mica-Interview mit Susanne Kirchmayr aka Electric Indigo und Pia Palme

“Abstrial” – aus den Wörtern “abstrakt” und “Material” setzt sich der Titel des gemeinsamen Werks von Pia Palme und Electric Indigo zusammen – zwei KomponistInnen bzw. MusikerInnen, die sich von eingeübten Grenzen nicht abschrecken lassen und aus ihren beiden durchlässigen Welten wiederum eine neue erschaffen. Dabei kommen die unterschiedlichen Sinne nicht zu kurz, handelt das Musiktheater oder die Oper (beide Termini wären denkbar) doch nicht nur vom Zerfall abstrakter Werke, sondern auch ganz konkret von der Zerstörung des Material gewordenen Geistes, wie er sich im Teig manifestiert. Was es damit auf sich hat, verrieten sie Lena Dražić. Uraufführung ist am Donnerstag, 25. April im KosmosTheater.

Euer Musiktheater, das am 25. April im KosmosTheater Premiere hat, trägt den Namen „Abstrial“. Das ist ein Kunstwort, das sich aus den Bestandteilen „Abstraktion“ und „Material“ zusammensetzt. Wovon abstrahiert ihr, und was ist euer Material?

Susanne Kirchmayr: Wir abstrahieren von alltäglichen, meist unaufhaltsamen Prozessen, an die auch unser Material anknüpft. Wichtig ist dabei der Zeitbegriff, der damit einhergeht, dass etwas einerseits wahnsinnig lange dauert, dass aber Zeit andererseits vor allem im Rückblick oft rasend schnell vergeht. Das konkrete Material sind in erster Linie Stimmen und Körper – und natürlich Teig! In der Installation von Ivan Fantini wird Brotteig in Gläser gefüllt, die verkehrt herum auf den Installationstisch gestellt werden. Der Teig beginnt mit der Zeit zu wandern und sich aus den Gläsern hinauszubewegen. Ganz wesentlich ist auch die Sprache: Die Texte, die eigens für das Stück geschrieben wurden, und auch die Aufnahmen der gesprochenen und gesungenen Texte bilden das konkrete Material, das wir durch Zerlegung und Neuzusammensetzung auf eine abstrakte Stufe bringen.

Was war der Ausgangspunkt: Das Konzept, der Text oder der Wunsch, etwas gemeinsam zu machen?

Pia Palme: Zuallererst war der Wunsch vorhanden, etwas gemeinsam zu machen. Die Regisseurin Paola Bianchi, Susanne und ich hatten schon im Oktober 2011 im Zuge einer Theaterproduktion im KosmosTheater („Das kleine Zimmer am Ende der Treppe“) miteinander zu tun. Damals haben wir auf Bestellung Musik gemacht, und dabei ist der Wunsch entstanden, etwas Gemeinsam auf die Beine zu stellen, bei dem wir mehr Gestaltungsspielraum haben. Dann kam ziemlich bald der Gedanke auf, dass wir nicht mit einer Kulisse arbeiten wollen, die eine Parallelwelt erschafft, sondern mit einer Installation, die Teil dieser Realität ist.

Es geht also in Richtung postdramatisches Theater, wo nicht mehr Repräsentation das Ziel ist, sondern Präsenz …

Susanne Kirchmayr: Definitiv. Es war von Anfang an klar, dass wir z. B. die Lautsprecher nicht verstecken, sondern auf vielen Ebenen möglichst transparent arbeiten wollen, wozu auch gehört, dass wir als Komponistinnen selbst im Bühnenraum agieren.

Ihr tretet beide sowohl als Komponistinnen als auch als Performerinnen in Erscheinung, was ja Funktionen sind, die in der abendländischen Musik der letzten hundert Jahre eher getrennt wurden. Inwiefern wirkt sich das auf den Kompositionsprozess aus, wenn ihr selbst auf der Bühne steht? Bekommt dadurch die Notation einen unabgeschlossenen Charakter – oder wisst ihr einfach selbst am besten, was ihr wollt?

Pia Palme: Hier muss grundsätzlich unterschieden werden zwischen der elektronischen Musik von Susanne und dem, was ich mache.

Susanne Kirchmayr: Für meinen Background als DJ ist das total selbstverständlich. Ich glaube aber auch, dass es in der „ernsten“ Musik viele Fälle von MusikerInnen gibt, bei denen das nicht so streng getrennt war, Steve Reich zum Beispiel.

Pia Palme: Ich sehe mein Vorbild eher in J. S. Bach. Er ist für mich das Paradebeispiel eines Musikers, der improvisiert und komponiert hat und auch selbst performativ tätig war. Was meine Funktion bei „Abstrial“ betrifft: Da schreibe ich für vier SängerInnen, deren Stimmen komplett ausnotiert sind. Der Part, den ich selbst auf der Kontrabassblockflöte spiele, ist ebenfalls vollständig im Kopf vorhanden, ich werde aber wahrscheinlich aus Zeitgründen erst im Nachhinein dazukommen, ihn aufzuschreiben. Trotzdem er nicht improvisiert, oder wenn, dann teilimprovisiert ist. Bei den SängerInnen gibt es ein paar improvisierte Passagen, aber die erklingen gleichzeitig mit komponierten Teilen. Das ist für mich das Interessante an diesem Stück: dass komponierte Stränge, Susannes elektronische Anteile und strukturierte Improvisationen parallel ablaufen.

Wie verknüpfen sich überhaupt eure musikalischen Inputs?

Susanne Kirchmayr: Immer wieder überraschend gut! [lacht]

Wie seid ihr konkret vorgegangen? Susanne produziert einen Track, und Pia komponiert dazu, oder umgekehrt?

Susanne Kirchmayr: Weder, noch. Auch aus Zeit- und Ortsgründen sind wir relativ getrennt an die Sache herangegangen und haben dann im Zuge der ersten Proben festgestellt, dass es eigentlich sehr gut passt – was andererseits auch wieder nicht so überraschend ist, weil wir ja das Konzept gemeinsam entwickelt haben. Zudem ist meine Arbeit für „Abstrial“ zwar einerseits sehr klar determiniert, da es verschiedene Elemente gibt, die ineinandergreifen – andererseits habe ich aber Freiräume bei der zeitlichen Strukturierung dieser Elemente. Die Struktur legt sich im Laufe der Proben klarerweise immer mehr fest, aber ich habe trotzdem die Möglichkeit, bei einigen Passagen direkt auf Paola, die SängerInnen oder die Atmosphäre zu reagieren, die aus dem Publikum kommt.

Du arbeitest vermutlich mit vorproduzierten Tracks?

Susanne Kirchmayr: Ich habe diesmal mit Absicht gar keine Elemente als Audiotracks ausproduziert, sondern sie so gestaltet, dass sie auf eine von mir determinierte Art und Weise live produziert werden.

Ein wichtiger Aspekt bei eurer Arbeit ist das Spartenübergreifende: „Abstrial“ ist eine Mischung aus Musik, Installation, Performance, Tanz und Sprache …

Susanne Kirchmayr: Wir haben mit den Texten der Schriftstellerin Anne Waldman natürlich eine sehr prägende literarische Ebene.

Wie seid ihr auf Anne Waldman gekommen?

Pia Palme: Ich arbeite seit Jahren immer wieder mit ihr zusammen und habe sie gebeten, für „Abstrial“ etwas zu schreiben. Das Gute bei Anne ist, dass sie mir erlaubt, ihre Texte nach meinem Bedarf zu zerstückeln. Es ist extrem schwierig, für meinen Umgang mit Texten die Erlaubnis der AutorInnen zu bekommen. Ich kann ihre Texte auch mit meinen eigenen und denen von Ivan Fantini mischen, das ist für sie okay.

Der Gedanke des Spartenübergreifenden ist ja in der zeitgenössischen Kunst schon seit längerem zentral. Andererseits steht gerade bei der Oper immer noch häufig der Komponist oder die Komponistin im Mittelpunkt. Wie verortet ihr euch innerhalb des zeitgenössischen Musiktheaters? Würdet ihr sagen, dass sich „Abstrial“ stark von dem unterscheidet, was heute im Musiktheater üblich ist? Im Pressetext bezeichnet ihr das Stück ja als „radikales Musiktheater“.

Susanne Kirchmayr: Wir sind übrigens mittlerweile zur Bezeichnung „radikal zeitgenössische Oper“ übergegangen.

Ich wollte gerade fragen, ob ihr mit dem Begriff der Oper überhaupt etwas anfangen könnt …

Susanne Kirchmayr: Das klassische Verständnis von Oper als einer Art Gesamtkunstwerk passt natürlich irrsinnig gut, aber er ist eben sehr besetzt und mit diversen traditionellen Elementen konnotiert. Dasselbe Problem besteht auch beim Musiktheater.

Das heißt aber, ihr würdet euch gar nicht prinzipiell von diesen Begriffen abgrenzen?

Pia Palme: Einen Unterschied zu unserer Arbeitsweise sehe ich darin, dass es üblicherweise schon so Reihenfolgen gibt: Erst ist der Text fertig, dann wird er vertont, anschließend wird das Ganze einstudiert, und zuletzt inszeniert. Bei „Abstrial“ ist doch alles relativ gleichzeitig entstanden. Dadurch bekommt die Sache einen flexibleren Charakter, dafür ist der Arbeitsprozess auch sehr aufwändig.

Susanne Kirchmayr: Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie andere Leute Oper oder Musiktheater produzieren. Was ich aus dem Bereich der Theatermusik mitbekomme, wo die Musik ja auch funktional untergeordnet ist, muss dort eigentlich auch immer alles gleichzeitig fix und fertig sein, wodurch du als Musikerin oder Komponistin sehr schnell agieren musst.

Pia Palme: Eine zentrale Rolle spielt bei uns das Raumkonzept. Ich liebe ja das KosmosTheater, weil es keine Guckkastenbühne hat und der Raum so flexibel gestaltbar ist. Eigentlich ist der ganze Raum eine große Bühne …

Ich würde gern noch einmal auf die inhaltliche Ebene zurückkommen. In der Beschreibung von „Abstrial“ ist zu lesen, dass es in dem Stück um den Zerfall alltäglicher Werte, Bedeutungen und Strukturen geht. Was für Werte zerfallen denn da?

Susanne Kirchmayr: Teig! (Lacht.)

Ihr meint also nicht den Werteverfall, wie er von konservativen Hütern des Abendlandes gerne beklagt wird?

Susanne Kirchmayr: Nein, nicht vordergründig. Allerdings lässt sich die Arbeit von Ivan Fantini, der ein wirklich radikaler Koch und Künstler ist, durchaus in diesem Sinn interpretieren: Ivan war einer der sieben besten Köche Italiens und hatte ein eigenes Restaurant, war dann aber derart frustriert von der Spitzengastronomie, dass er aufhören musste. Bei ihm geht es ganz stark um die Frage, wo unser Essen herkommt, und ob wir einen Bezug zu den Nahrungsmitteln haben, die wir jeden Tag konsumieren. Da könnte man möglicherweise einen als konservativ interpretierbaren Anknüpfungspunkt finden, so in die Richtung: Wir wissen ja heute nicht einmal mehr, wo das Getreide herkommt, aus dem unser Brot gemacht wird. Aber das ist natürlich nicht die zentrale Botschaft …

Pia Palme: Zerfall ist ja nicht notwendigerweise etwas Negatives. Wenn etwas zerfällt, kann ja auch Neues entstehen. Mich würde es beispielsweise nicht stören, wenn gewisse Strukturen in der Musikindustrie zerfallen würden. Und wenn der Begriff „Oper“ sich wandelt, ist das auch nichts Schlechtes.

Susanne Kirchmayr: Das kann man selbstverständlich auch auf gesellschaftliche Strukturen umlegen, die ebenfalls gerne aufbrechen dürfen.

Pia Palme: Ich verwende beispielsweise in den komponieren Parts der SängerInnen alte musikalische Figuren, die ich auch quasi zerfallen lasse.

Ihr zerstört die Strukturen also nicht aktiv, sondern beobachtet nur ihren Zerfall?

Susanne Kirchmayr: Doch, wir zerstören sie sehr wohl aktiv. In meiner Musik mache ich das vor allem durch die Zerlegung von Sprache in winzigste Teile, die dann wiederum zu neuen Klängen und Scheinworten zusammengebaut werden. Auch Pia hat für die SängerInnen Passagen geschrieben, die gewissermaßen auf einer granularen Ebene Worte zerlegen – nur eben nicht mit dem Computer, sondern einfach durch die Art der Artikulation.

Pia Palme: Zusätzlich verwende ich Harmonien, die aus der Spektralanalyse des Geräuschs von zerberstenden Gläsern entstehen.

Susanne Kirchmayr: Insofern geht es auch auf dieser Ebene wieder um Material und Abstraktion: Wir zerlegen das Material, um aus dem Zerfall der alten Bedeutungen Neues zu schaffen.

Pia Palme: Außerdem setze ich beim Solosänger Bartolo Musil eine Audiopartitur ein: Das heißt, er bekommt über Kopfhörer Klänge zugespielt, die er nachsingen muss. Er wechselt also im Laufe des Stücks vom Gelesenen zum Gehörten, wodurch sein Gesang einen ganz anderen Gestus bekommt. Für Sänger ist die Arbeit mit Audiopartituren extrem schwierig, weil sie einen Kontrollverlust mit sich bringt. Sie sind es gewohnt vorauszuschauen, mit einer Audiopartitur wissen sie aber überhaupt nicht, was als nächstes kommt. Dieses Ausgeliefertsein ist in meinen Augen eine wesentliche Facette des Stücks. Für mich besteht die Verbindung zwischen dem Abstrakten und dem Materiellen vor allem auf der Ebene der Emotion. Dass ein männlicher Solist das Thema der Emotionen behandelt, ist für mich ganz wichtig.

Weil in unserer Gesellschaft Männer als emotionsärmer gelten?

Pia Palme: Ganz bestimmt haben Männer Emotionen, aber sie bringen sie nicht so zum Ausdruck.

Susanne Kirchmayr: Das würde ich gar nicht sagen, nur werden eben Frauen gerne in die Gefühlsecke und Männer in die Ratioecke gestellt. Es gibt dieses Klischee, Frauen würden emotional reagieren, und insofern war es Pia wichtig, dass ein Mann für die Gefühlswelt zuständig ist.

Im Gegensatz zu vielen Musikproduktionen, bei denen nach wie vor die Männer dominieren, sind auf der Credit-Liste von „Abstrial“ deutlich mehr Frauen vertreten. Ihr beide seid schon lange in unterschiedlichen Frauennetzwerken aktiv: Susanne hat 1998 mit female:pressure eine Plattform für Frauen initiiert, die in der elektronischen Musik tätig sind. Pia wiederum hat 2007 mit Gina Mattiello das Festival e-may gegründet, das ebenfalls hauptsächlich Frauen featuret, die komponieren und dabei auch elektronische Elemente verwenden. Gab es bei „Abstrial“ auch den Hintergedanken, mit Frauen zusammenarbeiten zu wollen, oder ergab sich das einfach aus den Kontakten, die ihr aufgebaut habt?

Susanne Kirchmayr: Wie viele weibliche und männliche Stimmen eingesetzt werden, war eine rein künstlerische Entscheidung, die nichts mit einer Quote zu tun hat. Andererseits haben Paola, Pia und ich alle drei eine mehr oder weniger offene feministische Agenda, sonst wären wir ja auch nicht über das KosmosTheater miteinander in Kontakt gekommen. Insofern ist es natürlich kein Zufall, dass wir mit Frauen zusammenarbeiten, auch wenn nicht dezidiert darauf abzielen. Es macht die Sache recht stimmig, dass auch bei „Abstrial“ viele Frauen dabei sind.

Foto Pia Palme: Nikolaus Karlinsky

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