mica-Interview mit Genia Kühmeier

Man ist selbst das Instrument – Bei den Salzburger Festspielen singt Genia Kühmeier in diesem Jahr die Pamina. Mit dem mica sprach die international bekannte und hochgeschätzte Sopranistin über Starkult, Mozart und Seelenstriptease. Das Interview führte Markus Deisenberger.

Sie haben spät mit dem Gesangsstudium begonnen, erst mit 19 Jahren und ernsthaft überhaupt erst mit 21. Das legt nahe, dass Sängerin nicht unbedingt der Traumberuf für Sie war, der er für viele ist.
Im Nachhinein würde ich sagen, der Zeitpunkt des Beginns war entsprechend der Stimmentwicklung gerade richtig gewählt. Mit sechzehn beginnt man normal, aber das ist manchmal gefährlich, weil sich die Stimmbänder noch entwickeln. Für mich hat es total gepasst so.

Wie kam es überhaupt zur Entscheidung, singen zu wollen?
Ich hätte eigentlich Pianistin werden sollen. Meine Eltern, beide Klavierlehrer, hätten das gerne gesehen. Ich habe dann ja sogar Preise gewonnen als Pianistin. So schlecht war ich also gar nicht.

Nützt Ihnen dieses Können heute noch?
Fürs Einstudieren schon, indem ich mir die ganze Partie genau anschauen kann. Für den Hausgebrauch nicht. Ich würde mich auch nicht mehr vor die Öffentlichkeit stellen mit meinem Können. Zum Singen bin ich eigentlich aus Faulheit gekommen, weil ich nicht mehr sitzen wollte und konnte.

War das nicht ein enormer Irrglaube? Für Singen braucht man zwar kein Sitzfleisch, aber doch eine andere Disziplin.
Schon, aber es ist flexibler, man braucht eben nicht die ganze Zeit herumzusitzen. Am meisten hat mich das Sitzen genervt und das ständige auf Tasten Geklopfe.
Das Singen ist mehr ein Weg in sich selber. Man ist selbst das Instrument und das Singen eine Suche, das Instrument so zu bauen, wie es optimal ist. Das fand ich spannender als mich an ein fertiges Instrument zu setzen. Sich in Text und Wort auszudrücken ist als Ausdrucksmittel ja auch viel direkter als das Klavier. Als ich dann die Aufnahmeprüfung machte, hat den Namen Kühmeier noch jeder gekannt, weil meine Mutter auch einmal Gesang studiert hatte.

Hat das etwas gebracht?
Nein überhaupt nicht. Das war ja mein Schmäh: Ich habe mir gedacht, ich kann mich durchschummeln, weil meine Mutter so gut war. Mit Sechzehn wurde mir aber dann beschieden, dass meine Stimme zwar in Ordnung, aber insgesamt zu mädchenhaft sei. Ich hab dann einfach zwei Jahre gewartet, dann war sie reifer. Die Stimme als Instrument ist eine lebendige Sache. Es gilt, den eigenen Weg zu finden in der Stimme.

Die Attribute, mit denen Ihr Gesangsstil beschrieben wird, sind meist sehr blumig. Von behänder Geläufigkeit, von lyrischer Wärme, feinem Perlmuttschimmer ist da die Rede. Was in den Schilderungen allerdings immer wieder kommt, sind die beiden Attribute jugendlich und unschuldig. Trifft das das Bild, das Sie selbst von Ihrem Gesangsstil haben? Und kann man diese Klangfarbe beeinflussen?
Die Stimme bringt sicher einmal viel mit. Ich habe aber an meiner Technik dahingehend gearbeitet, dass die Stimme sehr obertonreich ist und die Akustik im Kopf zum Tragen kommt. Das macht die Stimme viel jugendlicher als wenn man die Stimme im Hals zu decken beginnt, was reifer und älter wirkt. Der andere Aspekt ist, dass ich mir mit Rollen, die Naivität verlangen wie bei der Pamina, besonders leicht tue. Das Unschuldige, Unbelastete liegt mir, obwohl es mich insgeheim zum Dramatischen hinzieht. Andererseits: Locker, lustig tralala ist auch nicht so meines.

Verändert sich die Stimme? Oder anders gefragt: Verändert man sie aktiv, um später einmal andere Rollen zu singen?
Was sich verändert, ist, dass man versucht, nicht nur im Kopf zu bleiben. Das Problem ist ja, dass man zuallererst über das Orchester drüber kommen muss. Daher muss man zuerst einen Lehrer finden, der einem genau das beibringt. Wenn man das aber kann, entwickelt sich die Stimme natürlich weiter. Das hat mit dem Körper, mit der Atmung zu tun. Man versucht die Stimme langsam aus dem Kopf nach unten zu arbeiten.

Kann man das Zwanglose, die Gabe, nicht an das Singen selbst zu denken, sondern sich ganz der Interpretation zu widmen, erlernen?
Man lernt das und hat das irgendwann automatisiert. Sobald man mit Bühnenprüfungen beginnt, muss das sitzen.

In der Mailänder Scala rauszugehen und den ersten Ton zu singen – voll und schön, die Zuhörer beeindruckend – davon träumt jeder Sänger. Wie ist das dann, wenn es so weit ist? Ist man da konzentriert oder passiert das wie in Trance?
Es ist alles abrufbar. Im Hirn – so stelle ich mir das vor – gibt es eine Aktenfalte, wo alles drin ist. Es ist wie beim Autofahren. Da tut man sich mit der Kupplung mitunter auch schwer. Beim Singen ist es manchmal ganz ähnlich. Die einzelnen Komponenten zusammen zu bringen und alle gleichwertig auf die Reihe zu kriegen – darum geht es.

War das bis dahin ein harter Weg?
Insofern, als ich technisch einmal einen falschen Weg eingeschlagen hatte und Stimmbandprobleme bekam. Dazu kommt es immer dann, wenn man sich verläuft und nur mit Kapital singt und nicht mit den Zinsen, dh sich zu wenig auf die akustischen Hilfsmittel besinnt. Das führt dann über Schwellungen und Ödeme bis hin zu Knoten. Um das zu verhindern, ist Technik das A und O. Es gibt unzählige Sänger, bei denen du hörst, dass sich sie schon zum wiederholten Male haben operieren lassen. Das gehört zum Alltag eines Sängers. Ich aber habe mir zum Ziel gesetzt, dass ich es nie so weit kommen lasse.

Arbeitet man aktiv daran, die Stimme in eine Richtung zu entwickeln, die es einem ermöglicht, sagen wir in zehn, zwanzig Jahren andere Projekt in Angriff zu nehmen als es jetzt der Fall ist?
Schon, doch. Derzeit wirkt der Klang – wie Sie zitiert haben – strahlend, leuchtend. Ich versuche das in Zukunft mit dem Körper mehr und mehr abzurunden. Mein Traum ist das italienische Fach: Arabella, die Marschallin im Rosenkavalier. Da braucht man einen breiten Rücken dafür.

Sie haben gesagt, das Unschuldige und es auf der Bühne zu transportieren, liege ihnen. Früher war es so, dass sehr viele Sänger starke schauspielerische Defizite hatten. Heute ist eine so starke Trennung zwischen Gesangskunst und schauspielerischen Fähigkeiten, wie sie früher einmal gang und gäbe war, nicht mehr möglich. Eine Weltkarriere ohne herausragende schauspielerische Fähigkeiten scheint undenkbar.
Das stimmt. Heute hat das so einen Stellenwert bekommen. Wenn ich mir alte Videoaufnahmen ansehe, denke ich mir schon oft: Wow, die hatten es leicht. Aber natürlich ist Singen schon an sich eine Knochenaufgabe. Zusätzlich dazu auch noch gut schauspielern zu können, ist eine besonders große Herausforderung. Das Musical zeigt vor, dass die Kombination sehr, sehr beliebt ist. Der einzige Unterschied ist, dass die mit einem Mikro ausgestattet sind. Wenn ich beim Singen nicht so viel geben muss, ist es natürlich leichter. Aber der Anspruch insgesamt ist doch deutlich gestiegen.

Wenn man eine Netrebko in La Traviata sieht, ist man geneigt, die Knochenarbeit, von der Sie gesprochen haben, augenblicklich zu unterschreiben.
Vor allem, wenn man sich vorstellt, in welchen Stellungen sie singt. Im Liegen, im Sitzen, im Stehen… Das muss man sich im Vorfeld genau überlegen. Die Gefahr ist nämlich sehr groß, dass man durch allzu häufige Positionswechsel musikalische Einbußen erhält, dass die Töne nicht mehr so sitzen wie sie es tun würden, wenn man im Stehen voll stützt…

Wäre eine mediale Präsenz a la Anna Netrebko, ein solcher Starkult, denn überhaupt etwas für Sie?
In diesem Ausmaß möchte ich das auf keinen Fall. Ich habe Familie. Ich bin dankbar für alles, was bei mir schon passiert ist. Natürlich wünscht man sich einmal eine schöne Platte. So weit würde ich schon noch gehen. Man braucht schon einen Namen, um gut platziert zu sein und später einmal weniger Sorge zu haben.

Aber wenn das Solo-Abum dann raus kommt, kann man dann die mediale Maschinerie überhaupt noch aufhalten? Dann verselbständigen sich die Dinge doch unter Umständen.

Kann schon sein, aber es liegt immer am Künstler zu sagen: So viel will ich und so viel will ich nicht. Da gab und gibt es schon einige Sänger, die es geschafft haben klare Grenzen zu setzen. Man muss ja nicht bei jeder Werbeagentur dabei sein. Das Künstlerische mit dem Medialen zu vereinbaren ist sehr schwierig. Eine Grenze würde ich mir schon setzen. Alles würde ich nicht machen.

Mozart und Kühmeier scheinen untrennbar miteinander verbunden, wenn man sich das Programm anschaut, das Sie absolvieren.
Das fing mit dem ersten Wettbewerb, den ich gewann, an.

Beruht die Verbindung auf einer besonderen Vorliebe?
Schon ja. Mozart liegt mir sehr. Alle Rollen, die ich bisher gesungen habe – Pamina, die Ilia in Idomeneo, Sandrina – mochte ich. Aber mich rein auf Mozart abstempeln zu lassen, möchte ich nicht. Obwohl es selbst im Mozart-Fach noch einiges zu machen gibt: Die Donna Elvira, die Gräfin in Figaro.

Es ist ja auch nicht so, dass Sie nur auf Mozart abonniert wären. Bald schon sind Sie als Carmen zu sehen…
Stimmt. Aber auch Strauss ist genau meine Linie, für meine Stimmlage sehr gut. Da fühle ich mich sehr wohl.

In Kürze werden Sie bei den Salzburger Festspielen die Pamina singen. 2003 schon haben Sie die Pamina an der Staatsoper gesungen. 2006 haben Sie die Pamina bei den Festspielen mit den Wiener Philharmonikern unter Muti aufgenommen. Das waren doch recht unterschiedliche Produktionen. Entwickelt man, wenn man eine Rolle schon in so unterschiedlichsten Inszenierungen gesungen hat, eine persönliche Vorliebe dafür, wie man die Rolle am liebsten auslegt? Oder anders gefragt: Wenn Sie die Zauberflöte selbst inszenieren würden, in welche Richtung würde das gehen? In die phantasievolle oder dunkle? Modern?
Schwierige Frage, die Sie mir da stellen. Ich habe von allen Produktionen etwas mitnehmen können. Die Pamina, die ich jetzt singe, ist eine Mischung, ein Resultat aus allen bisherigen. Jeder Regisseur bringt einen neuen Aspekt ein und irgendwann spiegelt sie dann hoffentlich alle diese Aspekt wider.

Das heißt, die Interpretation wächst?
Ja, die Rolle reift. Mehr und mehr wird die Geschichte rund, der Zugang wird immer leichter. Aber um auf die ursprüngliche Frage zurück zu kommen: eine Inszenierung kann ich nur für meinen eigenen Part, nicht für das Gesamte übernehmen. Die Zauberflöte ist so schwierig zu inszenieren…

Je mehr die Rolle wächst und je runder das Gesamtbild wird, wird es da nicht auch umso schwieriger, sich neuen Aspekten zu öffnen?
Das kann schon vorkommen, aber dann spricht man ganz offen darüber. Wenn man mir erklären kann, was man sich bei einer bestimmten Facette denkt und ich das nachvollziehen kann, nehme ich das gerne entgegen. Wenn es für mich Sinn macht und nicht gegen das Stück geht, bin ich immer bereit. Ist aber noch nie passiert. Dass ich Schwierigkeiten hatte, mich Neuem zu öffnen, meine ich. Meistens ist es unglaublich spannend, sich auf etwas Neues einzulassen. Man muss für Neues auch immer wieder sehr offen zu sein, es aufsaugen!

Ich habe gelesen, in der Auswahl Ihrer Rollen seien Sie sehr bedacht darauf, dass nicht zu schnell zu Großes passiert, dass sie also großes Augenmerk auf eine langsame Entwicklung legen, die Ihnen Raum für Entfaltung gibt?

Das hat eher mit den Rollen zu tun, die an einen herangetragen werden. Die verkaufte Braut etwa. Da ist schon mehr Dramatik in der Stimme, das war mir dann zu gefährlich. Muti etwa wollte mit mir das Verdi Requiem machen. Da muss stimmlich sehr, sehr  viel da sein, sie muss gut entwickelt sein. Und obwohl ich schon sieben Jahre im Geschäft bin, sehe ich mich immer noch in einer Entwicklung. Da passe ich sehr auf. Peu a peu. Die Riesensachen hebe ich mir für später auf.

Andererseits wächst man mit der Aufgabe, wenn sie fordert.
Sich fordern muss man, aber nicht daneben schießen. Die Electra in Idomeneo etwa würde ich niemals singen. Man muss seine Grenzen kennen.

Apropos Grenzen: Wie ist Ihr Verhältnis zu Salzburg?
Salzburg ist mein Zuhause, ich bin hier direkt unter dem Untersberg aufgewachsen. Die gute Landluft geht mir ab. Ich lebe jetzt seit über zehn Jahren in Wien.
Wenn ich nach Salzburg komme, dann zu Festspielzeiten. Das ist eine völlig andere Dimension, das fühlt sich nicht so an wie das Zuhause von früher.

Am Mozarteum ist man eine von vielen, dann ist man auf einmal der Star. Ist das nicht auch ein bisschen merkwürdig?
Die Schulzeit war bei mir eher negativ verhaftet. Ich hatte immer Probleme in der Schule, war eher ein Einzelgänger. Ich habe in Salzburg eher ein Eremitenleben geführt, hatte nie so eine starke Verwurzelung. Heute genieße ich das Idyllische Spezielle, das diese Stadt hat. Mozart kommt aus dieser Stadt. Auch er hatte es hier nicht leicht. Aber auch wenn ich nicht auf Kriegsfuß mit Salzburg stehe, so richtig 100%ig glücklich war ich nie. Eine Sandkistenfreundin ist mir allerdings erhalten geblieben.

Das klingt so, als könnten Sie eine Rückkehr kategorisch ausschließen.
Im Gegenteil. Wieder nach Salzburg zu gehen, ist schon eine Überlegung. Mit meinem Mann und unserem dreijährigen Sohn suchen wir außerhalb von Salzburg in der Nähe vom Flughafen nach einen Objekt, wo wir dem Großstadtrummel ein wenig entgehen. Und für einen Sänger ist die Luft ein sehr wichtiges Thema. Manchmal habe ich aufgrund des Schmutzes eine belegte Stimme. Ich hoffe mir, dass sich das ändert, wenn ich von Wien weggehe.

Ist es schwierig, Karriere und Kind unter einen Hut zu bringen?
Das wurde schon heftiger. Wenn ich nicht solch einen Mann an meiner Seite hätte, wäre es fraglich, ob ich es packen könnte.

Werden Sie wieder Liederabende bestreiten?
Schon, aber das ist massig Arbeit…

Sie haben einmal gesagt, die Vorbereitung eines Liederabends sei spannender als die  einer Opernpremiere.
Insofern, als man selber eine Art Oper entwickeln muss.

Dh es geht um eine ganz eigene Dramaturgie?
So ein Liederabend besteht aus 25 Stücken und jedes dieser Stücke ist ein eigener Mikrokosmos. Und das muss man bei jedem Lied aufs Neue aufbauen, was sehr sehr heftig ist. Von einem Lied zum anderen Lied wandern, immer wieder neue Spannung aufbauen, das ist sehr schwierig und anstrengend. Bei der Oper hat man wenigstens einen Abtritt und geht einen trinken.

Sie können sich so schnell entspannen, wenn Sie abgetreten sind?
Es gibt Kollegen, die können das, die gehen von der Bühne, unterhalten sich zehn Minuten, bekommen ihre Zeichen, gehen wieder auf die Bühne und geben alles. Ich gehöre nicht dazu. Ich kann schon etwas trinken, versuche mich aufzupeppeln, brauche aber die Konzentration, schaue mir die Partie an, dh ich muss drinnen bleiben. Manche schaffen das sicher besser, ab- und anzuschalten. Nicht nicht. Im Lied etwa kann man das gar nicht. Da steht man die ganze Zeit vor dem Publikum. Ich hatte einmal in der Anfangszeit meiner Liederabendpraxis in Salzburg im Wiener Saal ein totales Blackuot. Da hatte ich ein Strophenlied von Schubert, „Auf dem Wasser“ zu singen. Und ich musste drei Mal damit anfangen. Das war wenigstens nicht im großen Saal, aber immerhin vor ungefähr achtzig Leuten. Schließlich kam jemand mit Programmheft, um mir den Text zu zeigen. Ich konnte die erste Strophe, aber die zweite ist mir beim besten Willen nicht eingefallen. Da möchte man am liebsten in der Versenkung verschwinden. Seitdem habe ich kein Strophenlied mehr gesungen, so traumatisiert war ich.

Bei einem Strophenlied läufst du immer Gefahr, dass du irgendwann nicht mehr weiter weißt. Alle haben gelacht und einer hat gerufen: “Das macht sie menschlich.” Da muss man eine Konzentration aufbringen, die man bei der Oper so nicht hat. Ich versuche das so vorzubereiten, dass es passt. Wenn ich in der Erzählung bin, dann gelingt es mir glaube ich ganz gut, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Das merkt man selber ganz gut an den Stellen, in denen es plötzlich so leise ist, dass man eine Stecknadel fallen hört. Oder in Pausen, in denen Atemlosigkeit herrscht. Dafür habe ich nie kämpfen müssen. Ich glaube, das bekommt man mit. Dass man die Leute zu sich zieht, ohne krampfhaft zu versuchen, sie zu beeindrucken oder ihnen die eigene Welt aufzudrücken, sondern indem man ganz bei sich bleibt und sie in seine Welt reinzieht. Das ist ja oft das Missverständnis. Ich versuche ein Bild zu malen und die Leute haben die Möglichkeit, rein zu gehen oder nicht.
Ich mag das Aufgesetzte nicht. Wenn jemand beginnt zu tun als ob, kann ich das überhaupt nicht haben. Es geht um das pure Erleben und nicht darum, so zu tun als ob. Das möchte ich ja selbst auch nicht so präsentiert bekommen. Natürlich laugt es einen mehr aus, es ernsthaft zu betreiben. Das ist der Seelenstriptease, über den sich die meisten nicht drüber trauen. Man muss es dem Menschen ermöglichen, in die Seele reinzublicken. Für viele ist das eine unüberwindbare Barriere.

Das gelingt wahrscheinlich an manchen Abenden besser als an anderen?
Das kommt darauf an, wie man als Mensch drauf ist. Wenn man verletzlich ist, wird man sich auch schützen wollen.

Aber es gibt doch so etwas wie Formkurven. Oder man erwischt einfach einen schlechten Tag, an dem man sich nicht so öffnen kann.
Wenn es mir schlecht geht, dann geht es mir vor dem Auftritt hundsmiserabel, aber kurz vorher gelingt es mir schon ganz gut umzuschalten. Es sind ja auch Leute da, die enorm viel Geld für die Karten zahlen. Mein Mann hat einmal gemeint, dass ich nach einem Streit in den dramatischen Sachen tiefer, aber in den lustigen Sachen wenig überzeugend war. An anderen Tagen wieder gelingt einem vielleicht die Leichtigkeit besser und die Tiefen bereiten Schwierigkeit.

Dh die Grundstimmung beeinflusst die Performance in die eine oder andere Richtung.
Genau, aber man muss versuchen drüber zu stehen und gegenzusteuern. Man kann sich auf der Bühne nicht nur von Emotionen leiten lassen.

Eine Einschätzung, die auf Erfahrung beruht.
So viele Liederabende hab ich noch nicht gegeben. Ich mache mehr Opern, Messen, Orchesterkonzerte. Liederabende habe ich bisher zwischen 10 und 15 gegeben.

Wo soll es in der Oper hingehen?
Langsam sollen die dramatischeren Sachen kommen. Wenn es hinkommt, in zehn fünfzehn Jahren  einmal eine Titelrolle, die Arabella oder die Daphne, die Marshallin. Elektra wäre auch spannend. Auch wenn sie heftig und sehr dramatisch ist, würde sie mich sehr reizen. Die Liu in La Boheme. Das wären alles Sachen, die mich herausfordern.

Und in naher Zukunft?
Ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Muti. Auf alles, was mit Muti geschieht, freue ich mich ganz besonders. Er gehört zu jenen Dirigenten, die genau wissen, was sie wollen, sich mit Stimmen auskennen und es schaffen, den Sänger zu begleiten, was nicht viele können. Er geht mit dem Sänger mit und das spürt man. Auch Thielemann, Welser-Möst oder Harnoncourt schaffen das. Da fühlt man sich als Sänger besonders wohl. Wenn man in der Musik dieselbe Sprache spricht, spürt man das energetisch. Muti hat eine Ausstrahlung, die alle in seinen Bann ziehen kann. In dieser Hinsicht ähnelt er vielleicht Karajan am meisten.

Fotos Genia Kühmeier: Johannes Ifkovits

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Genia Kühmeier