Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Seit Jahrzehnten schon werkt Komponist und Gitarrist Burkhard Stangl an der ästhetischen Schnittstelle von Improvisation und Komposition. Anhand seines neuen Buches „Hommage à moi“, das dieser Tage inklusive dreier CDs und einer DVD mit bisher unveröffentlichtem Material erscheint, wird die gesamte Bandbreite seines Schaffens deutlich. Zur Aufführung gebracht wird „Hommage à moi“ am 5. März im Rahmen des Festivals OdeonMusik III. Mit dem mica sprach er über Schlüsselbücher, Weltentrücktheit und das Privileg der Jugend. Das Interview führte Markus Deisenberger.
Ein Festhalten an traditionellen Konzepten war eigentlich nie Deine Sache. Wieso entscheidet sich jemand, der stets auf der Suche nach neuen Ausdruckmöglichkeiten war und ist, dann doch für ein so traditionelles Konzept wie ein Buch?
Bestimmte Erfindungen des Menschengeschlechts machen durchaus Sinn, das Buch zählt auf jeden Fall dazu. Dazu kommt, um ein Wort der Schlagersängerin Alexandra zu paraphrasieren: Ich bin eine moderner Mann, aber ein altmodischer Mensch.
Wann kam Dir überhaupt die Idee für das Buch-Projekt? Gab es einen konkreten Anlass?
Den Anstoß gab vor ca. eineinhalb Jahren Werner Korn vom Wiener echoraum. „Es ist an der Zeit, dass Du wieder ein Mal ein Buch schreibst!“ sagte er. Ich hatte schon vor einigen Jahren die Ehre, mit ihm zwei Bücher zu machen; er gestaltete die Graphik von Ethnologie im Ohr. Die Wirkungsgeschichte des Phonographen, meine Dissertation, sowie das von Hans Schneider, Cordula Bösze und mir herausgegebenes Buch Klangnetzte. Ein Versuch, die Wirklichkeit mit den Ohren erfinden, das jenes bis 2002 existierende Musikvermittlungsprojekt in theoretischer, methodischer und empirischer Hinsicht darstellt. Korn, in der experimentellen Musikszene als Konzertorganisator bekannt, ist ja ein begnadeter Buchgrafiker, betreibt auch den Verlag edition echoraum und liebt es, Projekte zu entwickeln. Mein anstehender 50. Geburtstag war ein weiterer Anlass, das Abenteuer einer Zusammenschau meiner Schriften zu versuchen, ganz nach dem Shakespeare’schen Motto: „Ich halt im Stillen über mich Gericht und ruf als Zeugin die Vergangenheit.“ Ich habe glücklicherweise auch dieses Mal Andreas Deppe als Lektor gewinnen können, der die Veröffentlichung auch editorisch wesentlich mitgeprägt hat.
Der Titel Hommage à moi klingt ich-bezogen, das Projekt ist es aber keineswegs, denn sowohl Buch als auch 3er CD ist doch genauso eine Hommage an viele wichtige Wegbegleiter (dieb13, Hautzinger, Roisz etc) Deiner musikalischen Karriere. Ist das Projekt nicht vielleicht sogar mehr eine Huldigung Deiner vielfältigen musikalischen Einflüsse als eine persönliche Werkschau? Besonders die Divertimenti sind ja immer auch Dialoge…
Der Titel Hommage à moi ist in einer Art écriture automatique entstanden – und war er, neben anderen Vorschlägen, einmal auf Werner Korns Tisch, gab es kein zurück mehr. Mittlerweile mag ich ihn sehr, schließlich habe ich die letzten Monate tatsächlich so etwas wie eine Paläontologie meiner Biographie betrieben. Aber der Titel war zugegebenermaßen schon gewöhnungsbedürftig, zumal einerseits ich doch gar nicht so wenig über Andere geschrieben habe, andererseits meine Musik tatsächlich fast immer in enger Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen entstanden ist und entsteht. Ja, das Hommage à moi-Projekt beleuchtet, denke ich, ganz gut meine Arbeitsweise bzw. überhaupt die Arbeitsweise des musikalischen Umfelds, in dem ich mich bewege – und in dem eben viel durch Teamarbeit bewerkstelligt wird. Ich bin nicht unstolz, dies sowohl im Buch als auch auf den drei CDs zeigen zu können. Auf der Hommage-CD Nr. 2, Divertimenti, finden sich einige Dialoge, wie Du sagst, Duos, doch die Realisierung der Ensemblestück-Kompositionen wäre ohne meine MitstreiterInnen in dieser Form auch niemals möglich gewesen.
Du hast bislang über 50 CDs veröffentlicht, mit den unterschiedlichsten Leuten aus den Bereichen Neuer Musik, Elektronik, Improvisation und Jazz zusammengearbeitet. Gibt es einen roten Faden, der sich durch all diese sehr unterschiedlichen Kompositionen und Improvisationen zieht?
Gute Frage. Ich glaube eher nicht. Die CD-Veröffentlichungen in ihrer Gesamtheit bilden eher die von mir durchgemachten Veränderungen ab, oder die zahlreichen Brüche in meiner Karriere, oder, wenn man es pathetisch sagen würde, meine Vielseitigkeit, oder, negativ formuliert, den Mangel an Personalstil. Doch haben die CDs, die unter meinem eigenen Namen herausgekommen sind, und das sind wenige, schon jeweils eine sehr persönliche und starke Handschrift, wage ich zu behaupten.
Was für einen Musiker eher ungewöhnlich ist: Du beschäftigst Dich seit jeher auch mit dem Schreiben über Musik. Hat sich Deine Sichtweise, was dieses „Festhalten des Flüchtigen“ betrifft, über die Jahre verändert?
Im Allgemeinen nein, im Besonderen ja. Letzteres hat mit meiner immer intensiver gewordenen Beschäftigung mit den Medienrevolutionen innerhalb der letzten 150 Jahre zu tun, Klangaufzeichnung, Film, digitales Zeitalter usw., sowie mit meinem Interesse am Problemfeld „Wissenstransformation in die Zukunft“, sprich Speichermedien. Diesbezüglich vertraue ich dem Buch mehr als Digitalisaten. Das ist vielleicht auch die treffendere Antwort auf Deine erste Frage. Aber mein Hang, tendenziell nicht-musikwissenschaftlich über Musik zu schreiben, ist gleich geblieben.
Der Poesie Ausdruck verleihen… Literatur gehört für Dich eigentlich dazu wie ein zusätzliches Instrument, oder?
Kann man so sagen, ja. Wobei ich mir das Lesen seit einiger Zeit schon geradezu immer wieder abringen muss, man muss ja ständig vorm Computer sitzen, e-mails schreiben und beantworten, um nicht, wie ich mir vielleicht fälschlicherweise einbilde, aus dem sozialgesellschaftlichen Diskurs herauszufallen.
Kannst Du Deine Begeisterung für Elfriede Jelinek, die Dich zu einer ganzen Reihe von Kompositionen (Wolken.Heim; auf CD Nr. 1) in Worte fassen?
Es dürfte bei jedem so etwas wie Schlüsselbücher geben, die dem Leben einen anderen Drall geben. Jelineks Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr war für mich so ein Buch, und ich bin ein begeisterter Leser ihrer Literatur geworden. 1988/89 hat sie mir dann einen damals noch unveröffentlichen Text, WOLKEN.HEIM. eben, zur freien Bearbeitung und zum Vertonen überlassen, ich habe sie damals auch persönlich kennenlernen können, sie hat meine Textbearbeitung mit mir für ein Zuspielband aufgenommen. Ich war sofort von ihrem Wesen und ihrer Ausstrahlung fasziniert. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Neben Literatur scheinen Dich auch Orte zu Kompositionen zu inspirieren. Ist ein bestimmter Eindruck, den Du auf einer Reise erlangst, dabei bloß Ausgangspunkt für eine Reise ins Ungewisse oder hast Du dabei einen ganz bestimmten Klang im Kopf, den Du dann nachzustellen versuchst?
Das Ethnogiestudium hat groteskerweise meinen Reise-Eros auf Null sinken lassen, ich wollte mir nicht einen „Stamm“ aussuchen und ihn dann beforschen, wie es in diesem Wissenschaftsfeld früher gang und gäbe war. Erst mit dem Beginn meiner internationalen Konzerttätigkeit ist Reisen klarerweise wieder Thema geworden. Vor allem mit Polwechsel, mit Schnee (Duo mit Christof Kurzmann) und mit chesterfield (Duo mit Angélica Castelló) bin ich einigermaßen weit herumgekommen. Aber dass Orte, Landschaften, Gegenden mich zu Kompositionen inspirieren, ist eher eine junge Entwicklung. So geschehen beim Anblick der Maya-Pyramide in Chichen Itzá, Yucatan, der in meinem Kopf eine ganz spezielle Klangkonfiguration auslöste, die mich solange, teilweise qualvoll, verfolgte, bis ich die Komposition endlich abschließen und hören konnte.
In einer Rede anlässlich der Verleihung des Staatspreises an Olga Neuwirth hast Du als Laudator sehr viel Melville zitiert? War Melville auch ein Einfluss für Deine eigene Arbeit?
Ich habe als Kind eine Jugendbuch-Version von Moby Dick gelesen, in der nur der Kampf mit dem Wal beschrieben wird. Erst vor vier oder fünf Jahren habe ich mir die über 900 Seiten zählende Ausgabe in der Übersetzung von Fritz Güttinger besorgt – ich war begeistert und habe zahllose Anstreichungen gemacht (deshalb mag ich am Computer nicht lesen), teilweise sogar exzerpiert. Es ist mir auch klar geworden, warum dieses Buch als großer Einfluss für James Joyce gilt. Dass aber Olga Neuwirth im Begriffe war, an einer Melville Oper zu schreiben, wusste ich damals noch nicht.
„My Dowland“, eine Art Hommage an John Dowland, sticht heraus bzw. hebt sich sehr ab von den übrigen Kompositionen der drei CDs. In letzter Zeit hat Sting (mit dem Lautenisten Edin Karamazov) Dowland zu neuer Berühmtheit verholfen, indem er seine Kompositionen verpoppte. Kennst Du das Projekt und wenn ja, was hältst Du davon?
Die Dowland-Sting-CD erschien, als ich gerade an „My Dowland“ arbeitete. Ich war zuerst ein wenig schockiert, oder anders gesagt, man kommt sich einigermaßen blöd vor, wenn jemand – und eine Berühmheit noch dazu – sozusagen früher dran ist und man noch dazu vielleicht als Nachahmer dasteht. Aber ich hatte keinen Moment daran gedacht, deshalb aufzugeben, meine Dowland-Liebe war stärker. Im Übrigen finde ich die Sting-Karamazov-Dowland-CD großartig, phänomenal produziert und gar nicht so poppig.
Könnte man sagen, dass Deine Art, Dowland zu interpretieren und improvisieren, die genau gegenläufige Intention verfolgte, nämlich Dowland als pure und absolute Klangkunst zu begreifen?
Dowland ist ein Begleiter meines Lebens geworden, und das, seitdem ich ihn das erste Mal auf der Konzertgitarre gespielt habe. Ich höre seine Musik mit den unterschiedlichsten Aufnahmen und Interpreten regelmäßig. My Dowland bezieht sich vornehmlich auf Atmosphärisches, auf das, was seine Musik bei mir auslöst: Weltentrücktheit und Weltabgeschiedenheit inmitten prallen Lebens und realistischer Weltwahrnehmung: Liebe, Tod, Sehnsucht, Abschied, Unerfülltheit, Warten-Können, Gelingen, Einsamkeit. In meiner Version mit Countertenor und Ensemble aus dem Jahr 2009 fließen einige Dowland-Stücke sogar fast unbearbeitet in die Komposition ein.
Die Verbindung von alter und neuer Musik… Ist dieser Brückenschlag tatsächlich möglich?
Das von mir ins Leben gerufene und auf den CDs zu hörende Ensemble Extended Heritage mit Jakob Huppmann (Countertenor), John Butcher (Saxophone), Angélica Castelló (Paetzold-Blockflöten; Blockflöten und Elektronik), dieb13 (Plattenspieler, Grammophon und Live-Processing), Eva Reiter (Paetzold-Blockflöten, Blockflöten und Viola da Gamba), Billy Roisz, (Elektronik und Visuals), ich selbst auf Kontragitarre und Vibraphon ist, so meine ich, ein gutes Beispiel dafür, dass dieser Brückenschlag möglich ist. In der alten Musik wird ja viel improvisiert, das Notenmaterial „je nachdem“ immer wieder neu eingerichtet und bearbeitet, die Musik ist eher leise und fragil, kammermusikalisch, es wird mit unterschiedlichsten Stimmungen der Instrumente experimentiert, Versuchsanordnungen werden ausprobiert. Es ist immer wieder zu beobachten, dass MusikerInnen, die aus der alten Musik kommen, äußerst offen für zeitgenössische Musikformen sind – und das nicht nur in Wien, obwohl es hier speziell evident zu sein scheint, wenn ich an einige der gerade genannten Musikerinnen denke oder an Maya Osojnik, Pia Palme oder an (Improvisations-)MusikerInnen der jüngeren Generation wie z.B. aus dem snim-Umfeld (spontanes netzwerk für improvisierte musik). Die Orchesterapparate des 19. Jahrhunderts haben keinen Platz für Blockflöte oder Konzertgitarre, geschweige denn Laute, die Instrumente sind zu leise; auch Countertenöre sind in jener Zeit bestenfalls ein Unikum. Es gibt zahlreiche Parallelen zwischen alter und neuer Musik, sie sind in gewisser Weise Geschwister.
„Bleiben“ wir beim Pop. Du hast auch schon mit Ursula Rucker und David Sylvian gearbeitet. Braucht man als Musiker einen anderen Zugang, um mit Pop-Künstlern zusammenzuarbeiten als wenn Du beispielsweise mit einem Franz Hautzinger oder Billy Roisz auf der Bühne stehst?
Ursula Rucker und vor allem David Sylvian sind große Namen, da spürt man schon die große Bühne, das andere Format, eine andere Dimension des Musikbusiness’. Für mich war es selbstverständlich eine große Herausforderung und Ehre, mit diesen Leuten zusammenarbeiten zu können; insbesondere das Projekt mit Ursula Rucker habe ich in schöner Erinnerung, wir hatten genügend Zeit zu proben und konnten uns auf diese Weise musikalisch wie privat gut kennen lernen. Aber grosso modo bin ich eher an langfristigen Kooperationen interessiert, wie es mit Franz oder Billy eben der Fall ist.
Film-Musik wird heute immer mehr als Aneinanderreihung von einzelnen Hits verstanden. Der eigens komponierte Score wird immer seltener. Die Art von Filmmusik, wie Du sie machst, etwa in Zusammenarbeit mit Gustav Deutsch (mit Fennesz und Siewert) ist tatsächlich noch aufwändiger als der normale Score, weil die Musiker von Anfang an in das Projekt involviert sind, es tatsächlich zu einem permanenten Wechselspiel zwischen Film und Musik kommt. Lohnt sich dieser enorme Aufwand?
Absolut. Ich denke, das kann man am Ergebnis sehr gut nachvollziehen, Gustav Deutschs Filme laufen regelmäßig auf allen wichtigen Filmfestivals, und das weltweit. Nachdem Gustav immer auch auf eine Live-Version Bedacht nimmt, konzertieren wir immer wieder bei Filmfestivals und können dadurch neue Publikumsschichten für unsere Musik interessieren. Hoffe ich zumindest. Außerdem war und ist für mich die Zusammenarbeit mit dem Filmemacher eine durch nichts zu ersetzende Sehschule.
Hat Dich die No-Wave-Szene aus New York Anfang der 80er Jahre mit ihren wilden Noise-Eruptionen beeinflusst?
Eigentlich nicht. Ich habe nicht einmal Glenn Branca gesehen, als er damals in Wien gastierte, das Konzert war ausverkauft. Die hymnischen Erzählungen meiner Bekannten waren aber dermaßen einprägsam, sodass ich manchmal den Eindruck habe, ich hätte das Konzert denn doch gehört. Ich war allerdings kürzlich bei einem E-Gitarren-Projekt mit seinem damaligen Gitarrenpartner Rhys Chatham involviert, beim heurigen Donaufestival gibt es zusätzlich mit Ben Frost eine Art Neuauflage, wobei von den Österreichern auch Martin Siewert und Fredl Bulbul dabei sind .
Du bist am Land aufgewachsen. Kriegt man das Land, dh diesen Bezug zu Ruhe und Erde jemals aus sich heraus? Oder ist es etwas, zu dem man immer wieder zurückkehrt, zurückkehren muss?
Ich habe ein gespanntes Verhältnis zum Land, vielleicht auch insgesamt zur Natur, der Waldboden beispielsweise kommt mir im Vergleich zum Asphalt oftmals ziemlich künstlich vor. Das heißt aber nicht, dass ich mich nicht an Natur-Landschaften begeistern kann, aber allzu lange möchte ich mich darin dennoch nicht aufhalten müssen.
Zum Tonbandstück Opus 1 beschreibst Du im Buch sehr schön, wie Du als 14-jähriger anfingst, mit Gitarre und einem Tonbandgerät zu experimentieren. Kann man sich heute, nach all den Studien und Erfahrungen, noch so kindlich selbst überraschen wie damals?
Ganz ganz selten, ab und zu bei Improvisationskonzerten oder bei der Arbeit mit Elektronik, dann, wenn die Instrumente oder Gerätschaften ein nicht nachvollziehbares Eigenleben entwickeln. Das Staunen ist leider sehr selten geworden. Vielleicht ist’s auch gut so, soll es doch ein Privileg der Kindheit und Jugend sein.
http://stangl.klingt.org/