mica-Interview mit Karl Wratschko (CinemaSessions)

Immer mehrere MusikerInnen finden in der Vertonung von Stummfilmen ein für sie neues und spannendes Betätigungsfeld. Im Rahmen der seit einigen Jahren von Karl Wratschko in Wien veranstalteten CinemaSessions-Reihe, die sich einer stetig wachsenden Beliebtheit bei Film- und Musikbegeisterten gleichermaßen erfreut, können sie diesbezüglich ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Der Kurator der Reihe im Gespräch mit Ada Karlbauer.

Was genau kann man sich denn unter den sogenannten CinemaSessions vorstellen?

CinemaSessions ist eine Film- und Konzertreihe, in deren Rahmen Stummfilme meist von ExperimentalmusikerInnen vertont werden. Das erste von mir organisierte Konzert in diese Richtung fand in der „Proletarischen Kino in Österreich“-Reihe des Filmarchivs Austria bei der Viennale 2007 statt. Damals hatten Dieter Kovacic (dieb13) und Lars Stigler, die zur Retrospektive veröffentlichte DVD vertont und daraufhin ebenso auch die Filme eines Abends live. Aufgrund des Erfolges dieses ersten Versuches in Richtung Experimentalmusik und Stummfilm wurden in den folgenden Jahren zu fast sämtlichen DVD-Projekten des Filmarchivs Austria ExperimentalmusikerInnen aus Wien zu deren Vertonung eingeladen. Darunter befanden sich Stefan Neméth, Lars Stigler, glim, Peter Kutin, Franz Hautzinger, Fabian Pollack u.a.

Bis zu diesem Zeitpunkt wurden in Wien Stummfilme fast ausschließlich mit traditioneller Klavierbegleitung gezeigt. Die Veranstaltungen wurden daher nur von einer kleinen Gruppe Stummfilm- Enthusiasten besucht und wahrgenommen. Im Sommerkino „Kino wie noch nie“ 2009 wurde dann die Schiene „CinemaSessions“ gestartet. Bei den vier Veranstaltungen spielten Burkhard Stangl, Dieter Kovacic, Stefan Neméth, Martin Siewert, Bernhard Fleischmann, Elektro Guzzi und Paul Divjak.

Damals kam es noch vereinzelt zu Protesten von „alteingesessenen“ Stummfilm-Freunden. Es wurde aber sehr schnell klar, dass mit diesem Konzept neue Publikumsschichten für den Stummfilm zu begeistern waren. Im Grunde war es eine Win-Win-Situation: Musikinteressierte schauten sich plötzlich immer öfters Stummfilme an und Filmenthusiasten begannen sich für Experimentalmusik zu interessieren. In der Symbiose aus beiden konnten in vielen Fällen plötzlich eine Vielzahl des üblichen Publikums für Stummfilm-Präsentationen oder Experimentalmusik-Konzerten erreicht werden. Ich bin in der Zwischenzeit der Meinung, dass Wien weltweit die Stadt mit dem größten Stummfilmpublikum geworden ist. Nirgendwo werden so viele Stummfilme vor einem „relativ“ großen Publikum präsentiert wie hier.

Wie ging es weiter?

Aus dieser Erfahrung heraus wurden bei drei Stummfilm-Retrospektiven des Filmarchivs Austria bei den Viennalen 2009-2011 fast sämtliche Programme von zeitgenössischen MusikerInnen vertont. Unter den KünstlerInnen befanden sich: Werner Dafeldecker , Susanna Gartmayer & Tamara Wilhelm, Billy Roisz & Angélica Castello,  „Kilo“ mit Vera Fischer und Benedikt Leitner, Susanna Gartmayer & Peter Kutin, Jürgen Berlakovich &Ulrich Troyer, Dienz & Dienz, Thomas Lehn, FM Einheit, Martin Siewert, erikM, Noël Akchoté, Fabian Pollack, Rafael Toral, Peter Szely, La Lotion Magique, Oskar Aichinger, Lars Stigler, Richard Deutsch, Jorge Sánchez-Chiong, Machinefabriek, Alexandr Vatagin, Dieter Moebius,…

Obwohl wir in Wien mit der Musikszene ein unglaubliches Glück haben und es möglich ist mit einer Vielzahl an MusikerInnen zusammen zu arbeiten, war es im Rahmen unserer Retrospektiven sehr inspirierend auch internationale KünstlerInnen einladen zu können. Aus dem Ganzen heraus hatte sich in der Zwischenzeit 2010 eine Reihe entwickelt, bei der ich einmal im Monat MusikerInnen zu Vertonungen von Stummfilmen im Metrokino und wiederum bei „Kino wie noch nie“ einladen konnte. In diesen Sessions haben dann MusikerInnen aus Österreich wie Peter Rehberg, bulbul, Maja Osojnik, Matija Schellander, Philip Quehenberger, ddKern, Andreas Trobollowitsch, David Schweighart, Peter Kutin, Christian Fennesz, Shrack, Mona Matbou Riahi & Rahi Sinaki, Bernhard Fleischmann u.a. gespielt.

Daraus ist wiederum eine DVD-Reihe entstanden, auf der live aufgezeichnete Musik-Scores zusammen mit den Filmen veröffentlicht wurden. Dies war vor allem wichtig für mich, um festzuhalten, was in Richtung Stummfilm-Vertonung in Wien gerade gemacht wird. Es wäre einfach sehr schade, wenn von den unzähligen Live-Veranstaltungen (es waren jetzt schon knapp an die hundert Konzerte) nicht „überbleiben“ würde. Die Praxis der Stummfilm-Vertonung änderte sich einfach immer wieder und ich wollte unsere Praxis für zukünftige Generationen festhalten. Bisher sind vier DVDs erschienen, zwei weitere sind gerade in Produktion.

Aufgrund der temporären Schließung des Metrokinos ergab sich in den Jahren 2012 und 2013 die Möglichkeit mit den CinemaSessions auf Tournee durch Wien zu gehen. In der Reihe KINO DER ORTE, welche ich mit Karin Moser konzipiert habe, konnten die Filme an speziellen Orten in Wien gezeigt werden. Es war nun möglich, Programme zusammenzustellen, in denen Filme und Musik in Beziehung zu besonderen Orten in Wien treten konnten. Dies waren beispielsweise die Kuffner Sternwarte, der Narrenturm, Ruprechtskirche, die Rosenhügel-Filmstudios, eine Buschenschank am Nussberg etc. Gespielt haben Franz Hautzinger, Stefan Kmet & Martin Brandlmayr, Kollektiv/ Rauschen, Hannes Löschel, Broken.heart.collector und einige der MusikerInnen die ich schon davor erwähnt habe.

Nun wird es wirklich schon kompliziert, aber daraus hat sich wiederum eine Weiterentwicklung ergeben. Zusammen mit der Gruppe „Rdeča Raketa“ (Maja Osojnik & Matija Schellander) fand im Juni 2013 unter dem Titel „Traversing the Balkan“ der erste Teil einer Tournee im Ausland mit Stummfilmen aus dem Filmarchiv zusammen mit Musik statt. Es handelt sich dabei um eine Art „historisches Road-Movie“, welches auf einem Road-Trip aufgeführt wird. Die Programme gehen dabei wieder speziell auf die Orte ein. Dies geschieht durch die Einbeziehung von Filmen aus lokalen Archiven. To be to be continued…

Nach welchen Kriterien wird die Musik zu den Filmen ausgewählt?

Wichtig ist, dass ich das Gefühl habe, die Musik der eingeladenen KünstlerInnen könnte zu den Filmen passen. Diese Entscheidungen sind eher Bauchentscheidungen. Oft entsteht die Auswahl auch aus gemeinsamen Gesprächen, in denen Interessen von MusikerInnen angesprochen werden. Dann ist es eher ein thematischer Zugang. Grundsätzlich ist es aber so, dass nicht jede Musikrichtung mit jedem Film korreliert. Besonders schwer zu vertonen sind Komödien.

Nachdem sich Musiker und Film gefunden haben, arbeiten die MusikerInnen vollkommen frei, was mir sehr wichtig ist. Nur keinen (unnötigen) Einfluss vom „Auftraggeber“. Das Großartige an der ganzen Sache ist, dass es meistens ausgezeichnet funktioniert. Das Schöne dabei ist einfach, dass man/frau MusikerInnen in einem neuen Kontext sehen kann. Der Film gibt eine Art Partitur vor, welche MusikerInnen dazu „zwingt“, sich in gewisser Weise neu zu erfinden. Dies stellt einen besonderen Reiz für das Publikum und auch mich dar.

Dein Anliegen ist es unentdeckte Filme zu zeigen?

Genau. Meistens werden ja nur die  stummen Filme aus dem Kanon der Klassiker gezeigt. Dieser ausgewählte Kreis ist bei Stummfilmen sehr klein. Dies hat natürlich auch den Grund, weil es prinzipiell schwer ist, Publikum für Stummfilm-Präsentationen zu gewinnen. Daher ist es auch das kleinste Risiko, einen der Klassiker wie „Panzerkreuzer Potemkin“ zu zeigen. In Zusammenhang mit zeitgenössischer Musik ist es nun aber auch möglich, viele unbekannte Filme zu zeigen, welche ansonsten kaum auf Interesse stoßen würden. Somit standen viele „neue“ Filme auf dem Programm, welche ansonsten selten auf der Leinwand zu sehen sind und waren. Beim Sommerkino finden sich dann natürlich mehr Klassiker auf dem Spielplan. Da geht es ja auch darum, ein wirklich sehr großes Publikum anzusprechen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Verfügbarkeit der Filme in projizierbaren 35mm-Kopien. Viele Filme schlummern weltweit in den Archiven und können ohne Restaurierungsarbeiten nicht mehr gezeigt werden. Das schränkt das Angebot natürlich auch sehr ein.

Von der Arbeitsweise her: Sehen die Musiker zuvor den Film, oder passiert alles im Moment des Auftrittes?

Die MusikerInnen bekommen zur Vorbereitung im Vorfeld eine DVD des jeweiligen Programmes. Meistens sind die Scores sehr improvisiert, jedoch werden immer Skizzen vorbereitet, welche eine gewisse Struktur bringen. Anders wäre das bei der Länge der Programme auch nicht möglich. Es gibt natürlich auch MusikerInnen, die sehr viel vorbereiten. Es ist wie gesagt alles möglich und auch vorgekommen. Grundsätzlich muss ich sagen, dass es für mich an „Wunder“ grenzt, was MusikerInnen da meistens zustande bringen. Wirkliche Kompositionsaufträge würden wir gerne vergeben. Das ist aber aus budgetären Gründen leider nicht möglich. Es wäre aber wirklich schön,  auch einmal ein paar Monate Kompositionsarbeit zu ermöglichen. Da würde dann sicher etwas ganz anderes entstehen.

Stummfilme sind ja sehr langsam und für das heutige Publikum schwer rezipierbar? Warum schauen sich Menschen trotzdem diese alten Filme an?

Ich finde, auf eine gewisse Art hat diese Langsamkeit auch was unglaublich Tolles. Wir sind ja heute von Bildern überflutet. Im stummen Film gibt es Zeit und Ruhe. Alles entwickelt sich meist sehr langsam und der Zuschauer kann sich richtig fallen lassen, glaube ich zumindest. Natürlich ändert sich das Zeitgefühl, wenn man schon öfters Stummfilme gesehen hat. Eine zeitgenössische Vertonung hilft den Filmen aber sehr stark. Es entstehen dann einfach zwei Ebenen, auf die man achten kann. Der Stummfilm war ja grundsätzlich nie stumm. Es gab fast immer Musik, in der Frühzeit der Kinematographie auch Erzähler und Geräuschmacher. Es war kein Stummfilm sondern einfach ein Film.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Filme nicht zu Visuals „verkommen“ und die Musik überhand bekommt. Diese Gefahr besteht vor allem, wenn die Projektionsqualität nicht gut ist. Der Film muss stark sein, um nicht von der Musik „überrollt“ zu werden. Daher ist die Projektion von 35mm-Kopien essentiell. Die Ästethik und besonderen Qualitäten einer analogen Filmprojektion sind ja für den heutigen und vor allem zukünftigen Kinobesucher alleine schon eine Sensation. Außerdem ist es so, dass MusikerInnen immer wieder betonen, wie wunderbar diese Stummfilm-Vertonungen für sie sind, weil in der Kinosituation einfach Ruhe herrscht und das Publikum zuhört. Das ist ein großer Unterschied im Vergleich zu üblichen Veranstaltungsorten wie Clubs und anderen Lokalen. Der musikalischen Darbietung wird einfach große Aufmerksamkeit entgegengebracht.

Wie entsteht die Filmauswahl?

Ich versuche, eben nicht die Klassiker zu zeigen, sondern eben auch kuriose und unbekannte Filme „auszugraben“. Teilweise auch Trash, der einfach aus heutiger Sicht sehr lustig ist wie beispielsweise „Die Würghand“. Andererseits auch Filme zwischen Dokumentar- und Spielfilm mit oft ersten Thematiken wie „Narcotica“ oder „Hygiene der Ehe“. Wichtig war es mir, auch Filme von Amateuren wie „Nocturno“ aus Kroatien zu zeigen oder „Daphnis und Chlo“ aus Griechenland. Oder auch stumme Filme aus Afrika. Einfach auch ein wenig an die Ränder zu gehen und sich bei der Auswahl nicht nur die klassischen (Stumm-)Filmländer wie USA, Deutschland, Sowjetunion und Frankreich zu beschränken.

Am liebsten habe ich eigentlich die Kurzfilmprogramme, weil sie einfach nicht leichter zu rezipieren sind und die Länge mancher Spielfilme Probleme in Hinsicht auf Vertonungen macht. Ich finde, das Kurzfilmprogramm „Inferno“ (auch als DVD veröffentlicht)  ist ziemlich gut gelungen, vor allem mit der musikalischen Untermalung von Peter Rehberg. Die Filme dieses Programmes stammen aus einer Reihe von europäischen Archiven. Dafür helfen bei der Auswahl vor allem der Besuch von speziellen Festivals wie „Cinema Ritrovato“ in Bologna oder „Le Giornate del Cinema Muto“ in Pordenone. Außerdem natürlich die Arbeit im Archiv und der Kontakt mit vielen Menschen, die sich in Museen, Archiven, Universitäten etc. mit dem Thema Stummfilm befassen.
Ein weiteres Anliegen in der Filmauswahl ist es neue, avantgardistische Filme mit stummen Filmen zu mischen. Diese Praxis habe ich in der Reihe „Kino der Orte“ öfters angewendet und es sind sehr schöne Programme daraus entstanden. Für mich ist es immer schwerer verständlich, warum „alte“ und „neue“ Kunst noch immer so selten gemeinsam präsentiert werden. Insgesamt ist der Großteil der internationalen Stummfilm-Szene sehr konservativ. Man sieht fast nie zeitgenössische Vertonungen von stummen Filmen. Die Übernahme von Musik/Film-Programmen, die MusikerInnen für das Filmarchiv erarbeitet haben, war bisher international noch nie geschafft. Das braucht einfach noch Zeit.

Wie siehst Du die Verankerung von CinemaSessions in der Wiener Musikszene?

Inzwischen haben sich die CinemaSessions meiner Meinung nach zu einer  relativ guten Plattform für MusikerInnen entwickelt. Wir können zwar keine hohen Gagen zahlen, aber wirklich sehr viele MusikerInnen lieben es inzwischen, Stummfilme zu vertonen. Diese Art von Konzerten hat sich meiner Meinung nach zu einer eigenen Sparte des kontemporären Musikschaffens „gemausert“. Das Wechselspiel zwischen Bild und Ton stellt laut Berichten für viele MusikerInnen eine besondere Herausforderung dar.  Am besten wäre es aber in einem zukünftigen Interview, die ausführenden Künstler zum Thema „Stummfilmvertonung“ zu befragen. Würde mich wirklich sehr interessieren.

Wann sind die kommenden Termine in diesem Jahr, auf was kann man sich einstellen?

In diesem Jahr gibt es noch am 15. August einen Termin bei „Kino wie noch nie“. Der vom Filmarchiv Austria neu restaurierte österreichische Horrorfilm „Orlacs Hände“ wird von bulbul vertont werden. Außerdem wird es im Rahmen der Viennale eine größere Filmretrospektive mit stummen Filmdokumenten des Filmarchivs Austria geben. Dafür kann ich wieder eine Reihe von MusikerInnen au dem In- und Ausland einladen. Darüber hinaus werden noch zwei weitere DVDs der „CinemaSessions“-Reihe erscheinen. Es handelt sich dabei um „Alle Räder stehen still“ mit der Musik von Jorge Sánchez-Chiong und „Ihre Vergangenheit“ mit der Musik von Thomas Lehn.

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