Der in Kairo geborene Komponist Hossam Mahmoud studierte an der Universität seiner Heimatstadt sowohl orientalische Musik als auch die europäische Musiktradition, außerdem Bratsche, die arabische Laute Oud und Musikpädagogik. Seine Kompositionsstudien setzte er 1990 in Graz bei Beat Furrer und in Salzburg bei Boguslav Schaeffer fort. Mahmoud lebt als freischaffender Komponist und Interpret in Salzburg. Am 6. September findet zur Eröffnung der Klangspuren Schwarz die Uraufführung des gemeinsam mit Herbert Grassl komponierten Werks “Eingeklemmt” statt. Sabine Reiter hat ihn zu seiner kompositorischen Arbeit befragt.
SR: Sie stammen aus Ägypten und komponieren zeitgenössische Musik. Wie ist das mit der europäisch geprägten Kunstmusik, ist sie in Ägypten präsent?
HM: Ägypten hat eine Sondersituation. Ägypten ist interessanterweise ein richtiges arabisches Land, vielleicht die Mutter der arabischen Länder, und gleichzeitig ein westliches Land. In Ägypten gibt es genauso arabische wie europäische Musik. Im Opernhaus gibt es zum Beispiel ein arabisches Musik-Ensemble und ein Symphonieorchester, beide Kulturen laufen parallel. Die europäische Kultur ist dort keine exotische Kultur.
SR: Also man kommt damit auch als Kind in Kontakt und wächst damit auf?
HM: Ja, absolut. Es hat sich aber in den letzten 25 Jahren viel verändert. Zuerst ging die Tendenz in Richtung Europa, aber seit 25 Jahren in Richtung amerikanische Popmusik. Die Kunstmusik ist jetzt leider vermischt mit der Popmusik, was ich sehr traurig finde.
SR: Ein weiteres Problem ist auch die Überlieferung der Kunstmusik, die ja hauptsächlich oral tradiert wird, und eher nicht aufgezeichnet?
HM: Klassische arabische Musik wird schon mündlich weitergegeben. Im Jahr 1932 gab es in Ägypten einen großen Kongress. Der ägyptische König hat damals sehr viele Musikwissenschaftler und Komponisten aus der ganzen Welt eingeladen, darunter waren Bartók, Hindemith, Hába, Leute aus der Türkei, aus dem Iran und anderen arabischen Ländern. Gegen Ende des osmanischen Reichs haben die arabischen Länder damit begonnen, ihre Musik zu sammeln und zu notieren, denn es gab ein totales Durcheinander. Seit dem Jahr 1932 wurde die Musik dann notiert und bewahrt.
SR: Was auch nicht ganz leicht ist, weil es ja sehr viel improvisierte Musik gibt.
HM: Ja, das gehört dazu. Ein Merkmal der arabischen Musik ist die so genannte Taqassim. Dieses Wort bedeutet “Aufteilung zwischen Komposition und Improvisation”. Die Improvisation ist eine der arabischen Musik eigene Form, und man findet sie in der Taqassim. Ich selbst versuche, sie in meiner Musik zu integrieren.
SR: Auf welchem Niveau kann man in Kairo zeitgenössische europäische bzw. “westliche” Musik studieren?
HM: Es gibt natürlich schon zeitgenössische Musik an der Musikakademie. Aber das Problem der zeitgenössischen Musik ist, genau wie hier in Österreich, so lange es keine großen Namen und Veranstaltungen wie Festspiele sind, werden die Konzerte nur von zehn, zwanzig Leuten besucht. Zeitgenössische Musik gehört zur geförderten Kunst. In der dritten Welt, zu der Ägypten noch gehört, gibt es leider kein Budget dafür. Das ist schon auch ein Problem unserer Zeit überhaupt. Gott sei Dank gibt es hier in Österreich noch Förderung zeitgenössischer Musik. In vielen Ländern wird da sehr gespart, und ich finde, das ist eine große Gefahr für die Kunst überhaupt.
SR: Was hat sie letztendlich nach Österreich gezogen?
HM: Unter anderem genau das, was ich gerade gesagt habe. Auf Österreich bin ich durch meinen Lehrer Ahmed Alseedi gekommen, er hat in Wien studiert und war damals Dirigent des Kairo-Symphonieorchesters. Er hat mir vorgeschlagen, nach Österreich zu gehen. Ich wollte ehrlich gesagt nicht, ich habe in Ägypten meine Familie und meine Freunde. Aber er hat mir gesagt, ich kann dir nicht mehr helfen, du musst einfach selber einen guten Komponisten suchen, bei dem du weiterstudierst. Damals hat mich Dobrowolski interessiert in Graz, er ist aber gestorben. Dann habe ich bei Beat Furrer und später bei Boguslaw Schaeffer studiert. Das war wirklich sehr wichtig für die Entwicklung meines Musikverständnisses. Ich finde, es gibt eine ganz besondere Haltung in Mitteleuropa in der klassischen Musik seit dem 20. Jahrhundert, vor allem nach dem Ende des 2. Weltkriegs. Sie hat keine “Heimat” mehr, es beginnt schon bei Debussy mit den asiatischen Elementen oder bei Messiaen mit indischen, bei Isang Yun und so weiter. Mitteleuropa ist heute ein wunderschönes Zentrum auf der Erde, wo es keine Nationalität oder keinen Nationalismus in der Musik mehr gibt.
SR: Kommen wir zu Ihrer eigenen Musik. Woher kommt die Idee zu einem Stück?
HM: Es ist so: Ich habe immer nach Themen für meine Kompositionen gesucht. Ich weiß erst seit ein paar Jahren, wieso ich das immer gemacht habe – die arabische Musik ist in erster Linie eine Gesangsmusik, das heißt, das Instrument folgt der Stimme, also eigentlich das Gegenteil von der europäischen Musik.
SR: Das hört man auch in ihren eigenen Kompositionen.
Sie arbeiten sehr oft mit der Paul Hofhaymer-Gesellschaft zusammen. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?
HM: Die Paul Hofhaymer Gesellschaft arbeitet fast nur mit Gesang, es gibt fast kein reines Instrumental-Konzert. Maria Hofmann, die ehemalige künstlerische Leiterin der Paul Hofhaymer Gesellschaft, hat bemerkt, dass mein Schwerpunkt auf dem Gesang liegt. Ich freue mich sehr über diese Zusammenarbeit. Mit der Hofhaymer Gesellschaft habe ich fünf Projekte realisiert, die zu meinen schönsten Erlebnissen in der Zusammenarbeit mit einem Musikveranstalter gehören. Ich habe sehr viel von Maria Hofmann gelernt, was die europäische Gesangsphilosophie betrifft.
SR: Wie kommen Sie auf ihre Texte, beispielsweise beim Prophet nach Khalil Gibran oder bei Ein lebendig Wesen nach Goethe?
HM: Die Hofhaymer Gesellschaft entscheidet, was gespielt wird. Sie schauen sich zuerst an, wo die Stärken des Komponisten sind, und schlagen dann verschiedene Themen vor, ich konnte mich also schon auch entscheiden. Manchmal stand am Anfang eine Idee wie bei Enigma, wo der Ausgangspunkt Dufay war.
SR: Dufay und arabische Musik wie kommt das zusammen?
HM: Also bezüglich Dufay habe ich zweimal mit der Hofhaymer Gesellschaft zusammen gearbeitet. Das erste Mal war bei Enigma, das war ein Stück über Ettore Majorana, das ist ein Physikwissenschaftler, einer der ersten, die gespürt haben, dass die Arbeit der Physiker in den 30er Jahren zur Atombombe führen wird. Er ist plötzlich verschwunden, bis heute weiß man nicht, wohin, deswegen Enigma, was ja “Rätsel” bedeutet. Wir haben es fünfzig Jahre nach den Atombomben in Hiroshima und Nagasaki uraufgeführt. Ich habe in diesem Stück verschiedene Musikkulturen vermischt. Das war das erste Mal, das ich so etwas gemacht habe. Ich habe ein fertiges Stück von Dufay genommen und es mit Vierteltönen bearbeitet, ohne Rhythmus oder Identität zu ändern. Ich habe auch Stimmen dazugegeben und es gibt auch improvisatorische Teile. Professor Hofmann hat mir damals nur das Buch von über Ettore Majorana gegeben. Sie hat gesagt, lesen Sie das und sagen Sie, ob sie damit etwas anfangen können. Dann hat die Idee sich entwickelt, verschiedene Musik, egal ob von Dufay oder von mir, und verschiedene Texte. In “Enigma” ist alles gleichgültig: Ob die Musik von einem heute lebenden Komponisten oder von Duffay ist, ob Pascal spricht oder Al-Maarri, ein altes Lied aus der japanischen Volksseele erklingt oder Töne aus dem arabischen Raum, welches Tonsystem gilt, ob Ordnung oder Chaos vorherrscht. Es gibt aber eine unumstößliche Tatsache: dass wir alle verschwinden können. Nicht durch die Natur, auch nicht freiwillig wie Ettore Mayorana, aber doch durch uns selbst (uns Menschen). Und wie? Durch unsere größten Köpfe der Wissenschaft. Was immer aber auch ausgelöscht wurde: Was bleibt, ist die Kunst, ist die Musik. Die Musik kann verbinden und vereinen, im Gegensatz zu dem, was die Politik macht. Die Politik kann trennen und zerstören. Ich habe dieser Geschichte entnommen, dass Majorana mit der politischen Situation damals nicht einverstanden war, mit dem italienischen Faschismus, dass er mit Absicht verschwunden ist, weil er nicht weitermachen wollte. Seine Nachfolger haben Nobelpreise bekommen, als Belohnung für die Atombombe, die sie geschaffen haben.
SR: Sie haben sehr oft “engagierte” Themen, wie bei Enigma die Gefährdung des Menschen durch den Menschen, oder in anderen Stücken die Vielfalt der Kulturen und ähnliches mehr. Würden sie sich als engagierten oder politischen Komponisten bezeichnen?
HM: Nein, mit der Politik stehe ich auf sehr schlechtem Fuß. Ich habe meine eigene Philosophie zum Verständnis der Welt, also wie die Menschheit funktioniert in der Geschichte. Diese hat drei Ebenen, die erste ist die Politik und die ist sehr wichtig. Hier werden Entscheidungen getroffen, ohne die kann das System einfach nicht funktionieren. Das geht vom einfachen Beamten bis hin zur Wirtschaft, zu Strukturen, Gesetzen usw. Aber das ist die praktische, materialistische Seite. Was wir brauchen, was das menschliche Herz braucht – da gibt zwei weitere Ebenen. Die erste ist die Religion und die zweite ist die Kunst. Die sind bis zum 19. Jahrhundert immer parallel gegangen, aber mit der starken Entwicklung der Wissenschaft hat sich die Religion nicht mitentwickelt. Diese Entwicklung hat eigentlich auf der ganzen Erde gestoppt, nicht nur an einem bestimmten Ort. Dann bleibt meiner Meinung nach nur die Kunst, was die menschliche Seele oder menschlichen Gefühle betrifft. Sie soll einfach die Aufgabe der Religion weiter übernehmen, bis diese sich theologisch weiter entwickelt.
SR: Sie haben ja auch schon eine Messe geschrieben, das war ein Kompositionsauftrag für eine Messe zu Christi Himmelfahrt von der Pfarrkirche Heiligste Dreifaltigkeit Villach-Völkendorf, die 2006 uraufgeführt wurde. Wie kam es dazu, dass Sie als Moslem eine christliche Messe schreiben?
HM: Mit ein Grund war, was ich vorher angedeutet habe. Der Vorteil der Musik ist, dass sie keine Grenzen kennt, keine Religion, sie kann alles ausdrücken, deswegen bevorzuge ich die Musik in der Kunst. Sie kann auch viel besser den Menschen helfen, mit Vorsicht und mit vollem Respekt auch über die Religionen hinweg, zur Verständigung beizutragen. Sie tut mehr als die Religionen – ein Pfarrer oder ein Imam sind mit Ihrer Religion begrenzt, aber ein Komponist kann das überschreiten. Was diesen Auftrag betrifft – der Pfarrer Peter Deibler von der Heiligen Dreifaltigkeit in Villach macht immer wieder zu Christi Himmelfahrt eine Uraufführung mit Neuer Musik. Er hat mehrere meiner Stücke vorher gehört. Ich habe ihn dann auch kennen gelernt und er hat gefragt, ob ich diese Messe schreibe. Ich habe mich sehr gefreut, es war eine große Ehre für mich, dass ich das machen durfte. Er wollte unbedingt Elemente aus der arabischen Musik dabei haben, und so habe ich selber arabische Laute gespielt.
SR: Sie verwenden auch oft die arabischen Bezeichnungen Taqassim und Tarab für ihre Stücke, wie weit fließen diese Modelle in ihre Kompositionen ein?
HM: Das Wort Taqassim ist Plural von Taksim, das heißt Aufteilungen oder Aufteilung. Gemeint ist damit die Aufteilung zwischen Komposition und Improvisation. Es wird öfter der Fehler gemacht, das mit dem Jazz zu vergleichen, aber das ist eine sehr alte Form, die seit tausendfünfhundert Jahren existiert. Es beginnt zum Beispiel mit einer strengen A-B-A-C Form und dann kommt ein Taqassim und der Interpret lässt sich davon inspirieren, was vorher war und was nachher kommt. Er verbindet beides und in der Mitte kann er sein Können zeigen, aber es geht interessanterweise um sein Können, wie er mit dem Tonsystem umgeht, nicht um seine Virtuosität. Man könnte sagen, der Interpret ist halb Komponist und halb Interpret, denn er erfindet wirklich Musikstücke.
SR: Sie haben Taqassim für verschiedene Besetzungen geschrieben. Sind die alle so aufgebaut?
HM: So ist das. Aber es gibt eine bestimmte Begrenzung bei der Improvisation, weil sonst ein Chaos zustande kommt.
SR: Und wie ist das mit den Tarab?
HM: Das hat schon einen Grund, warum ich zu den Tarab gekommen bin. Es bedeutet “ästhetisches Vergnügen, das von der Musik kommt”. Dieses Wort gibt es in der lateinischen Sprache nicht. Da habe ich schon viele Fachleute gefragt und selbst herumgesucht, aber das gibt es wirklich nicht. Dieser Tarab kann nur vom arabischen Tonsystem kommen und dieses ästhetische Vergnügen ist vielleicht ähnlich wie jenes, das man unter Drogen erlebt – das habe ich allerdings noch nie probiert. Der Komponist schafft es, dass der Zuhörer zu diesem Vergnügen kommt. Das braucht eine bestimmte Art von Zeitlosigkeit, keine Verbundenheit mit etwas Materialistischem. Es ist rein Musik für Musik – es hat kein Thema, kein bestimmtes Gefühl.
Zu diesem Tarab bin ich durch den Irakkrieg gekommen. Ich habe bemerkt, dass in der Zeitung Menschen als Terroristen bezeichnet werden, und Mörder als Helden. Ich war verwirrt. Dann habe meinen Fernseher nicht mehr eingeschaltet, keine Zeitung mehr gelesen und gesagt, ich mache etwas, das die menschliche Seele feiner macht und sie erhebt, etwas, das weit weg von der Politik ist und wo man wirklich einen schönen Moment erleben kann. Bei diesem Tarab habe ich wirklich versucht, dass die Zuhörer zu diesem ästhetischen Vergnügen kommen. Es hat manchmal geklappt, manchmal nicht. Es hängt von der Aufführung ab.
SR: Ihnen ist ja der Moment des Musikerlebens, und in diesem Zusammenhang auch der Aufführungsraum besonders wichtig und sie machen deshalb auch wenige Aufnahmen.
HM: Raum und Zeit – das ist der Schwerpunkt der ägyptischen Philosophie. Die Ägypter haben früher gegen die Zeit gekämpft, im Gegenteil zur griechischen Philosophie, die gegen das Schicksal gekämpft hat. Das ist immer ein Thema bei mir, dass der Zuhörer im Moment stehen soll, in Zeit und Raum. Ich habe mich fast immer geärgert, wenn ich die Aufnahmen gehört habe, weil das dann einfach fehlt. Die Musik ist eigentlich dafür geschaffen, dass das Publikum sitzt und hört und eine Kommunikation zwischen verschiedenen Menschen entsteht.
SR: Sie haben gerade als Interpret an der Oud an einer Veranstaltung mit dem Namen Musik als Heilkunst teilgenommen. Wird Musik auf der Oud im arabischen Raum als Heilmittel eingesetzt?
HM: Nur in der Vermittlung durch den Tarab. Die Araber haben früher wirklich die Menschen auch durch die Musik geheilt, aber diese Kultur ist verschwunden. Es gibt jetzt Untersuchungen darüber, aber interessanterweise hier in Wien oder in München.
Musik als Heilkunst hat in Fratres stattgefunden, das ist ein Dorf mit 37 Einwohnern, beim Konzert waren 120. Sie sind extra wegen dieser Thematik gekommen. Es wurden schöne Gedichte von J. Ch Bürgel vorgelesen und “Musik und Temperament”, ein Vortrag von Andrea Korenjak. Schwerpunkt war die Liebe, und die positive Wirkung der Liebe auf die menschliche Seele. Ich habe mich davon inspirieren lassen, eigentlich hatte ich ein ganz anderes Programm vorbereitet, aber dann habe ich ein Taqassim u.a. gespielt, der zu dem Thema passt. Im zweiten Teil habe ich gesungen, was ich normalerweise nicht mache, ein Liebeslied. Es war sehr interessant, dass die Leute – Österreicher, die die Sprache nicht verstehen – dann bei Wiederholungen mitgesungen haben. Sie waren ganz dabei, auf einer ganz anderen Ebene. Wir haben alle Kunst “miteinander ausgetauscht”, es war ein wunderschönes Erlebnis.