Mit Köpfler in den Klangpool

„Ich wollte für eine Stunde eine eigene Welt schaffen“ – so beschreibt Martina Claussen ihre neue Komposition „Blackboxed Voices – I am Here“. Der erste Teil des Titels zieht die Verbindung zu den Lautsprechern einerseits und zur Stimme andererseits – zwei der wesentlichen Komponenten des Werks. Letztere ist für Claussen insofern von großer Bedeutung, als sie durch ihre Ausbildung im Bereich des Gesangs (die Komponistin studierte Konzertfach Gesang an der MUK – Musik und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien sowie Gesangspädagogik an der mdw–Universität für Musik und darstellende Kunst Wien) eine tiefe Verbundenheit mit der menschlichen Stimme in den künstlerischen Prozessen begleitet. Mit „I am Here“ nimmt sie Bezug auf das Hier und Jetzt, die zeitliche wie die örtliche Ebene, die sie in ihrem Werk „durch das Akusmonium aufbrechen“ möchte.

Nach ihrer Auszeichnung mit dem „Publicity Preis“ des SKE Fonds 2020 nutzte Martina Claussen ihre durch das Preisgeld gewachsene künstlerische Freiheit dazu, ein neues Projekt in Zusammenarbeit mit Künstlerinnen anderer Sparten zu beginnen. Über etwa ein Jahr sammelte sie sowohl in der Stadt als auch in der Natur verschiedene Klänge, die für sie zu so etwas wie einem „Klangpool“ wurden, aus dem sie in der Entstehung ihres neuen Werkes schöpfen konnte und sich von den verschiedenen Klängen leiten ließ.

Viele dieser Klänge entstanden aus Claussens Faszination für die Desemantisierung der menschlichen Stimme, weshalb sie auch verschiedene Stimmaufnahmen, die neben ihrem Klang keine Bedeutung in sich tragen, aufgenommen hat. Diese stammen von den Performenden Alex Franz Zehetbauer, Brigitte Wilfing, Tobias Leibetseder und Patric Redl. Auch sonst haben sich die Performenden intensiv am Entstehungsprozess des Werks eingebracht, insbesondere im Probenprozess lieferten sie kreative Impulse.

Solch partizipative Ansätze im künstlerischen Schaffen stehen auch in Einklang mit Claussens künstlerischer Selbstwahrnehmung. Ihr neues Werk ist als ein weiterer erforschender Schritt in eine noch lange nicht erschöpfte Ästhetik der Komponistin zu sehen, in der sie „noch so viel Raum [sieht], mit Menschen auf der Basis von Musik in Kontakt zu treten“. Martina Claussen spricht dabei von vier Säulen ihrer „performativen Klanginstallation“: der Musik, der Lichtarchitektur, dem Raum und der Körperlichkeit der Performance. Die Entstehung des Werkes fußt also auf einer engen Zusammenarbeit Martina Claussens mit Conny Zenk, der Gestalterin der Lichtarchitektur, den vier Performenden und Thomas Gorbach, dem Kopf hinter dem „Akusmonium“, einem seit 2010 entstehenden „Instrument zur Realisierung ephemer dynamisch-bewegter Klangskulpturen“, das eine Art Lautsprecher-Ensemble ist und in Claussens Musik eine zentrale Rolle spielt.

Als Ort der Uraufführung wurde das Semperdepot im Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien gewählt. Der Raum mit seiner außergewöhnlichen Höhe und Vielzahl an Säulen, tritt dabei in Interaktion mit der künstlerischen Performance der Ausführenden. Schließlich werden 32 Lautsprecher, zwei Kontaktmikrofone und zwei weitere Mikrofone im gesamten Raum installiert. Die verwendeten Instrumente, wie etwa die Lautsprecher oder Mikrofone mit ihren unterschiedlichen Frequenzgängen und Klangfarben vergleicht Komponistin Martina Claussen mit der Vielfalt an Klängen eines Orchesters.

Die Performance selbst setzt sich nicht nur durch die Wiedergabe von Tonaufnahmen, sondern auch durch den improvisatorischen Umgang mit ihnen zusammen. Die Komponistin, die unter anderem einen „Lehrgang für Elektroakustische und Experimentelle Musik“ (ELAK) an der mdw absolvierte, vereint dabei die technischen Möglichkeiten des Mischpults mit den raumakustischen Besonderheiten des Semperdepots und erzeugt somit ein „Spiel mit Nähe und Distanz“. Eine weitere Besonderheit des Werkes ist die Verwendung von unterschiedlichen Motiven, die im Laufe des Stückes wieder aufgegriffen und neu verarbeitet werden. Dadurch entstehe eine „dystopische Grundstimmung“, so die Komponistin. Wenngleich der Einfluss des Russland-Ukraine-Konflikts zum Zeitpunkt der Werkgenese eine nicht unwesentliche Rolle spielte, gibt Claussen keine Deutung vor.

Constanze Gepart, Marie-Rose Ströbinger, Kolja Porschke