Modern ´09 – Die zweite Woche (Rückblick)

Modern  ´09 – Die zweite Woche (Rückblick)Die Komponistin Eva Reiter stand bereits am Mittwoch der vergangenen Woche als Interpretin an der Paetzold-Kontrabassiflöte, auch mit einem eigenen Werk und weiteren von anderen im Fokus des Geschehens. Am Donnerstag wurde von ihr mit sehr guten weiteren Interpreten eine eigene  Werkschau im Berio-Saal des Konzerthauses gestaltet. Dschungel Wien startete am Samstag mit zwei Produktionen. Ein weiterer Konzert-Höhepunkt bei Wien Modern fand ebenfalls im Konzerthaus am So., 8. November statt: Das Arditti Quartett spielte Werke von Iannis Xenakis, Bernhard Gander, Hugues Dufourt, Georges Apherghis und Ole-Henrik Moe.

 
Im allein als Raum immer wieder faszinierenden Semper-Depot, in dem sich das Publikum frei zwischen mehreren Podien im hinteren Saal bewegen oder auch Pausen machen und zur Bar gehen konnte, gastierte das belgische Ictus-Ensemble für sein Projekt “Liqid Room” mit den Solisten Eva Reiter, weiters auch der hervorragenden Flötistin Susanne Fröhlich, sowie Donatienne Michel-Dansac (Stimme) und dem Elektroniker Cedric Dambrain.  Ein gelungenes “demokratisches Konzert” der anderen Art, mit großem stilistischen Kontrastreichtum, mit Aperghis-,  Brecht&Eisler-Gesängen, Elektronik und Live-Elektronik mit Trompete (Dambrain), mit einem tollen Stück für die Paetzold-Kontrabassblockflöte und ihre vielfältigen Klappengeräusche (“Seascape, 1994 von Fausto Romitelli), von Philip Glass bis zu Schwitters’ “Ursonate” von 1932.Fokus Eva Reiter

“Alle Verbindungen gelten nur jetzt” war das bereits im Semper-Depot zu hörende Stück von Eva Reiter für (Kontrabass-)Blockflöte, Violoncello, E-Gitarre, Perkussion und CD. Als Legierung zwischen Elektronik und Instrumentalklang könnte man Eva Reiters kompositorische Arbeiten bezeichnen, ein weites Feld und dennoch ein schmaler Grat, immer wieder neu zu erfinden: Alle Verbindungen gelten nur jetzt!

Im bis auf den letzten Platz besetzten Berio-Saal am Donnerstag dann ein veritables Portrait ihrer jüngsten Arbeiten, ein spannender Konzertabend. So nennt sie ihr Stück für Paetzold-Kontrabassflöte und Tape “Tourette”, 2008 eine “veritable Betriebsstörung” – die formale Disposition ist ein interdependentes Spiel zwischen Mensch (Interpret) und Maschine (Tape). Kreatives Chaos auf Grundlage der Komplexitätstheorie schafft sie mit Turntables, 2 Paetzold-Flöten und Schlagwerk (auf diesem werkte Berndt Thurnher)  beim “Bénard-Experiment # 1” – dieses untersucht in den Naturwissenschaften Prozessverläufe von Systemen, die empfindlich von den Anfangsbedingungen abhängen aber dennoch im Einzelnen nicht vorhersehbar verlaufen. “Die Komponistin bringt sich und ihr Material ganz bewusst in einen Zustand, in dem sie in einmal angeschobene musikalische Prozesse nicht mehr eingreifen kann. Das freigesetzte Material organisiert sich im postchaotischen Zustand gleichsam selbst” (Eva Reiter).

 
“kein Anschluss” (2007) ist ein aparter Versuch Telefonnummern zu rekonstruieren und dann auch anzuwählen, die der Literat Rolf Dieter Brinkmann 1973 im Rahmen eines WDR-Projekts anwählte. Heute – 35 Jahre später – erhielt Eva Reiter beim Wählen andere “Antworten”, die Aufzeichnungen dieser bilden die Grundlage der Komposition für Dan Bao, Copicat, Mixerfeedback und Tape [Anm.: Beim für diese Woche geplanten mica-Interview wird mir Eva Reiter Aufschluss geben, was für Tools das denn genau sind. Was eine Paetzold.Kontrabassflöte von einer Silberrohr-Bassflöte unterscheidet, weiß ich mittlerweile besser dank einer Auskunft von Susanne Fröhlich bei einem Gespräch im Café Heumarkt, das nach dem Konzert stattfand und pro Quadratmeter 2-3 Komponisten versammelte.] Ihr Partner bei diesem Stück war Jorge Sánchez-Chiong. Konter (2009) für Kontrabassflöte und Tape schildert einen schnellen Gegenangriff, wie er bei der Selbstverteidigung von Frauen wichtig sein kann.

Soweit die Kontrabassflöte. Eva Reiter spielt aber auch hervorragend Viola da Gamba und komponiert auch damit und für eine solche. Bernhard Gander widmete ihr gemeinsam mit dem E-Gitarristen Yaron Deutsch ein “Rausschmeisserstück”: “Neid” (2009) ist ein wildes Duo, bei dem die Viola da gamba genauso aufheult und simultan mit der E-Gitarre aberwitzige (notierte) Läufe unternimmt. [Wie schön, dass dieses Instrument der Pop- und Rockmusik der 60-er Jahre neuerdings immer wieder mehr zu Ehren kommt, man fühlt sich endlich wieder jugendlicher]. Einzige Kritik an Gander: “Too short!”. In Vampyr! für E-Gitarre setzte sich der Spektralist Tristan Murail 1984 fast ein bisschen parodistisch auch mit den Möglichkeiten dieses Instrumentes in der komponierten Musik auseinander und Yaron brachte diese Musik virtuos zu Gehör. Einzige Kritik (an der Tontechnik): Hätte n o c h lauter sein müssen!!! Spielanweisung von Murail damals: “Der erwünschte Klang gleicht eher dem der Sologitarre eines Carlos Santana, Eric Clapton etc.” Ich würde hinzufügen: “Jimi Hendrix” [von dem besitze ich noch LPs]. Noch eine Komposition, die sich Eva Reiter von einem anderen Komponisten im Programm wünschte: “Conceptio” (2000) für kleine Trommel und UKW-Rauschen von Peter Ablinger. Well done, Mr. Thurner – die Trommelwirbel dürfen nämlich nicht lauter sein als das Rauschen des kleinen UKW-Empfängers.

 
Von und mit Eva Reiter an der Gambe noch: Dr. Best (2007), Turgor (2005), jeweils plus Tape, und die respektable Biofuge (2008) am Ende dieses Abends: Da lacht dem Sohn eines Buchdruckers nämlich besonders das Herz im Leibe. Inspirationsquellen in dem Stück (Version für Viola da Gamba, E-Gitarre und Tape) waren nämlich maschinelle Loops von Generatoren, Rolltreppen und Druckmaschinen [schade, dass es die große lange Rotationsmaschine meiner Kindheit, “Sturmvogel”, auf dem noch in den 60-er-Jahren die “Rieder Volkszeitung” gedruckt wurde, heute nicht mehr gibt]. Na ja, Eva Reiter hatte als Partner bei der Klangrecherche immerhin das Departement of Biochemistry der Max. F. Perutz Laboratories an der Universität Wien [ist die derzeit  hoffentlich von den Studenten besetzt?, die Maschine meine ich.]. Die verwendeten Labormaschinen der Biofuge neben der großen Zentrifuge, die allmählich in Schwung kommt: Beckman Coulter Microfuge 22R, Sorvall-RC-5C Plus Spex Freezer/Mill 6770, KNF Neuberger Laboport; Leybold Divac 2.4L; Eismaschinen, Vakuumpumpen, Kühlschränke.

Der Samstagabend bot ein reichhaltiges Wien-Modern-Angebot. Ich schwankte zwischen Klosterneuburg (Schömer-Haus) und dem Ensemble reconsil, u. a. mit Gérard Griseys “Vortex temporum” (1994-96) und einer Komposition von dem Chicagoer Sidney Corbett (Kykloi, 2009), immerhin einem Schüler György Ligetis in Hamburg, der diesen im “Cafe Haymarket” [Übersetzung für Yaron Deutsch] im Gespräch klar gegenüber diversen österreichischen Urhebern verteidigte. Gut muss auch “bambiland 2009”, eine konzertante Innenraum-Choreographie vom theatercombinat in der Ankerbrotfabrik gewesen sein. Bereits am Nachmittag um 17 Uhr gab es in der Alten Schmiede ein Gesprächskonzert mit dem Ensemble Platypus.

 
Das Arditti Quartett brillierte am Sonntagabend im Mozart-Saal zunächst mit der Österreichischen Erstaufführung des Quartet Movement (2009) von Georges Aperghis, ein in dem Fall substanzvolles, affektfreies Wispern und Flüstern von Harmonien. Ein weiteres Stück von Hugues Dufourt heißt Dawn Flight (2009) und ist gut, aber sehr lang. Nach der Pause wurde es sehr spannend. Vom großen Iannis Xenakis zunächst das Streichtrio Ikhoor (1978), zu Musik gewordene Architektur, dann kam die wunderbare Pianistin Hsin-Huei Huang auf dem Steinway dazu. Zu hören waren “Schöne Worte”  (2007) von Bernhard Gander, in denen sich dieser über einen Neubau alteriert, der ihm die Sicht auf Eisenbahngeleise verstellt (vgl. dazu Daniel Enders Interview mit Bernhard Gander im Standard vom 5.11.). Das tolle Stück wurde mit großem berechtigten Beifall gefeiert, ebenso Ole-Henrik Moe, der als Geiger zum Arditti-Quartett zu seinem Werk “Lenger” (2006) hinzukam. Das war diesmal Moe at his best: Die Geiger eröffnet mit zwar statischen aber rasch in einfömigem Rhythmus vorwärts schreitenden, schabenden “Icons” auf der hohen E-Saite, die anderen Instrumente fallen ein, das klingt manchmal dann wie elektronisch erzeugte und gefilterte Geräuschklänge, wird aber einzig von fünf Streichinstrumenten hervorgebracht.
Heinz Rögl