mica-Interview mit Ines Reiger

Sie ist eine international renommierte Jazzsängerin, die das Natural Voice Training (NVT), eine Gesangstechnik im Jazz/Pop entwickelt hat, sie ist Unterrichtende und Musikpädagogin an Universitäten und Konservatorien in Wien und Graz, sie gestaltet und moderiert auf Ö1 die „Jazznacht“ und ist zudem aktuell auch noch als Expertin für Jazz und verwandte Stilrichtungen Mitglied des Österreichischen Musikbeirates des BMUKK (Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur). Ines Reiger ist eine mehr als vielbeschäftige Frau. Seit vielen, vielen Jahren nun schon stellt die gebürtige Wienerin ihre Tätigkeit ganz in den Dienst der heimischen Jazzszene. Im Interview mit Michael Ternai spricht die Wienerin unter anderem über die Wichtigkeit, die Kinder schon im frühen Alter hin zur Musik zu führen und über den Stellenwert des Jazz hierzulande.

Liegt man mit der Annahme richtig, wenn man sagt, die heimische Jazzszene ist eine überaus lebendige?
Auf jeden Fall ist die Bandbreite heutzutage sehr groß. Auch weil man den Jazz nicht mehr nur als das definieren kann, was er vor dreißig Jahren war. Da bereits alle Richtungen in irgendeiner Form  ausgereizt worden sind, sind die Jungen heute gezwungen, irgendetwas Eigenes zu machen und gehen daher ins „Crossoverische“,  „Wienerische“ oder Experimentelle. Ich sehe das auch bei meinen Studenten, die zum Teil mit Songs kommen, die mir geschmacklich eigentlich gar nicht so entsprechen. Aber es ist eben ihr ganz eigenes Ding. Und dann sage ich: „Ja, wenn es ihnen gefällt, dann passt es.“ Dem gegenüber gibt es natürlich auch solche, die mit Songs im uralten Stil kommen. Und ich finde, das ist genauso okay.

Die Leute genießen hier in Österreich ja auch eine super Ausbildung. Ich habe hier am Wiener Konservatorium 15, 16 Studenten, in Graz nochmals einige. Jedes Jahr kommen viele neue hinzu,,. andere wiederum schließen ab. Ich habe 1983 zu unterrichten begonnen und da kann man sich in etwa hochrechnen, wie viele ausgebildete Musiker in diesen Jahren hervorgegangen sind. Wir haben ja damals als ein kleines Grüppchen von Pädagogen begonnen. Aber wir haben eben die nächste Generation von Pädagogen ausgebildet und die wiederum darauffolgende. Und heute? Es ist ein Wahnsinn, wie viel Nachwuchs am Start ist. Die Breite ist enorm.

Glaubst du, genießt Jazz in Österreich, im Vergleich zu Deutschland oder der Schweiz etwa einen hohen Stellenwert?
Also in Österreich denke ich schon. Man muss sich aber schon im richtigen Umfeld bewegen. Wenn wir beide jetzt über Jazz diskutieren, ist das etwas anderes, als wenn ich das mit meiner Mutter mache oder mit jemandem, der überhaupt keine Ahnung hat. Es ist eine Art Kosmos, in dem man sich bewegt, weil man eben damit zu tun hat. Man darf nicht glauben, dass dieser Kosmos allgemein gültig ist. Wenn man sich irgendwelche einschlägigen Sendungen anschaut, sieht man, dass die Leute maximal durch Amy Winehouse in irgendeiner Form mit Jazz in Berührung gekommen sind. Der Rest ist eben Popmusik. Das ist der Kosmos, der viele interessiert. Wir dürfen uns nicht überschätzen und glauben, wir wären so wichtig. Es verhält sich so ähnlich wie in der Klassik. Eingeweihte kennen die Komponisten, die  Werke und anderes. Jemand, den das nicht interessiert, kennt nur das, was über die Medien verbreitet wird. Damit will ich nicht sagen, dass es sich bei dieser um Kunst zweiter Klasse handelt, aber sie ist eben die öffentliche. Jazz-Orchester gibt es ja genug, genauso wie Ensembles und Musiker, aber solange die von den Medien nicht unterstützt oder wahrgenommen werden, verweilen sie in dieser nicht Suböffentlichkeit.

Meinst du, wenn die Medien mitspielen würden, würde sich nicht auch das Interesse am Jazz steigern?

Meine Erfahrung ist, dass Musik für Leute, die damit nicht wirklich etwas zu tun haben, den Stellenwert der Ablenkung und Unterhaltung hat. Jazz spricht irgendwie eine Sinnlichkeit solcher Menschen an, die das musikalische „Reflexionsgen“ haben, die sich mit der Materie auseinandersetzen, die sich auf etwas Neues einlassen. Es muss schon irgendwie dem Menschen inne sein. Und wenn das so ist, jedoch nicht gefördert wird, dann kommt es nie hinaus. Das „drinnen sein“ heißt zudem auch, es in der Erziehung vorgelebt zu bekommen. Kinder machen ja alles. Sie improvisieren und würden mit zwei Jahren auch Dudelsack lernen, wenn man es ihnen schmackhaft machen würde. Genauso wie Harfe oder Zither. Man kann so etwas schon anstoßen. Nur muss es eben jemand tun. Und wenn es jetzt nicht im Elternhaus passiert, dann vielleicht in der Schule. Und wenn es dort nicht geschieht, weiß man nicht, ob dieses Gen tatsächlich vorhanden ist und jemals zum Ausbruch kommen könnte.

Ist es als Musikbeirätin für Jazz im BMUKK eine Aufgabe von dir, Musikvermittlungsprojekte an Schulen zu starten?
Das mache ich schon seit vielen, vielen Jahren und hat  mit meiner Tätigkeit im BMUKK nicht viel zu tun. Aber eines kann ich sagen: Will man Kindern die Musik näherbringen, so ist besonders das Alter entscheidend. Wenn der Vorlauf bereits getätigt worden ist, so fällt dieser Prozess natürlich leichter. Nach den vielen Jahren, in denen ich mich Kindern gewidmet habe, sehe ich natürlich das Defizit, dass die Musikerziehung eigentlich viel, viel früher beginnen müsste. In Niederösterreich hat man vor Jahren in der Ausbildung für Volksschullehrer damit begonnen, sie anzuhalten, sich mehr mit dem Singen zu beschäftigen. Denn Singen ist ja das ursprünglichste aller Instrumente. Ein Volksschullehrer kann meistens von allem ein bisschen. Handarbeiten, Malen usw. Aber das ist eben zu wenig. Gerade die kreativen Fächer gehörten wesentlich mehr unterstützt. Da aber beißen wir uns sehr oft in den eigenen Schwanz. Wenn irgendwo  die finanziellen Mittel gekürzt werden, dann zuallererst bei all den kreativen Fächern. Da hört man immer: „Musik brauchst nicht lernen, weil da fällst du nicht durch.“

Ich bilde in Graz auch die werdenden AHS-Musiklehrer aus. Und die dürfen seit inzwischen etwa 20 Jahren auch Jazz- und Popgesang machen. Man merkt, dass diese Generation jetzt auch schon fitter ist, sie traut sich mehr zu und singt und spielt. Und so kommt es, dass plötzlich ein 17-Jähriger vor dir steht, der sich für Jazz interessiert. Die Jugendlichen werden merkbar jünger, bis zu dem Alter eben, in dem sie den Jazz noch nicht begreifen können. Jazz ist ja keine einfache Musik.

Nimmst du wahr, dass es einen Wandel gibt?
Einen langsamen Wandel, ja. Wie etwa in der Ausbildung in den Gymnasien. Vor allem die Leute, die aus Graz kommen, zeigen sich hier  sehr fit. Graz hat mit Sicherheit die beste Musikpädagogik, was das anbelangt. Aber natürlich geht in diesem Bereich noch viel mehr.  Wo besonders Nachholbedarf besteht, ist in den pädagogischen Akademien, Hauptschulen und Volksschulen.  Und natürlich auch in den Kindergärten. Das Singen zu erlernen, ginge nämlich am leichtesten, weil man es immer „eingesteckt“ hat. Und wenn das jemand nicht vorgelebt bekommt,  – und da sind wir wieder dort, wo wir vorher waren –, dann wird dieses bereits erwähnte Gen nicht weiterentwickelt. Es geht darum, bis zu einem gewissen Grad die Sinne zu schärfen. Es muss ja nicht jeder aktiver Musiker werden, aber er kann sie passiv wahrnehmen. Wenn das nicht passiert, dann bildet die Zahl der Nichtinteressierten eben immer die große Mehrheit.  Und das ist in der Klassik, in der Neuen Musik genauso wie im  Jazz. Es ist ein sehr langsamer Prozess und es wird nicht so sein, dass über Nacht der Jazz plötzlich im Rampenlicht stehen wird. Positiv auf der anderen Seite aber ist, dass er auch nicht ausstirbt und es immer noch Leute gibt, die sich für diese Musikform interessieren.

Du machst ja auch eine Radiosendung auf Ö1. Es ist sicher ein großes Anliegen von dir, die heimische Szene zu fördern?

Ich spiele in meinen Sendungen (Jazznacht auf Ö1) ja alle österreichischen Musiker, die an mich herantreten und mir CDs zukommen lassen. Ich lade auch immer Gäste ein, von denen ich glaube, dass sie wirklich unterstützt gehören. Das sind Junge genauso wie Arrivierte. Obwohl schon zu beobachten ist, dass vor allem die Jungen, weil sie die Fähigkeit haben, sich sehr gut zu vernetzen und in diesem Bereich auch viel tougher und aktiver sind, in diesem Bereich den Arrivierten doch schon etwas voraus sind. Die wollen eher abgeholt werden und können sich auch keinem Wettbewerb mehr stellen. Was auch logisch ist, geht doch kein 40-Jähriger zu einem Newcomer-Jazzwettbewerb. Was aber nichts daran ändert, dass eben die auch gefördert gehören. Sie waren zu ihrer Zeit hervorragend und hatten auch etwas zu sagen. Genauso wie die Vertreter der ganz alten Generation, weil sie die Wegbereiter waren. Das alles versuche ich zu berücksichtigen, soweit es geht.

Aber generell ist es kein leichtes Unterfangen, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, wenn man in der Nacht, wenn alle schlafen, senden muss. Wären solche Sendungen in der Primetime platziert, klar würde man dann mehr Leute ansprechen können. Oder man hätte eine Art Quote, welche regeln würde, dass, zugegeben ein blödes Beispiel,  im Musikantenstadl nicht zum tausendsten Mal Hansi Hinterseer auftritt, sondern etwas aus der Klassik und aus dem Jazz verpflichtend im Programm sein muss. Damit sich eben die Leute langsam herantasten können. Man kann ja das Lemmingeverhalten auch einmal  im positiven Sinn ausnützen.

Was ist genau deine Aufgabe als Musikbeirat für Jazz im BMUKK?
Beraten. In Diskussion mit den anderen Beiräten verschiedene Projekte in die Wege leiten, wie etwa das Mentoring-Projekt.  Im Rahmen dieses Projektes, das noch nicht wirklich öffentlich gemacht worden ist, aber auch heuer weiterlaufen wird, sollen Frauen junge Nachwuchskünstlerinnen aus allen Sparten unterstützen. In der bildenden Kunst, in der Literatur, und natürlich auch in der Musik. Bei mir war es im vergangenen Jahr Angela Tröndle, die ich versucht habe, bestmöglich zu unterstützen. Es geht in erster Linie darum, den Begriff des Mentoring in eine richtige Richtung zu lenken, dass dieser nicht als Nepotismus missverstanden wird, sondern genau als das, was er darstellt, nämlich Unterstützung.

Weil du das Mentorinnen-Projekt  angesprochen hast. Gerade in den letzten Jahren sind sehr viele herausragende Musikerinnen ins Rampenlicht gerückt. Warum hat dieser Prozess so lange gedauert?
Das ist einfach begründbar. Es handelt sich um eine logische Entwicklung. Erstens, man muss sehen, wann der Jazz bei uns eigentlich Einzug gehalten hat, Jazz ist ja noch eine relativ junge Musikform. Man muss fragen, in welcher Zeit man sich befunden hat. Es gab Wirtschaftskrisen, Kriege und so weiter. Dann war das Rollenbild der Frau auch ein anderes, nicht nur in der Musik, sondern generell. Es hat Zeit gebraucht, bis sich das alles wandeln konnte. Wichtig waren natürlich auch die  starken Frauenbewegungen, die viel in Bewegung gesetzt haben, bis zu einem Punkt, an dem das Ganze fast gekippt wäre, in diesen extremen Männerhass, der ja auch schwachsinnig ist. In der Zeit, in der Jazz in Amerika seine Hochkonjunktur erlebt hat, fand bei uns gerade der Weltkrieg statt. Frauen waren Trümmerfrauen, Männer waren zum Teil nicht vorhanden. Man war sicher nicht mit Musik beschäftigt, sondern mit dem Wiederaufbau. Irgendwann kamen dann doch die Ausbildungsmöglichkeiten und dann begann das langsame Herantasten. Und jetzt boomt es, weil es plötzlich schlagartig geht. Es gibt heute eigentlich alles, Bassistinnen, Sängerinnen – zu meiner Zeit waren wir eine Handvoll -, Saxophonistinnen und, und, und.

Welchen Ausblick auf eine Karriere kann man jungen Musikern heute geben?
Wenn ich meine Studenten früher gefragt habe, was sie wollen, so habe ich schon oft die Antwort bekommen: „Den Versuch einer Weltkarriere“.  Die Möglichkeit einer Weltkarriere ist heute aber nicht mehr gegeben. Es kann keiner mehr sagen: „Ich möchte berühmt werden.“ Dieser Wunschtraum kann sich einfach nicht mehr ausgehen. Ruhm kann es im Jazz nicht mehr in diesem Ausmaß geben, wie es er einmal stattgefunden hat. Eben aufgrund der enormen Breite.

Die Musiker sind heutzutage in bestimmten Kreisen bekannt, aber berühmt? Die einstmals Berühmten, wie etwa Joe Zawinul, sind in einer Generation zu suchen, in welcher es einfach viel weniger Musiker gegeben hat.  Wenn ich mir alleine die große Zahl an herausragenden Pianisten anschaue, spricht diese ja schon Bände. Ich glaube, der Berühmtheitsgrad ist abgelöst worden von einem unglaublichen „Großartigkeits-Grad“. Früher hat man noch sagen können: „Der Zawinul“, heute geht das aufgrund der Masse einfach nicht mehr.

Zum Abschluss. Wagst du einen Ausblick darüber zu treffen, wie die Musiklandschaft und damit auch der Jazz in Zukunft vielleicht aussehen könnten? Wie und in welcher Form neue Technologien die Entwicklungen bestimmen werden?
Ich glaube, wenn es mit dem Nutzen von Facebooks und ähnlicher Plattformen so weiter geht, könnte es dazu kommen, dass es zu einer teilweisen Vereinsamung des Eeinzelnen in einer großen Vernetzung kommt. Das heißt, die Leute werden immer mehr Zeit zu Hause verbringen. Da aber der Mensch ein soziales Wesen ist und nicht dafür geschaffen ist, dass er alleine bleibt, wird er in irgendeiner Form wieder  Kontakt zur Öffentlichkeit suchen. Sieht man die Sache so und erkennt man die Möglichkeiten, die eine solche Entwicklung mit sich bringen könnte, besteht die Hoffnung, dass die Leute wieder Lust auf Konzerte bekommen. Es besteht, so glaube ich, doch die Chance, dass der Live-Sektor wieder an Bedeutung gewinnen wird.

Wie sich die Musik im generellen entwickeln wird? Ich glaube, so wie bei vielen anderen Dingen, sie wird sich wiederholen. Es werden, weil schon fast alles irgendwie ausgereizt ist, wieder Dinge und Stile ausgegraben, die es vor langer Zeit schon einmal gegeben hat.  Vielleicht werden diese in ein neues Gewand gehüllt, aber was wirklich ganz Neues wird es vermutlich nicht geben. Mit Sicherheit wird das Ausreizen aller elektronischen Möglichkeiten nochmals an die Spitze getrieben werden. Ebenso werden die Musiker von Morgen von einer spielerisch bis dato nicht erreichten Virtuosität sein, die einfach nicht mehr zu toppen sein wird.

Auch bin ich mir sicher, dass sich die Musik in der Zukunft nicht mehr so einfach in Stile definieren lassen wird. Dass wir den Jazz von heute etwa, der schon so nur schwer einer einzelnen Kategorie zuzuordnen ist, überhaupt nicht mehr definieren werden können.

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