mica-Interview mit Christoph Herndler

Er gilt als einer der prominentesten „Grafiker“ in der heimischen Gegenwartsmusik: Christoph Herndler. Der 1964 geborene Oberösterreicher bedient sich bei der Darstellung seiner musikalischen Vorstellungen primär einer Notationsweise, wie sie nach wie vor nicht typisch ist und in früheren Jahrzehnten hierzulande durch Exponenten wie Anestis Logothetis und Roman Haubenstock-Ramati geprägt wurde. Über seine Arbeit mit dieser für den „traditionellen Musikkonsumenten“ durchaus nicht immer auf den ersten Blick unmittelbar überschaubaren Technik sprach er mit Christian Heindl.

Die Frage nach Henne und Ei: Ist Ihr Interesse, musikalische Vorgänge grafisch darzustellen, im Zuge des Unterrichts bei Roman Haubenstock-Ramati erwacht oder gingen Sie zu ihm, weil Sie sich für diese
Methode interessierten?

Christoph Herndler: Es war ausschließlich großes Glück, dass ich durch ein paar zufällige Ereignisse letzten Endes auf Roman Haubenstock-Ramati gestoßen bin, und kein methodischer Schritt. Solche Schritte an entscheidenden Wegkreuzungen sind immer mehr von Instinkt geleitet, als von Absicht. Der Instinkt lässt mich vorwärts schreiten und die Methode, die meist eine Analyse des Schritts bedeutet, festigt den Tritt. Dass bei Haubenstock als Lehrer das Augenmerk auch auf Fragestellungen der Notation gerichtet wurde, liegt auf der Hand – gleich ob jemand traditionell, konventionell oder unkonventionell, mit grafischen oder nicht grafischen Mitteln notierte. Was sich in mir damals festsetzte, ist das Wissen um die Abhängigkeit von Methode und Inhalt. Welche Konsequenzen man daraus zieht, ist natürlich eine andere Sache.

Wenn ich nun Ihre Frage nach dem Interesse an der grafischen Darstellung eines musikalischen Vorgangs auf das bloße Interesse der Darstellung – gleich ob grafisch oder nicht – reduziere, zeigen meine Arbeiten, dass hier keine musikalischen Vorgänge dargestellt werden, sondern die Vorgänge selbst erst mittels der Notationsgrafiken generiert werden. Die Notationen sind also keine Abbilder akustischer Phänomene. Das ist ein wesentlicher Unterschied zur „traditionellen“ Notation, hat aber noch immer nichts mit ihrem grafischen Erscheinungsbild zu tun. Wie man allgemein weiß, bedient sich ja auch die sogenannte traditionelle Notation grafischer Mittel.

Sind es bei dieser Art des Herangehens ausschließlich musikalische Vorgänge, die grafisch dargestellt werden oder handelt es sich letztlich um eine grafische Arbeit, die musikalisch interpretierbar ist?

Christoph Herndler: Durch die grafische oder besser die geometrische Qualität meiner Zeichen wird ein Feld der Interpretation abgesteckt und allein dadurch Beliebigkeit ausgeschlossen. Interpretation verweist hier nicht auf Geschmack, sondern auf die spezifischen Qualitäten des verwendeten Materials unter dem Gesichtspunkt formgegebener Zusammenhänge. Realisiert sich die Form der Sonate erst durch eine „kompositorische“ (also von einem Komponisten unternommene) Interpretation, so zeigt sich in meinen Notationsgrafiken die Form als geometrisches Gebilde ganz unmittelbar. Die Notation IST die Form, entstanden aus der grafischen Analyse einer ihr zugrunde liegenden Idee.

Wer auch immer nun diese Zeichen interpretiert, konfrontiert sich in erster Linie mit der Form und nicht mit dem „Komponisten“, konfrontiert sich mit dem „Objekt“ und nicht mit dem „Subjekt“. Und gerade in der Musik, die immer wieder ihre tradierten Formen zu überwinden suchte, scheint mir das Festmachen der Kunst an der Person oder an allgemein gültigen und akzeptierten Formen als ein Anachronismus. Die Konvention oder der „formale Halt“ könnte meines Erachtens allein darin liegen, dass sich das System für jeden Zweck jeweils neu erfindet. Als Konsequenz dieses Denkens löst sich für mich der Anspruch „traditioneller Notation“ – nämlich „musikalische Vorgänge“ abzubilden – als Mittel „künstlerischer Äußerung“ völlig auf.

Eine herkömmlich notierte Partitur gilt – abgesehen vom ideellen und materiellen Wert des Manuskriptes nicht unbedingt als Kunstwerk. Darf man diesen Anspruch bei den „grafischen Partituren“ ableiten, sind also die der Musik zugrunde liegenden Grafiken eigenständige Kunstwerke?

Christoph Herndler: Ob Kunstwerk oder nicht, kann ich nicht beurteilen, aber sie sind insofern „eigenständig“, als die Notation bereits eine grafische Interpretation der ihr zugrunde liegenden Idee ist – ich hätte die Idee auch anders notieren können. Um diesen Gedanken auf die Spitze zu treiben, könnte das beim „Aufzeichnen“ der Notationsgrafik entstehende Geräusch sogar als eine musikalische Interpretation derselben wahrgenommen werden. Die Notationen sind hier nie nur Mittel zum Zweck.

Wie genau lässt sich das musikalische Ergebnis in der graphischen Partitur vorherbestimmen?

Christoph Herndler: Das „musikalische Ergebnis“ lässt sich präzise formulieren, das „klangliche Ergebnis“ allerdings liegt gar nicht im Interesse präziser Formulierung – im Gegenteil, es soll sich als Resultat präziser Interpretation gar nicht fassen lassen können; obgleich der Identitätsgehalt höchst unterschiedlicher klanglicher Interpretationen ein und derselben Partitur sehr groß sein kann. Auch das Wetter entwickelt sich aus ganz „bestimmten“ Voraussetzungen, dennoch ist es schwierig vorherzusagen.

Jede Aufführung eines Werkes wird mehr oder weniger anders klingen. Ist das das von Ihnen als Komponist gewünschte Ergebnis?

Christoph Herndler: Ein Qualitätsmerkmal jeder Musik liegt in ihrer Präsenz. Und da Präsenz nie losgelöst von ihrem Wahrnehmungsraum gedacht werden kann, stellt sich die Frage, wie weit sich die „Poren der Komposition“ öffnen lassen, um den zeitlich wie räumlich einzigartigen Moment, in dem sie passiert, in sich aufzunehmen und zu reflektieren. Demzufolge zeigt sich das Unwiederholbare der Musik, das im Wesen des Klangs gründende Verschwinden, in meinen Arbeiten auch in formaler Hinsicht: Das Gleiche zeigt sich immer anders. Diese Variabilität bildet sich bei meinen Arbeiten in der Notation ab, und nicht wie bei den meisten „musikalischen Grafiken“ in der Vorstellung des Interpreten – ein wesentlicher Unterschied, der durch voreiliges Schubladisieren „grafischer Partituren“ leicht übersehen wird.

Liegt in der Unvorhersehbarkeit, wie eine Aufführung klingen wird, ein besonderer Reiz oder bleibt auch ein unbefriedigendes Moment, weil man als Komponist nicht exakt bestimmen kann, wie das Werk klingen soll?

Christoph Herndler: Man weiß ja von keiner Aufführung, wie sie klingen wird – gleich, wie genau das klangliche Ergebnis bestimmt ist; und sogar elektronisch gespeicherte Information ist für Schwankungen im Netz anfällig. – Aber es ist in jedem Fall die Erwartungshaltung oder die Vorstellung, die unsere Wahrnehmung gravierend beeinflusst. Hat man eine Vorstellung vom Leben, so lehrt die Erfahrung, dass es anders kommen kann, als man denkt. Wenn ich also das Ergebnis nicht (und somit auch „nicht exakt“) bestimme, so wird eine Aufführung dann enttäuschen, wenn die formalen Gegebenheiten der Notationsgrafik inkonsequent ausgelegt werden; und auch wenn durch Inkonsequenz im Moment ein intensiver musikalischer Reiz entstehen könnte, so würde der geistige Reiz, als Reibung an der Idee und nicht als Reibung am Klang, auf der Strecke geblieben sein.
Weder das abgeschlossene „Werk“ noch der „exakt bestimmte“ Klang stehen im Fokus meiner Arbeit. Vielmehr versuche ich die Kontrolle dorthin zu verlagern und zu konzentrieren, wo diese das Individuum explizit in eine Position der Verantwortung rücken lässt.

Gibt es auch unangenehme Momente bzw. Erlebnisse, wenn man als Komponist nicht bei Proben anwesend sein kann und dann im Konzert hört, dass etwas ganz anders gespielt wird, als man es sich vorgestellt hat?

Christoph Herndler: Ja.

Welchen Anteil spielen in Ihrem Schaffen traditionelle Notationsformen?

Christoph Herndler: Mein Notieren ist kein Bruch mit traditionellen Notationsformen, sondern denkt diese, von ihren Grenzen her, weiter. Jeder technologische Fortschritt wirft auch ein neues Licht auf die Systeme, die ihn bedingen. Wenn Tradition als etwas Lebendiges verstanden wird und nicht als etwas Museales – also Tradition, die den Übersetzungsakt mitdenkt und sich nicht museal abkapselt –, dann sieht man auch, wie es über Jahrhunderte in der Musik (und in der Kunst überhaupt) zu wiederkehrenden Fragestellungen immer wieder neue Antworten gegeben hat. Daher ist auch die Notation in der Musik in einem ständigen Fluss, durch den manches mitgerissen wird, anderes sich ablagert oder fremde Einflüsse wirksam werden. Dass der „Mainstream“ oft nur schwerfällig auf neue Strömungen reagieren kann, liegt in seiner Natur.

Sie haben 1997 das Ensemble EIS gegründet. Entstand dies primär aus der „Not“, also der praktischen Überlegung heraus, damit Ihre eigenen Werke authentisch in ihrem Sinn präsentieren zu können, oder ist EIS von Ihrem eigenen kompositorischen Schaffen autonom zu sehen?

Christoph Herndler: Das Trio EIS, ein Streichtrio aus Ivana Pristasova (Violine), Petra Ackermann (Viola) und Roland Schueler (Violoncello) ist autonom zu sehen, das Ensemble EIS hingegen ist immer in irgend einer Weise mit meiner Arbeit verbunden. Die Ensemblelandschaft hierzulande ist ja eine sehr durchmischte; auch im Ensemble EIS spielen Musiker und Musikerinnen mit, die auch in anderen Ensembles vertreten sind. Vermischt sind aber auch die Genres, die oftmals in der Ensemblearbeit zusammengeführt werden. Im Ensemble wirken nicht nur Künstlerinnen und Künstler aus der Sparte Musik, sondern auch aus Tanz, Film, bildender Kunst und Literatur mit; und genau darin spiegelt sich ja auch der intermediale und spartenübergreifende Aspekt meiner Notationsgrafiken.

Da jede Institution auch ein Spiegel ihrer Strukturen ist, schien es mir angebrachter, ein „eigenes“ Ensemble zu gründen, als mich auf Institutionen einlassen zu müssen, wo ein Großteil der Energie in Überzeugungsarbeit fließen muss, bevor es dann erst nur zu unbefriedigenden Resultaten kommt. Das hat weniger mit der Fähigkeit und Offenheit einzelner Menschen zu tun, als mit gruppendynamischen Effekten. Wenn ich dann doch mit anderen Ensembles arbeite, ist es immer gut, wenn einer oder zwei der Gruppe mit meinen Arbeiten schon Erfahrung haben. Sie können einer Gruppe die Sicherheit geben, die ansonsten durch die Autorität des Dirigenten oder der herkömmlichen Partitur gewährleistet ist. Denn im Gegensatz zu Partituren, die das klangliche Ergebnis zeigen, auf das schon in den ersten Minuten der Probe verwiesen werden kann – auch wenn man noch zu keinem solchen tatsächlich gefunden hat –, gibt es bei meinen Notationsgrafiken keine visuelle Referenz, die den Klang belegt; sie sind vielmehr ein visueller Beleg dafür, wie ein klangliches Geschehen durch ihm zugrunde liegende Prinzipien und nicht ihm übergeordnete Kontrollinstanzen selbständig wachsen kann.

Ein entscheidendes Merkmal von Ensemble EIS liegt darin, dass keiner der Teilnehmenden austauschbar ist. Bricht sich zum Beispiel „die Klarinette“ kurz vor einer Aufführung das Bein, wird die Aufführung entweder ohne sie stattfinden können oder es fügt sich eine andere Klarinette zur Gruppe. In jedem Fall aber hat eine instrumentale oder personelle Änderung unmittelbare Konsequenzen auf die klangliche Form, ohne dabei ihre Identität oder Vollständigkeit zu verlieren. Im Gegensatz dazu würde eine „Symphonie mit dem Paukenschlag“ ohne Pauke oder irgendein neueres Werk für chromatisch gestimmte Steeldrums in der fünften Oktav ohne fünfte Oktav nicht funktionieren.

Das Ensemble EIS ist somit ein Gegenentwurf zur klassischen Institution, deren Mitglieder austauschbar sind, OHNE dass sich dabei die Form der Institution zu ändern hätte. Die Stabilität von EIS gründet auf der Flexibilität der Formen, die es verkörpert. EIS ist keine Institution, sondern ein Aggregatzustand.

Sie haben auch Elektroakustik studiert. Wie verknüpfen sich in Ihrer Arbeit dieser Aspekt und das grafische Komponieren?

Christoph Herndler: Auch in der Elektroakustik geht es für mich weniger darum, was aus dem Lautsprecher kommt, sondern um die Frage, wie es dort hingelangt. In diesem Sinn habe ich mich im Zuge dieser Auseinandersetzung und vor allem während der Zeit am CCRMA in Stanford mit Programmierung auseinandergesetzt. Nun unterscheiden sich zwar die Programmiersprachen – je nachdem welche „Maschine“ angesprochen werden soll –, aber ihnen allen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: nämlich komplexe Vorgänge durch einfache logische Verknüpfungen zu beschreiben und dadurch zu verallgemeinern, zu abstrahieren.

Dieses Prinzip spielt auch in meiner „kompositorischen“ Arbeit eine große Rolle. Denn die Notationsgrafiken sind im Grunde „Programme“, also komprimierte Darstellungen meist in der Zeit angesiedelter komplexer Prozesse. Da mich als Komponist immer auch der „menschliche Faktor“, das Fehlerhafte, das Unvollkommene, das Unbegreifliche, das Spontane, das Unordentliche etc. interessieren, richten sich diese Codes in der Form geometrischer Zeichen nicht an Maschinen, sondern an Menschen, die die Zeichen im Spiel decodieren müssen. Denn erst durch die Reibung des hermetisch abgeschlossenen, in sich stimmigen, fehlerfreien Programms am spielenden Menschen wird das Unvorhersehbare frei gesetzt. So wie sich beim Destilliervorgang aus dem Vergorenen das „Klare“ gewinnen lässt, versuche ich mittels meiner Notationsgrafiken aus dem Klaren eine Gärung in Gang zu setzen. Kurz: Man muss den Schnaps auch trinken!

Als Laie auf diesem Gebiet muss ich doch noch die Frage stellen, ob es überhaupt korrekt ist, von „grafischem Komponieren“ zu sprechen?

Christoph Herndler: Was ist überhaupt zu erwarten, wenn wir ein neues Begriffspaar wie „grafisch Komponieren“ einführen? Schon allein der Begriff „Komponieren“ beschreibt meinen Arbeitsprozess sehr unzureichend wenn nicht sogar falsch. Es sind oft lediglich kombinatorische Prinzipien, die zu einer Notationsgrafik führen – also würde „kombinieren“ einen Teilaspekt meiner Arbeit sicher besser treffen. Andererseits hat sich der „Komponist“ immer als Interpret mehr oder weniger akzeptierter oder neuerdings „selbst erfundener“ Formen erwiesen; also wäre er besser mit „Interpret“ beschrieben. Aber auch wenn der Begriff „komponieren“ auf mein Arbeiten bezogen unzutreffend scheint, so wird mein musikalisches Denken sehr stark von einem grafischen Denken mitbestimmt.

Das Grafische oder besser Geometrische meiner Arbeit ist eine Methode, um einerseits komplexe Zusammenhänge einfach auszudrücken, sie zu visualisieren, und andererseits eine Methode, um an Punkte zu gelangen, die jenseits meiner Vorstellung liegen und somit auch jenseits meines geschmacklichen Urteils. Sich vorzustellen, wie ein einziges Dreieck, gleichzeitig aus vier Richtungen betrachtet, vier verschiedene Aktionen bedeuten kann, ist noch relativ einfach. Einfach ist es aber auch, den Komplexitätsgrad einer Grafik so zu steigern, dass sich eine solche Vorstellung der Vorstellung entzieht. Dennoch weist jede Grafik, die auf einen Blick visuell erfasst werden kann, auf den Willen, den musikalischen Gedanken als Ganzes zu zeigen – ihn von seinem Ende her zu denken; zu zeigen, wie sich „die Musik“ in unserem Denken ausbreiten kann, ohne an Anfang oder Ende gebunden zu sein. Die oft an Aufführungen geknüpfte und von Kritikern beantwortete Frage „Wie war es?“ spielt so gesehen hier keine Rolle.

Foto: Mary Fernety

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