Mit der im Porgy & Bess programmierten Veranstaltungsreihe „Strenge Kammer“ ist dem Komponist, Saxofonist, Klarinettist, Zeichner und Veranstalter Renald Deppe genau das Gegenteil dessen gelungen, was der Titel eigentlich vermuten ließe: In jeder Hinsicht offene Konzerte nämlich, die von der Begegnung zwischen den Musikern einerseits und zwischen Musikern und Publikum andererseits leben. Mit Markus Deisenberger sprach der gebürtige Bochumer über das Aufbrechen festgefahrener Strukturen, wertvolle Begegnungen und auch darüber, ab wann das Ermöglichen die eigene Existenz auffrisst.
Kannst Du das Konzept der „Strengen Kammer“ kurz erläutern?
Gerne. Jeder Jazzclub braucht die heimischen Musiker. Ohne diese Musiker und ohne Hilfe von und Kontakt zu diesen Musikern wäre nämlich jeder funktionierende Clubbetrieb verloren. Jeder Club braucht also eine gewisse Community. Das Porgy & Bess ist seit seinen Anfängen gewachsen und gewachsen – vor allem auch dadurch, dass es gerade am ersten Standort in der Spiegelgasse immer eine Szene um den Club herum gab, die sich durch Solidar-Events und dergleichen mehr um den Club kümmerte. Dann ist der Club umgezogen und es wurde ein großer Spielbetrieb mit internationalen Austauschprojekten, einem internationalen Programm und einer riesigen Eigenleistung von über 90 % aufgenommen, was kein einziger Kulturbetrieb in Wien nachmachen kann. Das ist grundsätzlich toll. Nachteil dieses Spielbetriebes ist aber die damit verbundene Quote. Es ist sehr schwer geworden, im Hauptsaal Konzerte mit avanciertem Inhalt und neuen, unbekannten Menschen zu veranstalten, wenn dann zum Konzert nur zwanzig Leute kommen. Das kann man sich nicht so oft leisten. Da entstand die Idee, einen Raum zu schaffen, wo Dinge ausprobiert werden können und wo nicht dieser so genannte Quotendruck vorhanden ist.
Christoph Huber hat mit Geldern des Clubs ermöglicht, dass solch ein Raum, in dem die heimischen Musiker im wahrsten Sinne des Wortes umarmt werden, errichtet wird. Und darin gibt es jetzt zwei verschiedene Veranstaltungsreihen: Das eine ist die „Freistunde“, die der Verein Freiraum ermöglicht. Das sind junge und höchst engagierte Leute, die dort veranstalten. Die andere Veranstaltungsreihe „Lost and Found“ war von Anfang an interdisziplinär angedacht – als Begegnungsstätte von Literaten, bildenden Künstlern, Musikern etc., die auch generationenübergreifend funktioniert.
Das heißt, Du hast bei Christoph Huber mit dem Projektvorschlag eine offene Tür eingerannt?
Wir begegneten uns beide und wollten das Gleiche. Man darf aber auch nicht vergessen, wie viel zusätzlicher Aufwand dieser zusätzliche Spielbetrieb für den Club bedeutet. Es geht dabei gar nicht mal so um Geld, sondern vor allem um menschliche Ressourcen. Es muss gesondert beworben werden, ein gesonderter Einlass gemacht werden. Man braucht Catering etc. Es ist ein wirklich großer Mehraufwand zu bewältigen, ohne dass man damit mehr Geld verdienen würde. Denn man zahlt bei den Veranstaltungen bloß so viel, wie einem das Konzert wert ist. Und die Gage – von der man im Voraus nie sagen kann, wie hoch sie sein wird, weil man nie weiß, wie viele Leute kommen und wie viel sie bezahlen – bekommt zur Gänze der Künstler. Das heißt: Bis heute erhält das Porgy & Bess nichts.
Und das System, dass jeder so viel zahlt, wie er kann oder will, funktioniert?
Es funktioniert, ja. Wir leben in einer Zeit, in der es – nicht nur, aber auch – ein akademisches Proletariat gibt, viele kulturinteressierte Menschen also, die sich die Eintrittskarte zu einer Kulturveranstaltung einfach nicht mehr leisten können. In unserem System können sich auch die, die sich eigentlich nichts mehr leisten können, wieder etwas leisten. Natürlich sind damit nicht nur Akademiker gemeint, sondern alle. Wir sind offen für jeden. Aber grundsätzlich ist das so genannte Bildungsbürgertum, das früher einmal Geld hatte, weggebrochen. Es gibt eine ganze Generation von Strassers und Grassers, die ihr Geld nicht in kulturelle Erlebnisqualitäten investieren, sondern in den Club Mediterranee oder sonst wohin tragen. Wir müssen uns daher ein neues Publikum schaffen – das aber musste die zeitgenössische Musik immer. Und es ist nicht mehr ausschließlich in den bürgerlichen Gegenden zu suchen.
Ein neues Publikum zu finden klingt erst mal nach einem guten Stück Weg, den man zurück legen muss, bis man es denn tatsächlich findet. Das geht sicher nicht von einem Tag auf den anderen, oder? Worauf kommt es dabei an? Hoffnung?
Hoffnung ist das Um und Auf. Das Prinzip Hoffnung von Ernst Bloch lautet ja: „Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen.“ Dann folgen in zwei Bänden tausende Seiten, was zeigt, dass es nicht so einfach ist. Die Hoffnung besteht darin, dass man immer die Kraft, die Einsicht, Weitsicht und den Mut hat, nachzujustieren. Veranstalten heißt ermöglichen, und das ist immer etwas Lebendiges. Dabei muss viel nachkorrigiert werden. Sowohl die Freistunde als auch Lost and Found funktionieren derzeit wunderbar, es gibt einen regen Kulturaustausch, einen Kulturdiskurs. Manchmal gibt es Konzerte, die so gut besucht sind, dass wir auch schon mal Leute wegschicken mussten. So viele passen ja auch nicht rein in den Raum.
Wie viele sind es denn, die in der „Strengen Kammer“ Platz haben?
Wenn dreißig Leute drin sitzen, schaut es schon gut gefüllt aus.
Mit „Begegnungen“ ist es ja so eine Sache. Das klingt als programmatischer Ansatzpunkt erst mal gut. Ob es dann auch funktioniert, ist aber eine ganz andere Sache. Ist der Erfolg solch einer Begegnung von Mal zu Mal verschieden oder funktioniert das schlichtweg immer?
Die Begegnung ist ein Traum von mir. In dieser Stadt, in der alles ein bisschen eingekastelt ist, ist es allerdings echt schwer. Wenn hier ein Konzert für zeitgenössische Musik programmiert ist, dann kommen fast immer die gleichen schwarzgewandeten Menschen. Wenn avancierter Jazz gespielt wird, sieht man von denen wieder niemanden und umgekehrt, wobei ich sehr an einem Publikumsaustausch interessiert wäre, also nicht nur an einem Austausch unter Musikern. Es passiert zwar immer mehr, aber noch lange nicht so viel, wie ich mir wünschen würde. Was über lange Jahre über mentale Betonblockaden an Lagerdenken manifestiert wurde, diese Dogmatik, was modern und was nicht modern ist, was Mainstream im Jazz, was echte Improvisation ist, das sollte man alles über Bord schmeißen. Das ist Schnee von gestern.
Würdest Du den Austausch hier in Wien als schwieriger als sonst wo einstufen? Sind die Strukturen besonders festgefahren?
Nein, das würde ich nicht unbedingt sagen, aber in anderen Metropolen findet ein bisschen mehr Austausch statt. Hier ist es deshalb besonders starr, weil es für jedes Genre Päpste gab. Und überall wo es Päpste gibt, ist ganz schnell etwas festgefahren. Hier wussten einige Menschen ganz genau, was zeitgenössische Musik ist oder sein müsste, was Modernität ist, was verstaubt und was old fashioned ist. Diesen Menschen bin ich immer mit großem Misstrauen begegnet bzw. habe mit ihnen den Diskurs gesucht, denn ich habe auf diese Fragen keine Antworten. Und am Ende des Tages entscheidet immer noch das Publikum darüber, welche Musik überbleiben wird. Und keine Intendanten oder Kuratoren.
Als Musiker und Veranstalter schlummern quasi zwei Herzen in Deiner Brust. Ist das Kurator-Dasein im Laufe deiner Karriere wichtiger geworden? Nimmt es heute einen größeren Stellenwert ein als früher?
Nein, es stand immer gleichberechtigt neben dem Musizieren. Es ist auch ein großer Irrtum, zu glauben, dass ein Musikerdasein jemals getrennt vom Veranstalterdasein existieren könnte. Mozart war ein großer Veranstalter. Wagner ebenso.
Warum wurden sie zu Veranstaltern? Wurde diese Rolle damals wie heute nicht auch oft aus der Not geboren, weil man es, wenn es sonst niemand will, einfach selber macht?
So ist es. Bei Mozart war es die Not eines klerikalen Dienstgebers, der an seiner Musik nur einen gewissen Anteil nahm. Es war immer die Not. Es fehlen oft einfach die Gesprächspartner für engagierte Ideen, die man hat. Es ist nur ein kleiner Kreis, der zuhören will. Und die Betriebsmechanismen, die wir haben, sind ausgrenzend, weil jede Entscheidung für etwas immer auch eine Entscheidung gegen etwas ist. Das erzeugt Not, aus der aber wiederum etwas Positives resultieren kann.
Drehen wir den Spieß um: Wenn ein Musiker, der bei Dir keine Chance hat, nun etwas Neues organisiert, selbst zum Veranstalter wird, würdest Du das begrüßen?
Sehr. Das wäre wunderbar. Das ist aber grundsätzlich eine Bringschuld der Talentevernichtungsanstalten, die sich Musikuniversität nennen. In Zeiten wie diesen ist jeder junge Musiker eine Ich-AG. Hierzulande muss aber ein Absolvent der Musikuniversität nach dem Studium viel Geld in ein Kulturmanagementstudium investieren. Er muss also bezahlen, was ihm eigentlich schon während des Studiums wohlproportioniert beigebracht hätte werden müssen. Nicht nach dem Studium. Sozialversicherung, Urheberecht etc.. Ein Musiker muss nicht nur komponieren, sondern auch arrangieren und konzeptionieren können. Dass man auf seinem Instrument versiert ist, ist Voraussetzung, nicht aber Selbst- oder Endzweck. Das hat sich in den Curricula der Musikuniversitäten noch nicht niedergeschlagen.
Dann müsste sich aber doch auch das überkommene Bild, was ein Musiker ist bzw. was er zu sein hat, ändern – das des Musiker meine ich, der sich im Elfenbeinturm geniale Melodien ausdenkt.
Den gab es aber doch nie. Das ist eine Fiktion, die vielleicht sogar bewusst verbreitet wurde, um die Menschen kaltzustellen. Selbst in Zeiten, in denen das Virtuosentum große Ausmaße angenommen hat, gab es das nicht. Schau Dir Friedruch Gulda oder Glenn Gould an – wie vielseitig die waren und damals gab es den Klaviervirtuosen noch. Zur Zeit Clara Schumanns wurde noch mehr als zwei Drittel des Abends improvisiert bzw. phantasiert, wie man das damals nannte. Wie engagiert war Charles Mingus im Veranstaltungswesen? Auch der Jazz hat es schnell gelernt, sich auf seine eigenen Veranstaltungsbeine zu stellen. Unzählige Musikerinitiativen gab und gibt es da. Die Frage aber ist, wann das ständige Ermöglichen die eigene Existenz auffrisst.
Inwiefern? Weil man irgendwann nicht mehr zu den eigenen Dingen kommt?
Insofern, als man sich gewisse künstlerische Prozesse nicht mehr leisten kann, weil man immer dem nächsten Ermöglichen hinterher hechelt. Da muss eine Grenze gesetzt werden, weil sonst zu viel menschliche Energie verbraucht wird. Man hat ja nicht mit Obst oder Vorzugsaktien zu tun, sondern mit Menschen. Die ganze Welt klagt ja über Schuldbegriffe, die sich nur noch in einem virtuellen Rahmen abspielen. Wir aber haben es mit Menschen zu tun. Das ist viel kostbarer, aber auch viel komplizierter als alles andere. Und viel schmerzhafter. Ich kann schnell 400.000 Euro vernichten, ohne dass das wirklich jemandem weh tut. Aber ich kann einen jungen Musiker unachtsam derart beleidigen, dass ich ihn auf Jahre hinaus vernichte. Das tut weh. Da hab ich aber keine virtuelle Aktie, sondern einen Menschen vernichtet. Das sind die wirklichen Probleme. Aber über die redet niemand.
Wir haben jetzt von Begegnungen gesprochen und von den natürlichen Grenzen, die das Ermöglichen hat. Kannst Du zum jetzigen Zeitpunkt so etwas wie ein Résumé der bisherigen Zeit ziehen? Was hat funktioniert und was nicht?
Am schwersten im menschlichen Dasein ist es, Geduld zu haben. Es gibt immer Probleme, und alle Beteiligten müssen sich in Geduld üben. Das, was noch nicht eingelöst wurde – daran muss man feilen, damit es langfristig besser wird, eine Community erzeugt wird, man sein Ego in den Griff bekommt, Hierarchien unterbindet bzw. nur wohlmeinende Hierarchien entstehen lässt. Dazu braucht man eben vor allem eines: Geduld. Aber wir sind auf einem guten Weg. Man darf auch nicht vergessen, dass es große Generationsunterschiede gibt, völlig andere Sicht- und Sehweisen.
„Schubladen gibt es viele, aber Plattformen nur wenige“, hast Du einmal gesagt. Hat sich die Strenge Kammer bereits als eine solche Plattform etabliert oder ist sie erst auf dem Wege dorthin?
Sie beginnt eine solche zu werden, würde ich sagen. Sie ist ja noch ein ganz junges Kind, das noch genährt werden muss. Ich versuche auch die Politisierung in den Club zu bringen. Jeder erste Montag im Monat heißt: Tun Sie etwas. Mit Musik und Diskussionen. Letztens war Götz Bury da, der aus Geld Brot machte. Im April ist es Wolfgang Zinggl, der als Protagonist des Abends fungiert. Wir wollen nicht nur den ästhetischen, sondern auch den politischen Diskurs. Jazz war immer ein politisches Statement, er hatte immer eine politische Aussage. Es wird zwar immer ästhetischer, aber ausschließlich ästhetisch war er nie.
Und diese Form des Diskurses wird vom Publikum angenommen?
Sehr. Es ist immer knallvoll. Und es sind sehr viele Musiker, die aus den unterschiedlichsten Richtungen kommen und sich sehr dafür interessieren. Manchmal ist der Diskurs heftiger, manchmal weniger heftig, aber stattfinden tut er immer.
Als Musiker läuft man immer auch Gefahr, wenn man auf eigenen Veranstaltungen selbst auftritt, diesen Neidreflex auszulösen, wonach sich da jemand selbst programmieren würde, um Geld oder Publicity einzuheimsen.
Zurücknehmen muss man sich da auf alle Fälle. Am Anfang habe ich oft kostenfrei etwas gemacht, damit überhaupt etwas passiert. Das eigene Engagement muss sich in Grenzen halten, das ist klar. Zur Selbstdarstellung will ich die „Lost and Found“-Reihe auf keinen Fall missbrauchen. Andererseits kann man andere nur lieben, wenn man sich selbst auch lieben kann. An dem alten Bibelspruch ist insofern etwas dran, als ich mich zuerst einmal selbst annehmen muss, um anderen gegenüber angenehm zu sein. Ich empfinde es allerdings als frevelhaft, wenn jemand wie Luc Bondy 300.000 Euro Intendantengehalt bekommt und dann noch einmal etwas zusätzlich für eine spezielle Inszenierung. Das ist Selbstbedienung, finde ich.
Du sprichst auch immer wieder von „interdisziplinärem Charme“. Was genau meinst Du damit?
Wenn man sich mit der Musikgeschichte beschäftigt und zurückschaut, findet man Institutionen wie etwa den Art Club New York, in dem sowohl Musiker als auch Maler, Bildhauer, Tänzer und Literaten vertreten waren: John Cage, Morton Feldmann, als auch Rothko und alle anderen abstrakten Expressionisten. Das hat sich gegenseitig ungemein befruchtet. Wenn man sich das Werk eines John Cage anschaut, merkt man das sehr stark. Man kann in solchen Situationen so viel Inspiration bekommen und so viel voneinander lernen.
Kann solch ein interdisziplinärer Austausch besser im kleinen Rahmen stattfinden? Oder kann er überhaupt nur dort stattfinden? Je größer die Bühne, desto monokultureller wird sie ja doch auch meistens bespielt.
Der kleine Rahmen ist ein Segen. Die großen Kulturtanker haben alle riesige Schwierigkeiten – nicht nur finanzielle, sondern auch und vor allem damit, sich zu definieren, klar darzulegen, was sie überhaupt wollen. Ich finde, man muss vieles wieder zurückschrauben. Vieles ist viel zu groß und mit viel zu wenigen Inhalten ausgestattet. Es ist viel Notwendigkeit verloren gegangen. Ich kann von einem Besucher nicht verlangen, dass ihn alles interessiert, aber ich kann ihn vielleicht neugierig auf etwas Neues machen. Als ich jung war, war ich sehr auf das Wachstum meiner Ideen bedacht. Das würde ich heute eher mit Erhaltung und Reifung definieren. Man muss schauen, dass Erfolgsmodelle nicht so sehr äußerlich wachsen, damit sie noch gut handhabbar sind. Aus politischer Sicht baut man gerne, weil man das vorzeigen kann. Eine Sonate aber ist schnell wieder weg, so sieht es zumindest ein gewisses Denken. Dem muss man sich entziehen.
Vielen Dank für das Gespräch.