mica-Interview mit Michael Publig

Jazz, Pop und Neue Musik – diese unterschiedlichen Bereiche sind für Michael Publig keine abgeschotteten Sphären, sondern einander bereichernde Genres. Aus den unterschiedlichen musikalischen Sprachen pickt er sich heraus, was ihm als passend erscheint, und setzt sich damit über diese oft äußerlichen Grenzen hinweg. Dies zeigt sich etwa auch bei seiner „Rhapsody on a Blue Cello“, die auf der neu erschienenen CD der INÖK vertreten ist, wie auch in weiteren Kompositionen, die er für professionelle MusikerInnen ebenso wie auch für lernende Instrumentalisten schafft. Für letztere zu schreiben, empfindet Publig als Herausforderung. Wie sein unorthodoxer Weg zum Komponieren verlaufen ist und wie er mit den unterschiedlichen musikalischen Sprachen umgeht, darüber unterhielt er sich mit Lena Dražić.

Herr Publig, Sie sind nicht nur Komponist, Pianist und Arrangeur, sondern auch in unheimlich vielen verschiedenen musikalischen Welten zu Hause. Nun ist es ja häufig so, dass MusikerInnen große Unterschiede zwischen E- und U-Musik machen, zwischen Pop und Klassik – ist das für Sie überhaupt kein Thema?

Nein, das war es eigentlich nie. Ich habe mich von Anfang an zwischen den Welten bewegt. Ich hatte das Glück, der Generation nach Friedrich Gulda anzugehören. Nicht, dass ich mich mit ihm in irgendeiner Form vergleichen möchte, aber dieses Aufbrechen der Grenzen in den 50er Jahren hat ganz offensichtlich in meinem Denken Früchte getragen. Guldas Einspielung der Beethoven-Sonaten hat mich in doppelter Weise geprägt – das erste, was ich sofort wusste, war nämlich, dass ich nicht beruflich Pianist werden möchte. Ich habe mir gedacht, wenn ich die Waldstein-Sonate oder die Hammerklaviersonate nicht auch so spielen kann, brauche ich gar nicht erst anzufangen. Und nachdem ich überhaupt erst sehr spät begonnen habe, Klavier zu spielen (da war ich schon 14), war das eine sehr weise Wahl.

Wie sind Sie überhaupt zur Musik gekommen?

Mein Großvater war ein sehr guter Hobbypianist, und das hat mich interessiert. Eines Tages habe ich ein Notenheft von Elton John in einer Auslage gesehen und mir gedacht, vielleicht kann man das ja nachspielen – ich habe damals buchstäblich damit begonnen, die Notenzeilen abzuzählen, denn der Bravste und Tüchtigste war ich im Musikunterricht nicht! Ich bin sogar durchgefallen, und zwar völlig zur Recht, weil’s mich überhaupt nicht interessiert hat. Noch dazu war das vor der Turnstunde, da war ich ein Zappelphilipp.

Ich finde es interessant, dass Sie nicht den gewöhnlichen Weg gegangen sind – von den Eltern mit sechs Jahren in die Musikschule gesteckt und ganz im klassischen Kanon sozialisiert. Ziemlich unorthodox!

Das bin ich in vielerlei Hinsicht. Meine Mutter hätte sich schon gewünscht, dass ich mit neun Jahren Klavier spiele, aber damals habe ich bei der Wiener Austria Fußball gespielt und überhaupt keinen Kopf für Musik gehabt. Aber später habe ich es dafür – wie so oft, wenn mich etwas interessiert hat – zu 120 Prozent gemacht. Ich habe den Boogie-Woogie für mich entdeckt und sehr schnell sehr viel geübt. Ende der 70er Jahre hat sich in der Lokalszene in Wien unglaublich viel getan – ein Freund und ich haben damals oft Beiseltouren gemacht, wo wir uns vierhändig an ein altes, verstimmtes Klavier gesetzt haben und dann mit dem Hut absammeln waren. Das hat tolle Erfahrungen im Auftrittsbereich gebracht. Ich habe dann mit 16, 17 schon mit wirklichen Größen zusammengespielt.

In welchem Bereich waren Sie damals unterwegs?

Blues und Boogie – da haben mich wirklich nur die drei Akkorde und der Drive dahinter interessiert. Eigentlich bin ich damals schon international aufgetreten – beginnend als Pausenfüller im Jazzland – und durfte sogar mit Al Cook, Axel Zwingenberger und anderen spielen. Ich bin dann mit Al Cook beim American Folk Blues Festival aufgetreten, das war eine große internationale Tour mit den besten Blues-Musikern. Dann war ich ungefähr 17 oder 18 und habe mir gedacht, eigentlich müsste es noch etwas Anderes geben als drei Akkorde – wo gehe ich jetzt hin?

Sie wollten zu dem Zeitpunkt schon professionell im Musikbereich bleiben?

Nein, überhaupt nicht! Daran habe ich damals gar nicht gedacht. Das war ein wunderbares Hobby, und dass ich mir ein bisschen Geld dazuverdienen konnte, war auch kein Fehler. Aber ich habe schon damals mehr geahnt als gewusst, dass man zum Profitum schon ein bisschen mehr braucht. Ein Schlüsselerlebnis war dann das Hören von „My Spanish Heart“ von Chick Corea, von dem ich bis dahin keine Ahnung hatte. Da war, wie schon der Name verlauten lässt, nicht nur Jazz drauf, sondern auch viel spanische Musik – die ersten Flamenco-Einflüsse, die mich seit damals nicht mehr losgelassen haben. Bis heute kann ich nicht erklären, woher das kommt, aber der Flamenco ist eine meiner größten Leidenschaften – neben der brasilianischen Musik und dem Jazz.

Wie kam es dazu, dass Sie dann am (damaligen) Konservatorium der Stadt Wien bei Roland Batik Klavier studiert haben?

Ich habe schon bald versucht, mir aufgrund meiner Routine beim Blues- und Boogie-Spielen den Jazz selbst beizubringen. Das war musikalisch eine schwierige Zeit für mich, weil das eben doch eine wesentlich tiefgründigere Welt war. Da wusste ich, ich kann viel zu wenig, bin rhythmisch und vor allem klaviertechnisch viel zu schlecht. Das Improvisieren und alles was mit Harmonik zu tun hat, ist mir immer leicht gefallen, aber ich habe gespürt, ich brauche eine richtige Klavierausbildung. Also habe ich mir angeschaut, wer denn in Österreich der Nachfolger von Gulda ist – das war im Grunde Roland Batik.

Nachfolger in welchem Sinne?

Im geistigen Sinne. Er war der einzige, der sowohl Klassik als auch Jazz nicht nur beherrscht hat, sondern auch vermitteln konnte.

Und auch verbunden hat.

Für ihn waren diese Unterscheidungen obsolet, genauso wie für mich.

Wann ist eigentlich der Punkt gekommen, an dem Sie gesagt haben, ich komponiere jetzt selbst?

Ganz klassisch so mit 17, 18, als ich meiner damaligen Freundin mit spanisch gefärbten Stücken imponieren wollte.

Wie ist es Ihnen da mit dem Handwerk gegangen? Da waren Sie ja wahrscheinlich noch ein relativ unbeschriebenes Blatt, was Tonsatz betrifft …

Ja, völlig. Ich habe einfach sehr viel gehört. Mein Spektrum hat sich damals in viele Richtungen erweitert. Nicht nur in Richtung Jazz, sondern auch hin zu Bartók, der mich immer schon sehr fasziniert hat. Das war überhaupt kein akademischer Zugang, sondern „trial and error“. Ich habe all das, was mich wirklich interessiert hat, von der Schallplatte abgehört und aufgeschrieben. Das war zwar sehr mühevoll, aber diese Musik bleibt einem dann ewig im Herzen. Diese Transkriptionen waren quasi eine Privatstunde mit dem Verfasser. Es war wahrscheinlich der längere und mühevollere Weg, sicher aber auch der schönere, denn wenn man selbst etwas entdecken kann und es nicht nur von einem Lehrer vorgesetzt bekommt, hat man den Entdeckungsweg dabei. Wie gesagt, nicht der leichteste Weg, aber ich würde es genau so machen, wenn ich noch einmal von vorne anfangen würde. Handwerklich war ich damals sicher nicht besonders versiert. Das war einer der Gründe, warum ich mich im Klavierstudium fast nur mit Klassik beschäftigt habe – ich wusste, Iimprovisieren lernen war nicht so sehr nötig wie das reine Handwerk.

Hat Roland Batik Sie auch beim Komponieren unterstützt?

Indirekt schon. Nicht im Sinne von „Schreib dies oder jenes“, aber durch seine enorme Offenheit dem Individuum gegenüber. Er hat mich nie eingeschränkt, sondern immer ermuntert. Das finde ich einen tollen Zugang, besonders für so einen Freigeist wie mich.

Welchen Stellenwert hatte das Komponieren an sich im Studium?

Überhaupt keinen – was das Komponieren im herkömmlichen Sinne angeht. Wenn Sie noch das Arrangieren dazu nehmen, schaut die Sache anders aus. Ein Jazzs-Standard lebt durch das Arrangement, das der Interpret selbst anfertigt. Natürlich hat mich das Studium dann schon ermuntert, auch Dinge aufzuschreiben, die mir selber zugehörig werden. Ich habe aber – im Zusammenhang mit den Jazzstandards – keine Themen erfunden, sondern versucht, mit dem vorhandenen Material eine eigene Tonsprache zu finden.

Hätten Sie die Stücke, die sie damals geschrieben haben, als Jazz oder Neue Musik bezeichnet, oder waren diese Kategorien überhaupt kein Thema? Gab es irgendwo einen Punkt, wo sie das Gefühl hatten, was ich da schreibe, steht eigentlich eher in der Tradition der Klassik als in der Jazz-Tradition?

Das ist eine gute Frage, die kann ich nicht eindeutig mit „Jazz“ oder „Neue Musik“ beantworten. Es gab ein Schlüsselerlebnis: Ich hatte die Freude, die mittlerweile berühmte „Lyric Suite for Sextet“ von Chick Corea mit Gary Burton und einem Streichquartett im Konzerthaus hören zu dürfen. Das war eine wirklich grenzüberschreitende Musik im Gegensatz zu vielem anderemn inklusive Gulda, das ich vorher gehört hatte. Gulda war toll in der Klassik und meinethalben auch im Jazz, aber in der Kombination von beidem hat mir das nicht besonders gefallen. Ehrlich gesagt hat mir bis dahin – mit Ausnahme von Leonard Bernstein und André Previn – fast niemand gut darin gefallen. Diese Suite war für mich ein Zugang zu einer völlig neuen Welt. Wenn ich selbst etwas komponiert habe, war das natürlich im Idiom des Jazz, ich habe aber damals schon begonnen, „jazz-chamber music“ zu schreiben – ausnotiert und für klassische Musiker, aber mit Groove dahinter. Der Ausdruck stammt nicht von mir, sondern von einem von mir sehr geschätzten amerikanischen Komponisten und Pianisten, Billy Childs: Der hat seine letzte Platte „Jazz-Chamber Music“ genannt. Das war eine ganz andere Art von Musik als meine, aber von der Idee her absolut gleich, sprich – dieses wirkliche Verwobensein in einem Konglomerat aus Jazz, Neuer Musik und Latin. Das ist bis heute nicht unwesentlich für mich, auch wenn meine Musik mittlerweile viel moderner geworden ist.

Wenn Sie heute etwas schreiben, kategorisieren Sie das für sich? Schreiben Sie, je nach Gelegenheit, einmal mehr U-Musik, einmal mehr „klassische“ Kammermusik?

Darüber habe ich noch nie bewusst nachgedacht. Tendenziell ja – das ist wie in der Filmmusik. Das Tolle dort ist: Wie in einem Restaurant, wo die Tische vollgepackt sind mit Köstlichkeiten, pickt man sich je nach dramaturgischem Bedarf des Films etwas heraus, ob das nun in eine ethnische, elektronische oder freitonale Richtung gehen soll. Ähnlich ist es auch für mich beim Komponieren.

Im Jazz gibt es ja gewisse Regeln fürs Komponieren, es gibt eine bestimmte Sprache. In der Neuen Musik existiert das dagegen in dieser Form nicht mehr, weil heute jeder Komponist seine eigene Sprache erfindet.

In beiderlei Hinsicht haben Sie Recht, und an beidem habe ich Kritik anzumerken. Was den Jazz betrifft, sehe ich heute teilweise das Problem der Überakademisierung. Ich weiß selbst auch gerne Bescheid über die Dinge, und man kann mir nicht vorwerfen, nicht zu analysieren. Aber wenn ich Mainstream-Jazz (Bebop etc.) höre, weiß ich zum Teil haargenau, was kommen wird, weil die Sprache so einheitlich geworden ist. In der Neuen Musik besteht hingegen oft das Problem, dass ich gar nicht verstehe, was der Komponist ausdrücken möchte, weil ich mich dazu in die Tonsprache, die er kreiert, überhaupt erst hineindenken müsste. Mir fehlt hier teilweise der emotionale Zugang. Durch meine berufliche Tätigkeit [als Verlagsleiter bei Doblinger, Anm.] bekomme ich ja jeden Tag gute Werke im Bereich der Neuen Musik auf den Tisch – trotzdem sehe ich oft erst im Gespräch mit dem Komponisten, was er eigentlich wirklich aussagen wollte.

Geht Ihnen in der Neuen Musik so etwa wie eine verbindliche Sprache ab?

Eine gefährliche Frage. Prinzipiell nein, denn dann würde es genau zu dem Zustand führen, den ich am Jazz kritisiere. Was mir in an manchen Werken der Neuen Musik fehlt, ist das Geschichtenerzählen. Für mich hat ein Musikstück eine Dramaturgie – ob man sie nur spürt oder bewusst wahrnimmt, ist eine andere Sache.

Ist die Tonalität für Sie ein wichtiges Mittel zum Kommunizieren mit dem Publikum, oder geht’s auch ohne?

Es geht sicher ohne. Wahrscheinlich geht’s besser mit, weil das so eine Art „common ground“ ist. Allerdings versuche ich schon, in meiner Musik nicht immer vorhersehbar zu schreiben, sondern etwas Überraschendes oder Neues – aber nicht unbedingt erzwungen Neues – zu kreieren. Den wichtigsten Punkt haben Sie in Ihrer Frage versteckt formuliert, nämlich den der Kommunikation: Es ist ganz wichtig, mittels Musik zu kommunizieren. Mir ist beim Schreiben wichtig, dass die Musik einen unmittelbaren Effekt aufs Publikum hat, dass sie nicht ausschließlich Gehirnmusik ist. Rhythmus spielt als tragendes, verbindendes Element eine wichtige Rolle in der Kommunikation mit dem Hörer. Er erhält den Fluss, den „flow“ des Stücks. Rhythmus ist der Atem der Musik. Zurück zu Ihrer Frage die Tonalität betreffend: Letztendlich ist alles eine Frage der Abfolge von Spannung und Entspannung. Eine aufbauende Klimax und dann die Auflösung – oder auch nicht, denn man kann die Aufeinanderfolge von mehreren Spannungselementen natürlich auch als dramaturgisches Element verwenden. Clare Fischer beispielsweise war ein Großmeister der extrem chromatisch geführten Innenstimmen, die sich fast nie auflösen, und der daraus resultierenden spannenden Harmonien. Wie gesagt,  ob die Komposition mit tonalen Mitteln gestaltet sein muss, ist für mich eine zweitrangige Frage, denn wichtig ist, was ich eigentlich sagen will. Die Stilelemente bleiben der Musik, von der ich mich gerne selber führen lasse, untergeordnet.

Wie weit spielt da Improvisation eine Rolle?

Mit der Improvisation verhält es sich für mich ähnlich wie mit einem Stadtspaziergang. Ich weiß genau, wo ich mich gerade befinde, und in welchem Stadtteil ich gerade gehe, aber ob mich das Flair der Straßen und der darin befindlichen Leute nach links oder rechts zieht, weiß ich nicht und will es auch gar nicht wissen, denn dadurch bleibt für mich das Erleben offen.

Sie haben sehr viele Sammlungen mit Stücken für den Unterricht herausgebracht. Das ist ein Genre, das nicht gerade im Rampenlicht steht, nach dem aber nichtsdestotrotz immer Bedarf besteht. Was interessiert Sie daran?

Es ist eines der schwierigsten Dinge überhaupt, eine interessante musikalische Aussage auf einem Niveau zu verarbeiten, das nicht dem des Profis entspricht. Jenő Takács war da ein Großmeister. Daran will ich mich nicht messen, aber diese pädagogischen Sammlungen sind für mich persönlich fast das Schwierigste, was ich geschrieben habe. Rein satztechnisch versuche ich nämlich, sehr voll zu denken – wie bei einem großen Orchesterapparat – und dann so viel wegzulassen, dass nur die Essenz übrigbleibt.

Wie würden sie Ihre Musik in wenigen Worten charakterisieren?

Nun, ich bin ein recht unruhiger, stets suchender Freigeist, sodass sich repetitive, meditative Figuren eher selten in meine Musik mischen. Ich versuche Abwechslung in die Musik zu bringen, nicht ständig das Gleiche zu wiederholen. In diesem Sinne bin ich ein „Anti-Minimalist“ – und das, obwohl ich viele Stücke von John Adams sehr gerne mag, besonders weil dort der „Flow“ stimmt. Meine Musik schaut oft am Papier sehr einfach aus, dort stehen oft nur Achtelnoten – oder es scheint auf den ersten Blick einfach machbar. Die Herausforderung daran ist, dass das, was dort steht, auch wirklich zu hören sein soll, inklusive der Lebendigkeit des ausübenden Musikers. Klingt selbstverständlich, aber es ist eben doch eine Herausforderung, diese geschriebenen Noten zum Beispiel am Cello wirklich sauber zu intonieren und rhythmisch locker zu spielen. Ich denke, ein gutes Beispiel dafür ist mein Klaviertrio „time in – time out“. Gott sei Dank kenne ich einige Musiker, die das kommunizieren können. Denn die Musiker von heute werden immer besser, und das ist wiederum für mich selber eine schöne Herausforderung.

Foto: Nancy Horowitz

http://www.myspace.com/publigmichael