mica-Interview mit Flip Philipp

Als Schlagwerker und Vibraphonist ist Friedrich „Flip“ Philipp-Pesendorfer in vielen musikalischen Kontexten anschlussfähig, ob in der Klassik bei den Wiener Symphonikern oder im Jazz und anderen zeitgenössischen Musikformen in Form seiner vielfältigen Live-Tätigkeit und seinen CD-Projekten. Kompositorisch und als Arrangeur lotet er gerne das weite Feld zwischen Jazz und Klassik („Third Stream“) aus. Im Gespräch mit Günther Wildner berichtet Flip Philipp von Lieblingsdirigenten, Seelenbalsam im Land des Lächelns, nie konsumiertem Kompositionsunterricht und dem Ball mit Joe Zawinul

Wer ist dein Lieblingsdirigent?
Flip Philipp: Georges Prêtre, er hat mich von allen am meisten beeindruckt, weil er kaum dirigiert, dafür nebulose Bewegungen ausgeführt hat – „verrückt“ in einem ganz positiven Sinn! Man muss dabei als Musiker das Stück kennen, dann funktioniert es. Er ist sehr impulsiv, unberechenbar und schreit ins Orchester hinein, schaut die MusikerInnen direkt an – irgendwann weiß man dann, was er meint … Damals war ich neu bei den Wiener Symphonikern, frisch nach dem Studium, da habe ich eine Anlaufzeit gebraucht. Prêtre geht vor wie ein Improvisator, er spielt mit der Musik, das Stück klingt nie gleich, und was dann im Konzert rüberkommt, ist enorm, oft Magie. Du musst als Musiker immer zu 100% bei ihm sein, das ist ein besonderer Anreiz für jeden, der mit ihm musiziert.

Unter welchem Dirigenten würdest du noch gerne spielen?
Flip Philipp: Unter einem der verstorbenen, z.B. Karajan, um zu überprüfen, ob es so toll war, wie alle sagen.

Warum gibt es dieses Delay zwischen der Zeichengebung des Dirigenten und dem Klang?
Flip Philipp: Die Bläser im Orchester atmen, so kommt die Verzögerung zustande. Das Kollektiv weiß, wann diese Eins kommt. Das lernt man. Am Anfang fällt man immer wieder rein, was als Schlagzeuger besonders unangenehm ist. Manche Dirigenten wollen das aber nicht, z.B, hatten wir unlängst so einen Kollegen aus Finnland. Er wollte, dass wir genau nach seinem Schlag spielen, aber das funktioniert nicht. Da ist die Tradition stärker. Die Amerikanischen Orchester spielen eher weiter vorne, die deutschen und österreichischen hinten.

Wie begann es bei dir mit der Jazz-Harmonik und den Stabspielen?
Flip Philipp: Im klassischen Schlagwerkstudium hatte ich natürlich keinen Vibraphonlehrer. Also habe ich fürs Vibraphon und den Jazz begonnen, mit meinem alten, geschwindigkeitsverstellbaren Kassettenrekorder Aufnahmen zu transkribieren, und genau gehört, welche Töne über welchen Akkorden verwendet werden, wie die Phrasierung gehört usw. Anders geht es auch nicht, in den Harmonielehrebüchern stehen die Feinheiten nicht drinnen.
Fürs Erlernen des Instruments habe ich mir Musik von Joh. Seb. Bach hergenommen, z.B. die Inventionen für Klavier, Partiten, Sonaten, auch Musik für Cello. Die moderne Originalliteratur für Marimbaphon und Vibraphon ist nicht sehr umfangreich und hat mir auch nie besonders gefallen.
Die Notation – ganz allgemein – ist ja nur der erste Anhaltspunkt, was dann erklingt, ist bei jedem Musiker ganz unterschiedlich, siehe Gould, Gulda, Pogorelic. Hier beginnt die Kunst.

Wie war dein Weg am Vibraphon?
Flip Philipp: Milt Jackson ist die Grundschule für jeden Vibraphonisten. Bei ihm und seiner Musik passt einfach alles: Phrasierung, Sound, Improvisation. Hier holt man sich und holte ich mir die Basics. Viele der heutigen Vibraphonisten berufen sich auf ihn: Stefon Harris, Steve Nelson, Joe Locke etc.

Wie schaffst du es, Klassik und Jazz auf so hohem Niveau zu spielen?
Flip Philipp: Der Jazz ist ein Geistestraining für mich, also das Improvisieren. Da muss man sich sehr gut auskennen mit Harmonielehre, Akkorden und Skalen. Der Jazz hat mich einfach schon immer interessiert, während des Studiums habe ich Klassik und Jazz schon parallel gemacht. Ich möchte es aber überhaupt nicht trennen, denn Musik ist eine Sprache – sie hat nur verschiedene Codes. Also Klassik wird streng phrasiert auf der Eins und Drei, beim Jazz geht es um den Offbeat. Wenn du das verstehst, dann kannst du beides machen. Du musst aber auch beides leben, damit es funktioniert. Für mich war es möglicherweise logischer, weil ich vom Schlagzeug komme, da ist man nicht so verbohrt. Denn als langjähriger, ausschließlicher Orchesterbläser oder -streicher kommt man nicht mehr so leicht hinaus aus dem Klang und dem System. Die Anforderung im Orchester ist die Homogenität, der geschlossene Klang in einer Instrumentengruppe, da will man gar keinen Solisten heraushören. Als Jazzer wiederum brauchst du deine eigene Sprache, suchst den individuellen Sound. Als Schlagwerker im Orchester bin ich für die Farben und Effekte zuständig bei besonderen Höhepunkten etc., da geht es nie um Swing oder Groove.

Hattest du jemals Kompositionsunterricht?
Flip Philipp: Nein, das habe ich autodidaktisch gelernt, und mir natürlich einige Lehrwerke besorgt. Hindemiths Kompositionsbücher sind sehr empfehlenswert. Für mich war das Ausprobieren immer der richtige Weg. Wenn ich das Geschriebene vom Ensemble höre, weiß ich gleich bescheid, ob es funktioniert oder nicht.

Wie ist eine Herangehensweise als Komponist bei der Verbindung von Klassik und Jazz?

Flip Philipp: Bei vielen Projekten ist meine Musik einfach nur angeregt von bestimmten klassischen Werken. Beim Händel-Projekt war es ein konkreter Auftrag der evangelischen Kirche, 20 Stücke aus dem Messiahs zu nehmen für drei Konzerte zu arrangieren, da bin ich teilweise sehr weit weg vom Original gegangen.

Wie bist du beim Projekt „Pictures at an Exhibition“ vorgegangen?
Flip Philipp: Da war ich sehr von Duke Ellington beeinflusst, hatte zuvor seine Umsetzung von Tschaikowskis „Nussknacker-Suite“ gehört, und genau so habe ich dann die „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgski arrangiert. Mein „Third Stream“-Ensemble dafür besteht aus Mitgliedern der Wiener Symphoniker und heißt „Vienna Symphony Jazz Project“. Nur zwei oder drei Spieler können improvisieren, daher schreibe ich alles aus, auch die Soli und Improvisationen.
Ich schreibe immer für bestimmte Besetzungen, von denen ich vorher schon jeden Spieler kenne und ihre/seine Fähigkeiten und Sound weiß – es ist also eigentlich wie bei Ellington. Am Schlagzeug brauche ich natürlich einen Jazzer, das ist Christian Salfellner, an der Trompete habe ich den Allrounder Aneel Soomary, die anderen Musiker sind die ersten Bläser von Trompeten und Posaunen der Symphoniker. Die sind so zusammengeschweißt, das klingt so schön, sauber, ausgewogen und perfekt – in einer Big Band hast du das nicht, weil sich die einzelnen Solisten im Satz nicht so gut mischen. Das ist das Paradebeispiel eines runden und eigenständigen Third Stream-Kollektivsounds.

Deine „Working Band“ hast du mit Ed Partyka …

Flip Philipp: Ja, da sind schon vier CDs erschienen im Octet oder Dectet. Christian Salfellner hat uns beide zusammengebracht. Ed ist der Parade-Big Band-Leiter, er hat das richtige Durchsetzungsvermögen, und damit geht etwas weiter bei ihm – außerdem weiß er, wie man Musiker anpacken muss, dass am Ende etwas Gutes herauskommt. Er hat ein unheimlich spürbares musikalisches Fundament und steht in einer starken amerikanischen Arrangeur- und Leader-Tradition, siehe Bob Brookmeyer und andere. Gleichzeitig lässt er sich von allem und jedem inspirieren, ist neugierig und setzt das in Musik um. In Graz, wo er der Leiter des Jazz-Institutes der KUG ist, sind alle begeistert von ihm, weil er so viel bewegt: Top-Lehrer, super Workshops, gute Ensemblearbeit …

Wie ist eure Rollenverteilung?
Flip Philipp: Ich bringe den klassischen Background ein, das reicht bis Ives und Varèse. Ed steht für den Blues, freilich mit modernem Touch. Wenn ich mein Rhythmuskonzept mit Quintolen und Septolen komponiere, jammern die Spieler meistens. Da muss ich dann dran bleiben und das durchsetzen, auch gegen den Willen der Musiker, die tendenziell im gewohnten Fahrwasser bleiben wollen – am Ende dann geht die Rechnung auf. Bei Strawinski gibt es öfter rhythmische Überlagerungen, wo man sozusagen zwei Ensembles gleichzeitig spielen hört – das sind u.a. meine Anregungen. Ich denke da gerne an Thelonious Monk, der hatte es sicher auch nicht leicht mit seinen schrägen Themen und ungewöhnlichen Formen – da muss man aufpassen beim Spielen, gutes Geistestraining!

Wie funktioniert das Ensemble in der Praxis?
Flip Philipp: Die Band leiten wir gemeinsam wie ein Projekt: Wir proben eine Woche für ein Programm, und spielen das dann in zwei Studiotagen ein. Zwei bis vier Konzerte schließen danach an. Somit haben wir immer eine perfekte Dokumentation unseres derzeitigen Standes und Interesses. Wir pflegen keinen engen Kontakt, aber kaum telefonieren wir wieder, entwerfen wir schon das nächste Konzept und Projekt.

War es für dich jemals ein Thema, in die USA zu gehen?
Flip Philipp: Leider nein, denn ich habe meinen Job bei den Wiener Symphonikern in so jungen Jahren bekommen.

Wie hat sich das Musikbusiness aus deiner Sicht verändert?
Flip Philipp: Wenn ich die Freie Szene so sehe, bin ich über meinen Job bei den Symphonikern sehr froh. Ich kann es mir dadurch leisten, bei meinen CDs aus der Privattasche zuzuschießen. Ich war auch schon in einigen österreichischen Kulturforen zu Gast, und da ist es natürlich spannend und schön, in die weite Welt zu reisen: London, Moskau, Abu Dhabi … Aber da wird man nicht reich, und es kommt natürlich nicht das Publikum, das der eigenen Karriere nützen könnte.

Deine Tipps für junge MusikerInnen?
Flip Philipp: Du musst dir das Feuer bewahren, gerne Musik zu machen, gerne vor Publikum zu spielen. Und einfach dran bleiben, kleine Schritte, weitergehen, Leute kennenlernen, offen sein in alle Richtungen, nie aufgeben!

Wie war der Gig mit Joe Zawinul?

Flip Philipp: Also die Symphoniker hatten einen Ball und dazu den Zawinul als Gast eingeladen – vier Stücke wurden als Mitternachtseinlage aufgeführt, u.a. „D Flat Waltz“ und „In A Silent Way“ in Arrangements von Vince Mendoza (NDR Big Band). Die Besetzung war Rhythmusgruppe, Wr. Symphoniker, Zawinul an den Keyboards, ich habe dirigiert. Davor haben wir mit ihm geprobt, und das war einfach super. Er ist simpel
und total am Punkt, hört alles und sagt den MusikerInnen, was sie spielen sollen, diskutiert nicht herum. Daneben hat er den ganzen Abend Sliwowitz getrunken und war sternhagel voll, aber gespielt hat er wie ein Gott – das war Zawinul-Magie. Er setzt sich hin, und Musik erklingt, die einzigartig ist.

Deine Sideman-Tätigkeiten – wie wählst du die Jobs aus?
Flip Philipp: Ich werde in der Regel angerufen, und da mich praktisch jede Musik interessiert und ich davon lernen kann, mache ich gerne mit. Da ist schon Einiges zusammen gekommen …

Deine nächsten Aktivitäten?

Flip Philipp: Eine Duo-CD mit dem Pianisten Oliver Kent und eine VSJP-Hit-CD mit dem langsamen Satz aus Rachmaninows 2. Symphonie, dem „Liebestraum“ von Liszt, Barcarolen usw. – ich arrangiere.

Ein überwältigendes Erlebnis in deiner Musikerlaufbahn?

Flip Philipp: Die Fans in Japan – kommen ins Hotel, haben meine CDs, und kündigen an: „Morgen kommen wir ins Konzert!“ Sie freuen sich total, dass du da bist, ein herzliches, begeistertes Publikum! In dieser Form gibt es das nirgendwo anders.

Tonträger (Auswahl; chronologisch):
Flip Philipp: Muse, 2MORRO MUSIC (A division of Jive Music Austria) CD-6003-2; 2000
Flipotronics: Tape, 2MORRO MUSIC (A division of Jive Music Austria); 2000
Flip Philipp – Ed Partyka Dectet: Something wrong with you?, FF Records; 2005
Flip Philipp & Ed Partyka Dectet: Opium, FF Records; 2006
Flip Philipp: CULT, ATS Records CD-0656; 2007
Lana – Flip: The Dust of a Week, ATS Records CD-0663; 2008
Flip Philipp & Ed Partyka Dectet: Hair of the Dog, ATS Records CD-0694; 2009
Vienna Symphony Jazz Project: Killing Aida, ATS Records CD-0709; 2009
Flip Philipp/Klemens Marktl Constellation: Open Sea, ATS Records CD-0726; 2010
Vienna Symphony Jazz Project: Pictures at an Exhibition, ATS Records CD-0751; 2011
Flip Philipp – Ed Partyka Octet: Offtime, ATS Records CD-0752; 2011
Flip Philipp: Duffin’, ATS Records CD-0773; 2012

Fotos Flip Philip © A.H.Bitesnich

 

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