet werden.
Karlheinz Essl, 1960 in Wien geboren, studierte an der Universität Wien Musikwissenschaft (seine Dissertation verfasste er zum Thema „Das Synthese-Denken bei Anton Webern“) sowie Kunstgeschichte und an der Wiener Musikhochschule Komposition bei Friedrich Cerha und Elektroakustik bei Dieter Kaufmann. Wichtige Einflüsse erhielt er zudem insbesondere von Roman Haubenstock-Ramati und Gottfried Michael Koenig. Er nahm mehrere Jahre hindurch als Composer in residence an den Darmstädter Ferienkursen teil und konnte auch am IRCAM in Paris arbeiten. Als Kontrabassist spielte er sowohl in Kammerensembles als auch in Formationen für experimentellen Jazz. Nach Unterrichtstätigkeit an der Anton Bruckner Privatuniversität Linz wurde er 2007 Professor für elektro-akustische und experimentelle Musik an der Wiener Musikuniversität. Zudem ist er Musikintendant der Sammlung Essl, Klosterneuburg.
Seine Werke werden bei renommierten internationalen Festivals ebenso aufgeführt, wie im Rahmen aller prominenten Veranstaltungsreihen neuer Musik. Neben Instrumentalwerken und Kompositionen mit Live-Elektronik (z. B. Crackle Box) entwickelt Essl auch Realtime-Kompositionen, Improvisationskonzepte, Klangkunst, „site“-spezifische Musik- und Raum-Performances sowie Internet-Projekte. Als Live-Performer tritt er mit seinem selbst entwickelten computer-basierten Meta-Instrument m@ze°2 auf, gelegentlich auch selbst als E-Gitarrist.
Karlheinz Essl: Chemi(s)e für E-Gitarre und zwei Ensemblegruppen
Uraufführung am 24. März 2010
Wien, Arnold Schönberg Center
Stefan Östersjö – E-Gitarre, Ensemble reconsil, Dirigent: Roland Freisitzer
Karlheinz Essl: Chemi(s)e für E-Gitarre und zwei Ensemblegruppen, Ausschnitt © 2009 by Karlheinz Essl
Karlheinz Essl