micafocus: “Avantgarden – Motor für gesellschaftlichen Wandel?” (Protokoll einer Diskussion im mica)

Im Rahmen des vom mica-music austria in Kooperation mit ViennAvant veranstalteten Workshops sollte der Frage nachgegangen werden, welche Rolle der der Kunst – auch der Musik – innerhalb der heutigen Gesellschaft zukommt. Sind Avantgarden Seismograph für Kommendes? Wenn ja, wie sehen sie heute aus? Sorgen sie für Erneuerung? Legen sie den Finger auf die Wunde?  Oder gibt es sie nicht mehr? Auf dem Podium, das Renata Schmidtkunz (ORF) moderierte: Der Autor Franz Schuh, die Kunsthistorikern Iris Meder, die Pianistin und Komponistin Manon-Liu Winter, der Komponist Volkmar Klien, der Soziologe und Historiker Peter Becker.

ViennAvant ist eine multidisziplinäre Arbeitsgruppe, die sich auf Initiative von Walter Rohn und Helga Köcher im Institut für Stadt- und Regionalforschung der OEAW konstituiert hat und sich die Erforschung und Bearbeitung der Wiener Avantgarden 1945 -1975 in verschiedenen Modulen zum Ziel setzt. Debatten im Rahmen einer Gesprächsreihe fanden seit 2006 etwa im Künstlerhaus oder in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur in den Bereichen Künstlervereinigungen in der bildenden Kunst, Bauen, Literatur statt. Nun in Kooperation mit dem mica also die Frage auch im Bereich der musikalischen Avantgarde.

Bevor über die Debatte in der Stiftgasse bericht wird, vielleicht zuvor der Versuch einer Begriffsklärung, gar nicht „avantgardistisch“ unter Zuhilfenahme von wikipedia:
 „Der Begriff Avantgarde stammt ursprünglich aus dem Sprachschatz des französischen Militärs und bezeichnet die Vorhut, also denjenigen Truppenteil, der als erster vorrückt und somit zuerst Feindberührung hat.

Im übertragenen Sinn werden unter „Avantgarde“ politische und künstlerische Bewegungen zumeist des 20. Jahrhunderts verstanden, die eine starke Orientierung an der Idee des Fortschritts gemeinsam haben und sich durch besondere Radikalität auszeichnen.“ Aha. Unterschieden wird über die verschiedenen Kontexte. In der Politik wurde der Avantgardebegriff bereits von Karl Marx auf die Arbeiterklasse angewandt, von Lenin (teils leider) dann auch auf den Führungsanspruch der Partei. In der Kunst waren Avantgarden im 20. Jahrhundert in allen Kunstsparten wichtig. „Als musikalische Avantgarden gelten Stilrichtungen der E-Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die oft unter dem Schlagwort Neue Musik zusammengefasst werden. Gemeinsam ist ihnen der Bruch mit traditionellen Hörgewohnheiten, etwa durch die breite Verwendung von Dissonanzen und unregelmäßigen Rhythmen sowie durch Atonalität.

Beispiele für musikalische Avantgarden sind die Musik des Expressionismus, die Zwölftonmusik, später die Serielle Musik, die Aleatorische Musik, die Klangkomposition, die Minimal Music, die Elektronische Musik und die aus aufgenommenen Klängen zusammengesetzte Musique concrète, deren Elemente sich später auch im Noise wiederfanden. Außerhalb des Bereichs der E-Musik stellt die frei improvisierte Musik des Free Jazz mit die bedeutendste musikalische Avantgarde der Nachkriegszeit dar.“ Vergessen hat wikipedia auf die auch die österreichischen Komponisten prägende sogenannte „Darmstädter Avantgarde“ der fünfziger und sechziger Jahre. wiki resümiert unter dem Aspekt der „Postmoderne“: „Weiterentwicklungen scheinen in viele Richtungen möglich, es gibt keinen Konsens mehr darüber, wohin es nach vorne geht. Das Wort Avantgarde verliert dadurch seine ursprüngliche Bedeutung und erscheint zur Beschreibung gegenwärtiger Kunst kaum noch angemessen.“ Na gut.

Und was war die österreichische Nachkriegsavantgarde? Die ausgewiesenen oder nach dem Nazismus nicht mehr eingeladenen Künstler? Die Wiener Gruppe, die Provokationen der „Uni-Ferkelei“? Muss man provozieren, um als Avantgardist(in) zu gelten? Kann man das heute noch?

Die Podiumsdiskussion

Nach Vorstellung des Themas und der Teilnehmer äußerte Franz Schuh, der belesene Essayist, Philosoph und Lehrbeauftragte an der Angewandten, dass er gegen eine Vereinheitlichung „der“ Kultur eher skeptisch sei. Auch gegen die Ansicht, sie könne Motor der Gesellschaftsveränderung oder Erneuerung sein. Es gibt durch sie keine Innovation, die die Krise „aus den Angeln hebt“. Er hat sich viel mit der  „Wiener Gruppe“ um Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener befasst und könne am ehesten sagen, dass deren Gemeinsamkeiten in den spezifischen „Wiener“ Formen und Wahrnehmungen liegen. Jedenfalls: Es gibt nicht „eine“ Avantgarde. Und zum Verhältnis Minderheit/Mehrheit in dem Sinn, dass eine Minderheit den „Bürger“ provoziert hat: Zur Avantgarde wird man erst, wenn die Mehrheit diese als solche anerkannte.

Manon Liu-Winter würde sich nicht in die 70-er Jahre einreihen. Aber in eine Haltung des Weitergehens – „ohne Wissen wo was hinführt“. Wobei auch Konservatives irgendwie notwendig sei. Und die gewordene Avantgarde gelte teilweise als schon gestorben, bei vielen (auch manchen ihrer Studenten) hat man das Gefühl, es sei überhaupt nichts angekommen.

Volkmar Klien verwies auf die Situation der Musik in den sechziger Jahren und die Rückwärtsgewandtheit in den Konzertsälen Europas, den Umgang etwa mit Webern in Wien. Aber die Musik sei doch seit Haydn nach vorwärts treibend.

Franz Schuh: Avantgardisten hatten durchaus eine politische Funktion. Virtuosität allein genüge nicht, Kultur sollte ins Herz der Konvention treffen, fanden sie.

Peter Becker, Zeitgeschichte-Professor in Linz und zuvor etwa auch wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen,  fragte: „Ist Avantgarde Vorbild für ‚Fortschritt’? Oder einfach Grenzüberschreitung. Die Neurowissenschaften wären auch Avantgarde.“

Iris Meder, Forscherin am Institut für Landschaftsarchitektur, verwies darauf, dass der Begriff „Vorhut“ auch von der faschistischen Bewegung angewandt wurde. Kann Architektur Menschen verändern, fragte sie anschließend. Sie untersuchte die Ansprüche von Bauhaus, der Wiener Architektur ab Loos, der „Moderne“ und befand, den Anspruch auf „totale Veränderung“ hätte es nie gegeben.

Was ist „Ideologie“? wurde anschließend diskutiert. – Marxisten verstehen unter Ideologie notwendiges falsches Bewusstsein. Was wäre ohne Stalinismus aus der russischen Avantgarde geworden? Klar: Ästhetizismus als radikale Ästhetik erzeuge Feindschaften. Avantgarde hatte eben auch manchmal Militaristisches an sich.

Renata Schmidtkunz stellte (endlich) die Frage: Warum reden wir überhaupt von „Avantgarde“?  – Schuh konterte: „Weil wir Spitzenleistungen wollen.“ Manon Liu Winter wandte ein: Es gebe heute mehr Komplexität. Ein Einzelner könne heute gar nicht mehr „Avantgarde“ sein. Volkmar Klien: Genau. Es wird  immer schwerer heute, mit einer Botschaft durchzukommen. Die Strategie der Aufmerksamkeit hat sich verändert. Franz Schuh: Das Schöne an der Ex-Avantgarde war, man wollte anders sein als die Mehrheit.

Heute gibt es manchmal einzelne Momente:  Der Schriftsteller Rainard Goetz [Anm.: u. a. Spex, Vanity Fair; beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis ritzte er sich 1983 vor laufenden Fernsehkameras während einer Lesung mit einer Rasierklinge die Stirn auf, ließ das Blut über seine Hände und sein Manuskript laufen und beendete die Lesung schließlich blutüberströmt] kann auch heute noch provozieren, Harald Schmidt lädt ihn in seine Show ein und fragt ihn, wen er aller beschimpft, beleidigt, provoziert habe. Ein anderes Beispiel sei der öffentlichkeitswirksame Konflikt von Martin Walser mit Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gewesen.

Volkmar Klien versuchte noch einmal, die musikalische Avantgarde zu beleuchten. Zum Konventionellen in der Musik habe sie immer ein Mißverhältnis gehabt. In der amerikanischen Musik (Jazz) habe sie aber bewiesen, dass sie auch „massentauglich“ sein könne. Franz Schuh: Zur traditionellen Avantgarde „gehört(e) dazu nicht dazugehören“. Derzeit sei der Avantgardebegriff „blockiert“. Soziologe Peter Becker äußerte einen Einwand zur „Protesthaltung“ – auch ein Avantgardist sei und war gezwungen, irgendwo (etwa bei einem Verlag) anzudocken. Schuh resümierte dennoch: Gerhard Rühm sei „der letzte Avantgardist“. Peter Weibel habe das Verhältnis Bohemenien-Bürger-Makler erläutert: Der Makler sagt „das ist Kunst“. Und: Die „Frankfurter Schule“ wurde nur etwas, weil sie oben nicht „unterging“ – das „Untergehen“ ist immer auch Teil der Heldengeschichte. Renata Schmidtkunz bestätigte das auch durch ihre Erfahrungen mit Medien – wer wird porträtiert, wer nicht.

Manon Liu Winter: Wo ist künstlerische Kreativität möglich? In welchen Genres? Sind „Hacker“ Kreative? Wer lernt in 20 Jahren noch Klavier? Es gibt Generationsunterschiede, es gibt nicht mehr die Grenzen zwischen Genres. Schuh: Georg Simmel sagte, Emotionalität kann man nicht so rasch ändern. Und schon Baudelaire – er war Avantgardist – forderte: Kein Vermischung der Kunstarten! Und die „Provokation“ der Hacker und ihre Verehrung sei auch nichts Neues. Außerdem: Ist es überhaupt notwendig voranzuschreiten? Ein Einwand aus dem Publikum: Die Themenstellung „Gibt es noch eine Avantgarde“ sei verfehlt, man sollte in dieser illustren Runde doch lieber gleich die Funktion von Kunst und Kultur heute, ihre gesellschaftliche Verantwortung auch für ein Umdenken, ihre Verantwortung für Öffentlichkeit diskutieren. Franz Schuh bestätigt: Außerhalb eines (grundlegenden) Antagonismus ist der Begriff der Avantgarde ohne Funktion Aber: Sobald es Verbote gibt, wird er wieder akut.

Renata Schmidtkunz erläutert noch einmal das Interesse der Avant-Initiatoren – die  „Interdisziplinarität“ der Künstler – und stellt die Schlussfrage: Was ist Avantgarde heute unter den geänderten Verhältnissen. Sie wird der Reihe nach zu beantworten versucht. Becker: Ein Avantgardist ist man, wenn man als solcher benannt wird, andererseits stellt sich immer die Frage nach der  künstlerischen Verantwortung.  Manon Liu-Winter: Es gab heute mehrere Definitionen, gehört Avantgarde zum „alten Eisen“, ist sie überholt? Es gibt so etwas noch, aber es dauert. Meder: Wo Avantgarde und bildende Kunst hin soll? – (Achselzucken). Vor 100 Jahren wusste man, wovon man weg will. Franz Schuh: Der „Kulturkampf“ zwischen Neuen und Alten Medien ist für mich „faszinierend zu beobachten“. Die Frage nach dem Urheberbereich! Und der „Öffentlichkeit“. Wird durch die Neuen Medien systematisch ruiniert. „Lebensteilnahme“ und die Pseudovitalität des gesellschaftlichen Treibens. Und was ist ein „Meisterwerk“?
Volkmar Klien: Wo ist vorne? – „Der Nase nach.“ (Protokollant: Heinz Rögl).

Volkmar Klien / Komponist
Volkmar Klien studierte Philosophie und Komposition in Wien. 1997 übersiedelte er nach London und war dort als Künstler freiberuflich tätig. 2002 kehrte der Komponist nach Wien zurück und nahm eine Lehrtätigkeit an der Universität für Musik und darstellende Kunst an. Es folgte die Gründung des eigenen Plattenlabels aufstieg av und die Produktion von drei CDs mit eigenen Werken. Zusammenarbeit mit Nick Rockwell, Thomas Grill, Michael Klien, Wei-Ping Lin, Stump-Linshalm u. a. Aufführungen bzw. realisierte Projekte am ZKM Karlsruhe, bei wien modern, Dublin Fringe Festival, Ballett Frankfurt, Volksoper Wien, Huddersfield Contemporary Music Festival u. a.

Franz Schuh (Autor)
Franz Schuh studierte Philosophie, Geschichte  und Germanistik in Wien und schloss das Studium mit der Promotion ab. 1976–80 war er Generalsekretär der Grazer Autorenversammlung, dann Redakteur der Zeitschrift Wespennest und Leiter des essayistischen und literarischen Programms des Verlags Deuticke. Er arbeitet als freier Mitarbeiter bei verschiedenen Rundfunkanstalten und überregionalen Zeitungen und als Lehrbeauftragter an der Universität für angewandte Kunst Wien.

Iris Meder / Kunsthistorikerin
Iris Meder studierte in Stuttgart und Wien Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft. Seit 1994 ist sie freiberuflich tätig. Meder ist Vorstandsmitglied des ÖGFA (Österreichische Gesellschaft für Architektur) und des Vereins für Geschichte der Stadt Wien. Seit 2008 ist Meder als Forscherin am Institut für Landschaftsarchitektur tätig.

 

Manon-Liu Winter / Pianistin.
Manon-Liu Winter ist Komponistin, Improvisatorin und Interpretin zeitgenössischer Musik. Darüber hinaus ist die Pianistin Organisatorin der “Wiener Tage für zeitgenössische Klaviermusik”. Zudem ist Winter als Dozentin für Klavier und als Lehrende für Improvisation und Didaktik der Neuen Musik und Improvisation an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien tätig.

 

Peter Becker /Soziologe und Historiker.
Peter Becker ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Johannes Kepler Universität Linz. Er studierte Geschichte, Soziologie und Kunstgeschichte an der Universität Graz und war anschließend als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen und am Deutschen Historischen Institut in Washington, D. C., tätig. An der Universität Göttingen habilitierte er sich im Jahr 2000 mit einer Arbeit zur Geschichte der Kriminologie als Diskurs und Praxis. Als Professor für Central European History am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (1997-2005) entwickelte er ein neues Forschungsprojekt zur Kulturgeschichte der Verwaltung.

Moderation: Renata Schmidtkunz / ORF
Renata Schmidtkunz begann ihre journalistische Laufbahn 1989 als Redaktionsassistentin beim Bayerischen Rundfunk. 1990 wechselte sie als sendungsverantwortliche Redakteurin, Moderatorin und Filmemacherin in die Abteilung Religion des ORF/Fernsehen. 1995 gehörte sie zum Gründungsteam der ORF Erfolgssendung “kreuz&quer”, welcher sie von 1997 bis 2001 auch moderierte. Neben ihrer Fernseharbeit war sie auch als Sprecherin im ORF-Kultursender Ö1 tätig. 2007 wechselte Schmidtkunz in die 3sat-Redaktion des ORF, wo sie als Regisseurin internationale Dokumentationen gestaltet. Seit Jänner 2008 ist sie eine der 7 Gastgeberinnen und Gastgeber des neuen “CLUB 2”.

 

Die Diskussions- und Vortragsreihe micafocus /Kunstmusik und Öffentlichkeit wird unterstützt durch die Abt. für Wissenschafts- und Forschungsförderung der MA7 Wien.

 

Eine Kooperationsveranstaltung von mica -music austria und ViennAvant