mica-Interview mit Wolfgang Seierl

“Die kleinen Schwingungen müssen hörbar bleiben!” – Wolfgang Seierl, Gründer und Leiter des Komponistenforums Mittersill sowie Vorstandsmitglied des mica – music austria, über grenzenlose Kultur, kleine Radieschen und Minderheitenrechte. Das Interview führte Markus Deisenberger.

Der Antrag des Hauptausschusses zur Abhaltung der parlamentarischen Enquete “Zukunftsmusik” geht von einer gut ausgebauten musikalischen Infrastruktur aus. Nur durch die Änderung der gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen habe sich Handlungsbedarf ergeben. Ist das tatsächlich so? Ist die Infrastruktur tatsächlich gut ausgebaut und bedarf es nur einer leichten Anpassung oder muss der Hebel nicht vielmehr an allen Ecken und Enden angesetzt werden?
Das kommt ganz drauf an, aus welcher Sicht und Haltung man das betrachtet. Die traditionellen Institutionen funktionieren hierzulande gut. Die haben ihren Wert nicht nur im Bereich der Kultur, sondern auch im Tourismus gefunden und sind dadurch gut gefestigt. Die sind fest im Sattel, während eine lebendige Kultur oft schlechte Chancen hat, weil es immer schwer ist, sich gegen festgefahrene, einzementierte Strukturen zu behaupten.

Das heißt, es besteht eine Diskrepanz zwischen etablierter Hochkultur und Underground?
Nicht nur. Es ist eine Diskrepanz zwischen dem, was sich aus welchen Gründen auch immer wirtschaftlich rechnet und dem, was nie oder nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen erfolgreich sein kann. Das heißt, dass es in einer Zeit, in der die politischen Weichenstellungen eindeutig in Richtung Wirtschaft gehen, Initiativen, die nicht wirtschafts-, sondern kunstorientiert und innovativ sind und Neues versuchen, was noch keinen Markt haben kann, ins Hintertreffen geraten. Das Neue befand sich immer in Konflikt mit der Gesellschaft. Offiziell sagt man dann zwar, man habe keine Berührungsängste, aber das Neue, das nicht wirklich sichtbar sein kann, ist grundsätzlich nicht wirklich präsent genug, sodass sich ein großer Unterschied zwischen öffentlich präsenter Kultur und der Vielfalt ergibt, die diese Kultur letztlich doch ausmacht, allerdings immer mehr zurück gedrängt wird.

Ist es nicht schon zu spät für eine solche Korrektur?
Ich glaube nicht, dass es schon zu spät ist. Aber ich glaube, dass einiger Handlungsbedarf besteht.

Es gibt also einiges an Musik, das zwar nicht sichtbar ist, das aber, würde man es sichtbar machen, auch Erfolg hätte?
Nicht alles muss und kann wirtschaftlich erfolgreich sein. Es gibt ganz bestimmte Dinge wie die Salzburger Festspiele und die Wiener Festwochen, die, obwohl sie erfolgreich und auch eine touristische Größe sind, trotzdem noch Subventionen brauchen, um bestehen zu können. Wenn aber sogar jene, denen die größte Aufmerksamkeit zuteil wird, Unterstützung brauchen, was sollen dann erst die sagen, denen jede Aufmerksamkeit fehlt. Es gibt vielmehr Werte, die unabhängig von rechnerischen Überlegungen bestehen und die wir nicht verlieren dürfen. Bestimmte Dinge werden sich nie tragen.

Ist es in Zeiten des globalen Geschmacks schwieriger geworden, für diese Dinge Gehör zu finden?
Das glaube ich nicht. Globalisierung ist ein Schlagwort. Globalisierung hat es immer schon gegeben. Geistige, kulturelle Strömungen haben nie Grenzen gehabt. Dass sich Kulturen und Religionen gegenseitig beeinflussten und um die Welt gingen, hat es vor zweitausend Jahren auch schon gegeben, nur dass es damals nicht per Internet und nicht so schnell passierte. Aber grundsätzlich hat sich die Kulturvermittlung nicht so geändert, dass man Angst haben müsste, die neue Weltordnung würde Kultur unmöglich machen. Ich glaube, gerade heute brauchen wir diese unzähligen Foren und Informationsquellen unglaublich dringend, weil sie zur Vermittlung neuer Inhalte viel wichtiger sind als die einzementierten Institutionen. Wenn die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft auch auf eine kulturelle Weiterentwicklung zielt, dann müssen vor allem diese kleinen Schwingungen hörbar bleiben. Sie brauchen nur entweder Verstärkung oder eine entsprechende Stille, in der man sie wahrnimmt. Und diese Räume müssen geschaffen und erhalten werden. Im Klartext heißt das: Räume, die nicht viel kosten, zur Verfügung stehen und in denen Künstler ohne großen Aufwand und ohne darauf mehrere Jahre warten zu müssen, Sachen ausprobieren und auf ein Publikum treffen können.

Darüber hinaus muss es Labels und Verlage geben, die diese Kunst, obwohl man sie nicht zu Zehntausenden verkaufen kann, unterstützen und abbilden. Derlei hat es immer gegeben und muss es auch weiterhin geben. Es gab schon unzählige Bücher, die zum Zeitpunkt ihres Entstehens niemand kannte und erst wesentlich später zu Bestsellern wurden. Wir würden uns jedenfalls,  wenn wir das weiter so handhaben, dass wir etwas, weil es vordergründig unscheinbar ist, als wirtschaftlich nicht interessant und daher auch nicht künstlerisch verfolgenswert abzutun, viel vergeben.

 

 

Sie haben gesagt, vieles muss gar nicht wirtschaftlich sein. Erklärtes Ziel der meisten Komponisten ist es nun aber, irgendwann ausschließlich von dieser ihrer Tätigkeit leben zu können. Fakt ist, dass letztendlich viel zu wenige davon tatsächlich leben. Werden Komponisten heute ausreichend auf die Marktsituation, die sich gerade in den letzten Jahren dramatisch geändert hat, vorbereitet?
Eigentlich überhaupt nicht. Das ist das große Dilemma, in einer Zeit, in der sich die Dinge derart radikal ändern. Dass man nämlich viel zu lange noch in alten Mustern und Geschäftsmodellen denkt. Die Mehrzahl der Komponisten hat resigniert oder denkt noch immer in diesem Modell: Ich komponiere etwas und dann kommt jemand, der dafür zahlt. Wenn das nicht mehr funktioniert, ziehe ich sich auf eine Insel zurück und schreibe für die Schublade. Ich glaube, dass das, was heute geschrieben und produziert wird, der Gesellschaft verloren geht, wenn es nicht auch entsprechend be- und gefördert wird. Ebenso wie wissenschaftliche Erkenntnisse in Medizin und Philosophie der Menschheit helfen, entscheidend weiter zu kommen, geht es auch in der Kunst darum, Standpunkte, die uns in einer bestimmten Zeit wichtig erscheinen, entsprechend sichtbar zu machen.

Da stellen sich aber schon die Produzenten selbst dagegen, weil sie über zu wenige Informationen über die Funktionsweisen des heutigen Marktes, wie sie agieren müssen, damit ihre Informationen werthaltig bleiben, verfügen. Es gibt Universitäten, die mit sehr viel Geld aufrechterhalten werden, um Leute für einen Beruf auszubilden, den es in unserer Gesellschaft so eigentlich gar nicht mehr gibt. In der bildenden Kunst ist das genauso. Die wenigsten der dort Ausgebildeten haben überhaupt vor, Künstler zu werden. Das ist schon traurig.

Kann es denn überhaupt Aufgabe eines Konservatoriums sein, neben den künstlerischen auch das juristische und ökonomische Know How, das man heute braucht, um am Markt zu bestehen, bereitzustellen oder muss man die Meinung Erhard Buseks vertreten, dass Praxisbezogenheit an staatlichen Universitäten eigentlich gar nichts mehr verloren hat, sondern in die FHs gehört?
Da muss man klar trennen. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. FHs sind Ausbildungsstätten, die extrem stark mit der Wirtschaft zusammen arbeiten. Das heißt umgeehrt nicht, dass ich als Musiker nicht lernen dürfte, welches Know How mein Beruf verlangt  – nicht unbedingt im wirtschaftlichen Sinne, sonder rein auf mein Selbstmanagement bezogen. Das Wissen ist doch früher auch weiter gegeben worden. Aber die Information, wohin sich ein Geiger wenden muss, stimmt halt einfach nicht mehr. Und diese Strukturen gibt es auch gar nicht mehr. Wenn sich etwas aber stark verändert, müssen sich auch die Informationen darüber stark verändern, sonst brauche ich die Universitäten gar nicht mehr.

Wer aber soll diese Informationen verbreiten. Die klassischen Universitäten oder muss man neue Stellen schaffen?
Es gibt ja bereits an vielen Kunstuniversitäten Ansätze dazu, den Künstlern Selbstmanagement näher zu bringen, den Berufseinstieg zu erleichtern. Auch das mica bietet ein solches Curriculum (DMET, Anm.) an, in dem es darum geht, wie man am besten mit den heutigen Medien umgeht. Es gibt ja nach wie vor auch noch junge Leute, die dort Defizite haben. Je besser ich auf einem Gebiet bin, desto mehr Defizite habe ich unter Umständen auf einem anderen Gebiet. Diese Defizite gilt es aufzufüllen, wenn ich Chancen haben will. Die Antwort auf die Frage ist aber schwer. Ich glaube auch nicht, dass es ein Patentrezept geben kann in einer Zeit, in der es den Beruf eines Künstlers offiziell ja gar nicht mehr gibt. Man muss sich überlegen, ob man Kunstuniversitäten überhaupt noch braucht. Wenn man diese Überlegung bejaht, dann muss man aber die Leute, die dort ausgebildet werden, so auf das Berufsleben vorbereiten, dass sie als ausgebildete Komponisten bestehen können. Sonst ist das Vorhaben widersinnig und eine Verschwendung von Steuergeldern. Wenn ich nur noch Musiker für die großen Orchester ausbilde, dann bewege ich mich hin zum Status einer Fachhochschule. Wenn ich aber Künstler ausbilden will, dann muss ich sie auch ausbilden, um verrückte Dinge tun zu können, die mit der Gesellschaft in Konflikt geraten, und gleichzeitig müssen diese Künstler auch in der Lage sein, Geschäftsmodelle zu entwickeln und ihre Dinge im Kontext sichtbar zu machen. Es geht um Know How, Vernetzung, das Nutzen von anderen Quellen wie Datenbanken und Informationen, die andere zur Verfügung stellen. Es geht um eine Dynamik, die noch nicht so ist, wie sie sein soll. Es hat sich schon einiges geändert, aber es ist noch sehr viel zu tun.

Stichwort Dynamik: Sind Verwertungsgesellschaften, so wie sie derzeit in Deutschland und Österreich existieren, erhaltenswert?
Im Grunde auf jeden Fall. Es geht aber auch hier wieder darum, dass sie die Interessen der Künstler bestmöglich vertreten müssen und auch zur Vielfalt stehen, die auf dem Markt existiert. Markt bedeutet ja nicht nur das, was tatsächlich verkauft wird, sondern alles, was angeboten wird. Auch die kleinen Radieschen, die niemand kauft und am Ende des Tages wieder mitgenommen werden, sind Teil des Marktes. Es gibt ja auch Förderungsmaßnahmen, die schon Tradition sind und die in Hinblick auf künstlerische Produktion und nicht nur auf Wirtschaftlichkeit funktionieren.

 

 

Das heißt, man müsste vor allem bei den nicht zuordenbaren Tantiemen und bei den Mindestgrenzen nachjustieren?
Genau und vor allem bei den problematischen Überlegungen, das Urheberrecht einzudämmen, dh den Status der Urheber aufgrund neuer technischer Errungenschaften zurück zu schrauben. Das muss man sich sehr genau anschauen, damit nicht etwas passiert, was Musikschaffende nachhaltig schädigt.

Ein Punkt ist doch auch, dass Österreich noch immer über kein Urhebervertragsrecht verfügt.
So ist es.

Gehen wir zum von der Unesco geforderten Katalog an Musikrechten. Nun leben wir in einer Union von Staaten, in der nicht einmal das oberste Organ, die Kommission, an Grundrechte gebunden ist. Macht es da überhaupt Sinn, diese zweifelsohne legitimen Forderungen nach Zugang zur Musik und musikalischer Selbstbestimmung auf eine menschenrechtlich Ebne zu verlagern?
Gerade heute, wo Menschenrechte weltweit aufs Gröbste verletzt werden, soll das Thema in allen Bereichen Nummer eins sein. Im Grunde ist das auch genau das, was die Postmoderne ins Gespräch gebracht hat, was aber leider nicht so sichtbar geworden ist. Die Vielfalt und die Gleichberechtigung dieser Vielfalt, die Gleichberechtigung jeder einzelnen Stimme, ist etwas, was noch immer an der Überpräsenz der alten Systeme und aufgrund eines anhaltenden Systemkonflikts zu kurz kommt. Die ganze Moderne hat ja versucht, sich an völlig neuen Bildern zu orientieren. Die globalisierte Wirtschaft, die an sich nichts Schlechtes ist, stellt nun ein Gefahrenmoment dar, weil sie diese Ideen zurück schraubt und weil man deshalb Angst hat, etwas verlieren zu können. Aber an den Menschenrechten geht überhaupt nichts vorbei. Es wird immer wieder passieren, dass sich jemand auf Kosten des anderen bereichert. Aber wenn es das Wort Menschenrechte schon gibt, dann sollte es auch ernst genommen werden und nicht nur dort, wo es ganz weit weg ist und sich jeder sofort damit einverstanden erklärt, sondern auch bei uns durchgesetzt werden.

Das heißt nicht nur im sozialen, sondern auch im kulturellen Bereich?
Absolut. Ich finde auch die Fair Music-Kampagne sehr wichtig, da gerade im Bereich Musik unglaublich viele Themen aufgegriffen werden könnten, von denen leider, da die Kampagne erst am Anfang steht, erst einige angerissen wurden. Da gehören auch Gender-Mainstreaming und Minderheitenrechte dazu. Beim Vorhaben von fair music geht es ja nicht nur um irgendwelche Plattenverträge, die gerecht sein müssen, sondern überhaupt darum, wer zum Zug kommt, wessen Musik gehört wird und wer was verdient.  Frauen sind noch immer ziemlich benachteiligt, vor allem im Musikleben.

Es wird sicher viel diskutiert werden auf der Enquete. Alles wird man nicht schaffen und das wenigste wird man wahrscheinlich umsetzen können. Dennoch: Was ist für Sie die oberste Priorität. Wo muss man aus Ihrer Sicht am allerdringendsten den Hebel ansetzen?
Genau deshalb, weil das eine so schwierige Frage ist und die Interessenslage so heterogen ist, bin ich der Auffassung, dass die Menschenrechte in der Betrachtung ganz oben stehen müssen, sowohl was das Recht auf Ausübung des Berufes als auch die Ausbildung anbelangt. Das hängt so eng miteinander zusammen, dass man es fast nicht trennen kann. Das Recht auf Musik ist eine Bildungsfrage. Auch die Familien- und Schulproblematik muss man sich ansehen. Dass dort Musik immer mehr zurück gedrängt wird… Wenn Werte einer regelmäßigen Überprüfung standhalten, dann müssen sie auch weiter gegeben werden, sonst kommt es zu Defiziten. Die Spezialisierung geht immer früher los, aber irgendwann geht es jedem Menschen ab, wenn er keinen Zugang zu Kunst und Kultur mehr hat. Das ist keine Pflicht, sondern ein ganz zentrales Recht des Menschen, das mit seiner Grundbefindlichkeit zu tun hat. Und es reicht bis in das Förderwesen hinein. In dem Moment, in dem ich jemandem etwas versage, eine Minderheit nicht berücksichtige, ist das Zensur, da ich es dem Publikum nicht ermögliche, es kennenzulernen…

Um es im schlechtesten Fall selbst abzulehnen…
Oder auch sich damit auseinander zu setzen. In einem armen Land, das sich kein Orchester und keine Kompositionsaufträge leisten kann, ist die Freiheit durch mangelndes Geld eingegrenzt. Aber auch das kann man mit einer geschickten Politik verhindern. Verhindern, dass es so arme Länder, die sich nicht einmal mehr Kultur leisten können, überhaupt gibt. Verhindern, dass es Länder gibt, in denen Regimes herrschen, die Kultur verbieten.

Insofern befinden wir uns aber doch in einer unglaublich privilegierten Position, diese Themen überhaupt diskutieren zu können.
Absolut. Nur ist das kein Argument, dorthin zu schauen, wo es noch schlechter funktioniert und sich drauf auszuruhen. So könnte sich ja jeder Politiker schon im vorhinein seine Lorbeeren aufsetzen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Wolfgang Seierl