Was passiert, wenn eine E-Gitarre auf Rückkopplung trifft, Raumakustik zur Mitspielerin wird und Ambient-Sounds mit Techno flirten? SAMUEL TORO PÉREZ kennt die Antwort – oder vielmehr: findet sie immer wieder neu. Ob als Musiker:in, Klangforscher:in oder Komponist:in im Graubereich zwischen Kontrolle und Chaos, Samuel liebt das Experiment und hat ein Faible für unberechenbare Klänge. Am 18. Februar 2025 steht das nächste große Abenteuer an: die Performance „Open Spaces“ beim impuls Festival in Graz, eine Reise durch Feedbackschleifen, Sound-Architekturen und den Zauber der Unvorhersehbarkeit. Im Gespräch mit Ania Gleich erzählt Samuel, wie aus nachhaltiger Architektur ein Musikstück wurde, warum die E-Gitarre ein Hybridwesen ist – und was das alles mit einem Film „I Saw the TV Glow“ zu tun hat.
War Musik für dich immer schon mehr als nur ein Hobby und wann hast du gemerkt, dass du daraus einen Beruf machen möchtest?
Samuel Toro Pérez: Das hat bei mir relativ früh begonnen. Musik wurde mir in die Wiege gelegt: Meine Eltern sind beide Musiker:innen und haben mich zu Hause stark gefördert. Ich habe aber selbst entschieden, dass ich Musik professionell machen möchte. Ich ging am Wiener Musikgymnasium zur Schule, dort mussten wir jedes Jahr unserer Musiklehrperson vorspielen. Wir wurden dabei jeweils nach unseren Ambitionen gefragt und wie viel wir übten. Ich war ziemlich beeindruckt, wie einige meiner Mitschüler:innen bereits mit zehn Jahren spielten und dass viele von ihnen täglich zwei bis drei Stunden probten. Infolge dieses ersten Eindrucks und der Ermunterung der Musiklehrperson, doch mehr Zeit in mein Instrument zu investieren, begann ich tatsächlich damit, intensiver zu üben. Ein Jahr später, mit elf Jahren, beschloss ich, dass ich Musik professionell machen wollte.
Also gab es keinen Druck von zu Hause?
Samuel Toro Pérez: Meine Eltern haben mich bereits unterstützt, bevor mir selbst klar war, wohin ich mit der Musik wollte. Sie haben mich aber nie zu etwas gezwungen. Unterstützung bedeutete in meinem Fall auch, dass sie mich etwa in Krisenzeiten ermutigten, weiterzumachen. Als jugendliche Person war ich einmal kurz davor, die Gitarre aufzugeben. Damals fuhr meine Mutter mit mir zu einer Freundin nach Deutschland, deren Partner selbst Gitarrist ist. Dort bekam ich eine Woche lang Privatunterricht und die Lust auf mein Instrument kam wieder zurück. Meine Familie unterstützt mich übrigens bis heute, wofür ich extrem dankbar bin.
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Schön, wie du das Fördern beschrieben hast. Musik wird ja oft im Jugendalter abgebrochen.
Samuel Toro Pérez: Absolut. Das tägliche Üben zu Hause bereits als jugendliche Person erfordert viel Disziplin, und es ist vor allem in der Pubertät normal, sich von den Eltern nicht gerne Dinge sagen zu lassen. Zunächst versuchten meine Eltern ab und zu, mit mir zu üben, sahen aber ein, dass ich das nicht so gut aufnahm und ließen mich ab einem gewissen Punkt einfach machen. Gleichzeitig achteten sie darauf, dass meine Instrumentallehrer:innen mir die nötigen Impulse gaben und mich angemessen forderten. In meinem Umfeld konnte ich aber auch das Gegenteil beobachten – Personen, die in jungen Jahren streng gedrillt wurden und dann mit neunzehn aufhörten, weil sie ihr Instrument nie wieder sehen wollten.
Welche Instrumente spielen deine Eltern?
Samuel Toro Pérez: Mein Vater komponiert und meine Mutter spielt Klavier und Orgel und singt.
Und du hast gleich mit der Gitarre angefangen?
Samuel Toro Pérez: Zuerst habe ich ein Jahr Blockflöte gespielt.
„MIT 15 INTERESSIERTE ICH MICH NICHT FÜR ROCKMUSIK ODER FORTGEHEN, ICH WAR KLANGFORUM-ABONNENT:IN UND GING ZU WIEN MODERN.“
Ah ja! Die obligatorische Blockflöte.
Samuel Toro Pérez: Genau. Aber ich habe mich bald selbst dazu entschieden, dass ich klassische Gitarre lernen will. Viele Jahre lang war sie auch mein Hauptinstrument. Wichtige Eindrücke während meiner Schulzeit kamen in Form von Wettbewerbsteilnahmen wie „Prima la Musica“. Im Zuge meiner zweiten Teilnahme hörte ich dort einen späteren Freund und Kollegen, der damals bereits an der Universität für musik und darstellende Kunst Wien (mdw) im Vorbereitungslehrgang studierte – und ich war tief beeindruckt von seiner Performance. Daraufhin kontaktierte ich mehrere Gitarren-Professor:innen der mdw. So entstand der Kontakt zu Alvaro Pierri, bei dem ich mit dreizehn Jahren zu studieren begann. Insgesamt habe ich zehn Jahre lang bei Alvaro Gitarre studiert – vom Vorbereitungslehrgang über das Konzertfach bis zum IGP-Studium. Dabei war mir immer klar, dass ich mich auf Neue Musik spezialisieren möchte. Ich war bereits als jugendliche Person von der Bandbreite an Klangsprachen, Spieltechniken und konzeptuellen Ansätzen in der Neuen Musik begeistert. Mit fünfzehn interessierte ich mich nicht für Rockmusik oder Fortgehen mit Gleichaltrigen am Wochenende, ich war Klangforum-Abonnent:in und ging im November täglich zu Wien Modern. Ich wusste, dass ich genau in diesem Umfeld später einmal selbst regelmäßig auftreten wollte.
Was waren deine größten Inspirationsquellen und Vorbilder?
Samuel Toro Pérez: Nach meinem Abschluss an der mdw 2016 ging ich nach Zürich, weil ich das Gefühl hatte, noch nicht „fertig“ zu sein. An der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) absolvierte ich dann noch den Master in Musikpädagogik. Die Zeit in Zürich bedeutete für mich viel neuen Input, das Curriculum dort bot mir einiges an Freiheit und die Hochschule enorme Ressourcen – ich inskribierte etwa Kurse in computerunterstützter Komposition und nahm an einer Exkursion der Szenographie-Klasse in Norwegen teil. Ein persönlicher Wendepunkt war das transdisziplinäre Programm „Transcultural Collaboration“ der ZHdK in Hongkong 2017. Das mehrwöchige Arbeiten in transdisziplinären Konstellationen sowie der kulturelle Austausch mit den übrigen teilnehmenden Künstler:innen aus Asien und Europa inspirierten mich nachhaltig, auch was meinen Arbeitsstil betrifft.
Dieses kollaborative Arbeiten zieht sich durch deine Karriere. Wie hast du das in anderen Kontexten erlebt?
Samuel Toro Pérez: Ein Beispiel ist meine Arbeit mit dem Kollektiv andother stage um Brigitte Wilfing und Jorge Sánchez-Chiong. Vergangenen November hatten wir bei Wien Modern Premiere mit „When We Play“. Das war körperlich das anspruchsvollste Stück, das ich je performt habe. Der Premiere ging ein mehrwöchiger kollaborativer Prozess voraus, in welchem Musik, Tanz und Choreografie von vornherein eng miteinander verbunden waren. Alle beteiligten Personen brachten sich ein, wir probierten ziemlich viel aus, jammten, tüfteln, spielten, tanzten. Von dem vielen dabei generierten Material wurde letztendlich nur ein Bruchteil umgesetzt – nicht mehr und nicht weniger als das, was das Stück wirklich brauchte. Solche Prozesse sind ein extrem wichtiger Teil meiner Arbeit, weil sie mir neue Möglichkeiten eröffnen und meine Grenzen pushen. Gleichzeitig verlangen sie allen Beteiligten natürlich auch einiges ab.
Da klingt das klassische Ensemble-Setting fast symbiotischer.
Samuel Toro Pérez: Das würde ich so nicht sagen – es ist eher so, dass die Aufgabenstellung und -verteilung dort anders funktionieren. Bei einem Ensembleprojekt mit dem Klangforum Wien etwa steht meist ein:e Dirigent:in vorne am Pult, die Musiker:innen kommen mit ihren individuell vorbereiteten Parts und alles wird innerhalb von ein paar Proben zusammengesetzt, fein abgestimmt und anschließend aufgeführt. Alles ist von vornherein sehr klar definiert und kann dementsprechend auch effizient durchorganisiert werden. In anderen Kontexten, etwa kollaborativen Prozessen, sind die Rollen oft fließender. Dinge entstehen oftmals spontan bzw. sind nicht fertig durchkomponiert, wenn wir uns zur ersten Probe treffen. Ich würde nicht sagen, das eine sei besser als das andere, es sind zwei unterschiedliche Arbeitsweisen und ich finde, sie ergänzen sich sehr schön.
„When We Play“ ist auch eine Gratwanderung zwischen Risikobereitschaft und Selbstaufgabe, die in einem Safer Space möglich wird. Oder?
Samuel Toro Pérez: Absolut. Das ist extrem wichtig. In „When We Play“ war Tanzen auf der Bühne fundamental, teils hautnah am Publikum. Niemand von uns bei andother stage, abgesehen von Brigitte, hat eine professionelle Tanzausbildung absolviert, das macht uns natürlich noch ein Stück weit verletzlicher auf der Bühne. Der Großteil der Vorgaben kam letztendlich zwar von Brigitte und Jorge, das Stück lebt aber davon, dass zu jedem Zeitpunkt des Prozesses verschiedene Inputs zusammenkamen und jede Person die eigenen Qualitäten einbringen konnte. So haben wir gemeinsam die Szenen entwickelt, ebenso ein Bewegungsvokabular samt Strategien für dessen Umsetzung, und Tanz- und Musik-Elemente Stück für Stück zusammengesetzt. Dabei haben wir uns gegenseitig gefordert und sind auch an unsere Grenzen gegangen. Genau das ist für mich entscheidend: Durch solche Produktionen probiere ich Dinge aus, auf die ich von alleine nie gekommen wäre.
Das klingt nach einer sehr schönen Erfahrung. Wie bist du eigentlich zu deiner eigenen musikalischen Stimme gekommen?
Samuel Toro Pérez: Ich habe erst 2016 begonnen, E-Gitarre zu spielen – ohne Rockband-Vergangenheit. Das hat mich als jugendliche Person nicht so interessiert, ich habe erst deutlich später begonnen, mich auch mit populären Musikrichtungen auseinanderzusetzen. Mein Zugang zur E-Gitarre war von Anfang an von einer sehr klassischen Denkweise geprägt und auf Neue Musik bzw. Kammermusik fokussiert.
Tatsächlich hatte ich großen Respekt vor der E-Gitarre, weil sie trotz der Ähnlichkeiten zur akustischen Gitarre eigentlich ganz anders funktioniert. Spieltechnisch profitierte ich natürlich sehr von meiner klassischen Ausbildung, aber die Klangästhetik – was ein „guter Sound“ ist und wonach ich dabei eigentlich suchen muss – war für mich erst einmal Neuland. Auch in den technischen Facetten des Instruments, in den Umgang mit Verstärkern, Effektpedalen, Kabelwegen etc., musste ich mich erst einarbeiten. Jedenfalls hatte ich das Glück, speziell während der Jahre meiner E-Gitarren-Kennenlernphase Projekte zu spielen, deren Komplexität stets dem entsprach, was ich gerade bewältigen bzw. mir neu aneignen konnte. Mit jedem Projekt stieg die Herausforderung ein wenig weiter, und so wuchs auch meine Routine. Bei meinem Masterprojekt in Zürich 2019 spielte ich erstmals beide Instrumente – akustische und E-Gitarre – solistisch im Konzert.
Diese Routine ist auch entscheidend für einen Faktor, der in meiner Arbeit seither immer wichtiger wurde: die Zusammenarbeit mit Komponist:innen und das gemeinsame Tüfteln an Sounds. Manche Komponist:innen kommen mit sehr präzisen Vorstellungen, andere kennen das Instrument noch gar nicht und entdecken durch die Zusammenarbeit ungeahnte Klänge, die der Komposition unter Umständen eine vollkommen neue Wendung geben.
„DIE BANDBREITE HÄLT MICH BEGEISTERT!“
Es gibt nicht so ein lineares System wie bei Noten.
Samuel Toro Pérez: Genau, allein Klänge akkurat mit Worten zu beschreiben ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Besonders in der Neuen und in der Elektronischen Musik gibt es unzählige Möglichkeiten, Klänge zu erzeugen, aber die Kommunikation darüber ist an Worte und Zeichen gebunden und daher letztlich limitiert. Das ist einer der Gründe, warum Kollaboration meiner Meinung nach so wichtig und bereichernd ist. Mir persönlich hat die E-Gitarre darüber hinaus die Tür zur elektronischen Musik geöffnet. Sie ist ein Hybrid aus klassischem Instrument mit essentiellen elektronischen Komponenten. Der Klang wird physisch erzeugt, elektronisch verändert und projiziert.
Das macht die Balance in Ensembles im Zusammenspiel mit akustischen Instrumenten oft zur Herausforderung – gleichzeitig ist dieses Zusammenspiel wohl gerade aufgrund dieser Andersartigkeit so reizvoll. In meinen letzten Projekten habe ich E-Gitarre und Live-Elektronik so eng miteinander verbunden, dass sie kaum noch voneinander zu trennen sind. Diese Verschränkung interessiert mich gerade besonders.
Spielst du auch noch klassische Gitarre?
Samuel Toro Pérez: Ja! Auch wenn ich aktuell mehr Projekte mit der E-Gitarre habe, liebe ich die klassische Gitarre nach wie vor. Es liegt vor allem an der hohen Nachfrage nach E-Gitarren-Projekten, dass ich weniger Zeit für sie habe. Nichtsdestotrotz spiele ich sie weiterhin, diesen März etwa, bei der Produktion „Cachafaz“ an der Neuen Oper Wien, kommen beide Instrumente zum Einsatz. Und Anfang 2024 spielte ich mit dem Klangforum in Graz Helmut Lachenmanns Ensemblestück „Concertini“, dessen Gitarrenpart auch eine Solo-Kadenz umfasst.
Ich mag die Vielfalt in meiner Arbeit: von rein akustischer Gitarre bis zur E-Gitarre und Elektroakustik. Diese Bandbreite hält mich begeistert! Ich würde sagen, meine Routine besteht darin, ständig Neues zu lernen. In den letzten Jahren habe ich auch bewusst Einflüsse außerhalb der Neuen Musik gesucht – Stichwort Ambient!
Guter Übergang! Ich wollte gerade über deine Ambient-Studies sprechen.
Samuel Toro Pérez: Danke! Zu Ambient kam ich tatsächlich durch die Arbeit mit der E-Gitarre und ihren schier endlosen klanglichen Möglichkeiten. Mit Effekten kann man etwa konstante Sounds und mehrschichtige Klangflächen erzeugen, was mit einem Zupfinstrument eigentlich un- bzw. nur sehr eingeschränkt möglich ist. Im Zuge mehrerer Theaterprojekte unter der Regie meines Freundes Maximilian Hanisch konnte ich mich da richtig austoben, etwa 2022 bei „The Lobster“ und 2024 bei „HER“ am Theater Neumarkt in Zürich. Max ist immer offen für meine musikalischen Ideen, und wir haben festgestellt, dass diese klangliche Experimentierfreude eine gute Grundlage darstellt, um Atmosphären für das Theater zu schaffen.
Am 18. Februar zeigst du beim impuls Festival einen Abend, der unter dem Titel „Tracing the Architecture of Time“ läuft. Möchtest du etwas darüber erzählen?
Samuel Toro Pérez: „Tracing the Architecture of Time“ ist eigentlich der Untertitel zu „Open Spaces“. Der Parameter Raum spielt in vielen Kunstformen eine zentrale Rolle. In der Instrumentalmusik sind die effektiven Möglichkeiten, mit Raum zu komponieren, tendenziell eher begrenzt, in der elektroakustischen Musik hingegen ist theoretisch kaum etwas nicht denkbar. In „Open Spaces“ haben wir uns für den Ansatz entschieden, den physischen Raum direkt mit einzubeziehen und effektiv klanglich damit zu spielen.
Das Projekt verbindet zwei meiner längerfristigen Kollaborationen – jene mit Elena Rykova und Micha Seidenberg. Elena und ich lernten uns im Vorfeld der Darmstädter Ferienkurse 2021 kennen. Damals komponierte sie ihr abendfüllendes Stück „asymptotic freedom II“ für sechs E-Gitarren, das ich in Darmstadt mit uraufgeführt habe. Daraus ergab sich auch unsere weitere Zusammenarbeit. Für „Open Spaces“ haben wir gemeinsam ein Solo-Stück entwickelt. Micha Seidenberg und ich lernten uns während des Studiums in Zürich kennen, wir sind seitdem befreundet und arbeiten ebenfalls bereits seit längerem zusammen. Die Grundzüge beider Kollaborationen schienen mir sehr kompatibel, und so entstand die Idee zu diesem gemeinsamen Projekt. Auch Max (Anm. Hanisch) hatte am ursprünglichen Konzept mitgearbeitet. Besonders spannend ist für mich, dass ich mich in „Open Spaces“ nicht nur als Interpret:in, sondern gleichzeitig in zentraler Rolle als Komponist:in einbringe. Das ist eine aufregende, längerfristige Entwicklung.
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Wie ist es zur Entscheidung für dein Stück gekommen? Du hast dich ja auch mit Architektur beschäftigt.
Samuel Toro Pérez: Das Konzept für „Open Spaces“ begann inhaltlich mit meiner Auseinandersetzung mit nachhaltiger Architektur in Wien angesichts der Klimakrise. Es war Sommer, konstant extrem heiß und ich hatte den Wiener Umweltbericht gelesen. Infolgedessen war ich neugierig geworden und begann weiter zu recherchieren, zum Beispiel zum Schwammstadtprinzip für Stadtbäume, das der Seestadt zugrunde liegt. Ich denke zwar nicht, dass Kunst immer unbedingt eine konkrete Botschaft transportieren muss, aber sie reflektiert zumindest einen Zeitgeist. Wenn ich komponiere oder an einem neuen Projekt tüftle, spiegelt dieses auf irgendeine Weise wider, womit ich mich gerade beschäftige. Und so begann „Open Spaces“ mit meinem Bedürfnis, die architektonischen Konzepte zu verstehen, die Wien klimafit machen sollen. Ich entdeckte einige Parallelen zwischen Architektur, Klimatologie und Musik, die teils in das Konzept einflossen. Ein konkretes Brückenelement war Feedback. Feedback spielt bereits seit mehreren Jahren eine zentrale Rolle in meinen kompositorischen Prozessen, so auch in allen drei Stücken von „Open Spaces“. Neben seinen charakteristischen klanglichen Qualitäten stellt es mich vor die Herausforderung, mit seiner Unberechenbarkeit und der eingeschränkt möglichen Kontrollierbarkeit zu arbeiten, komponierend wie interpretierend. Das fasziniert mich.
Ein weiterer wichtiger Aspekt von „Open Spaces“ ist die geteilte Autor:innenschaft. Infolge der intensiven und langen Zusammenarbeit haben wir entschieden, sowohl „Melting Sands“ (mit Micha) als auch „Sheltering in Time II“ (mit Elena) offiziell als Gemeinschaftswerke zu deklarieren. In beiden Fällen werden wir jeweils beide als Komponist:innen genannt, die Rollenverteilung im kreativen Prozess war dabei durchaus unterschiedlich. Elena schrieb etwa die Partitur von „Sheltering in Time“, die Soundfindung war ein längerer gemeinsamer Prozess und die technische Umsetzung und die Rekonstruktion der Sounds lagen eher bei mir. Dabei sind diese Prozesse weder komplett voneinander zu trennen noch stehen sie in einer klaren chronologischen Reihenfolge.
„ES IST EIN PROZESS, DER UNMITTELBAR MIT DEM RAUM ARBEITET UND SICH JEDES MAL NEU ERFINDET.“
Die Dualität zwischen physischem und imaginärem Raum spielt dabei sicher auch eine Rolle. Gibt es noch einen anderen Aspekt, den du wichtig findest?
Samuel Toro Pérez: Ja, ich möchte noch über zwei Dinge sprechen. Erstens: Mein „alleiniges“ Stück des Abends, „Ambient Studies 5“. 2023 habe ich meine Werkreihe „Ambient Studies“ für Solo-E-Gitarre und Live-Elektronik begonnen. Jeder dieser Studien liegt eine Art spezifische Aufgabenstellung zugrunde, die entweder einem bestimmten musikalischen oder technischen Input oder einem Konzept folgt. Die Stücke haben auch Untertitel, die andeuten, was mich in ihnen beschäftigt.
„st/po remix“ ist der Untertitel von „Ambient Studies 5“. Der Titel hat nichts mit der Strafprozessordnung zu tun – diese zufällige Übereinstimmung ist mir erst später aufgefallen. Es ist ein Spiel mit Initialen: „stp“ sind meine Initialen, „po“ steht für mein Techno-Projekt „Pink Opaque“. Dieser Name wiederum ist eine Anspielung auf Jane Schoenbruns Film „I Saw the TV Glow“. „st/po remix“ kombiniert Elemente und Arbeitsansätze aus meinem Ambient- und meinem Techno-Projekt. Im Zentrum des Stücks stehen Wachstumsprozesse: Es beginnt mit Drones, die ich live mit der E-Gitarre erzeuge und aus denen ich mittels eines Sets aus insgesamt 16 Delays eine Textur aufbaue, die immer dichter und noisiger wird. Hinzu kommen stark bearbeitete 909-Drum-Samples, die größtenteils kaum wiederzuerkennen sind, und vorproduzierte Subbass-Synth-Lines. „st/po remix“ folgt einer festgesetzten Struktur, die dennoch flexibel bleibt, da die Delay-Wachstumsprozesse jedes Mal etwas anders ablaufen. Die kompositorische Aufgabe bestand sozusagen darin, ein fragiles Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Unvorhersehbarkeit zu finden.
Und was ist die zweite Sache, die du dazu noch sagen wolltest?
Samuel Toro Pérez: „Melting Sands“, das dritte Stück des Abends, ist das Ergebnis meiner langjährigen Zusammenarbeit mit Micha Seidenberg. Mein Part dabei ist ein klassischer, teils durchkomponierter E-Gitarren-Part. Den Gegenpart stellt Michas eigens entwickeltes Feedback-System dar, bestehend aus einem Mikrofon und zwei PA-Lautsprechern auf der Bühne, mehreren kleinen Lautsprechern ohne Gehäuse, die im Raum verteilt sind, und einem selbst programmierten Kontroll-Interface. Das Mikrofon nimmt die Klänge aus dem Raum auf, vom Hintergrundrauschen über den Output der Lautsprecher bis hin zu dem, was aus meinem E-Gitarren-Verstärker erklingt. Die entsprechend komplexen Rückkopplungen lenkt und verarbeitet Micha in Echtzeit. Die resultierenden Sounds unterliegen einer großen Varianz, eben weil das Feedback stark vom Raum abhängig ist. In Wien, Genf, Zürich und Bern, wo wir „Melting Sands“ bereits aufgeführt haben, klang es jedes Mal anders – je nach Akustik, Hall und anderen räumlichen Faktoren. Das macht für mich den Reiz des Stücks aus: Es ist ein Prozess, der unmittelbar mit dem Raum arbeitet und sich jedes Mal neu erfindet. Ich finde es spannend, wie die verschiedenen Gedankenstränge unseres ursprünglich formulierten Konzepts in den drei Werken des Abends zusammenlaufen. Ich freue mich sehr, dass wir „Open Spaces“ beim impuls Festival in Graz erneut zeigen können. Es ist eine besondere Kollaboration, die mir viel bedeutet.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Ania Gleich
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TERMINE:
Mittwoch, 19. Februar 2025
impuls . 9th Festival for Contemporary Music
Theater im Palais Graz
Solo electric guitar with electronics ft. Elena Rykova & Micha Seidenberg
Freitag, 21. Februar 2025
NDR Konzerthaus Hannover (DE)
LIZARD – Linzer Ensemble für aktuelle Musik
Grenzen | Works by Sara Stevanović, Dominik Leitner, Katharina Roth, Nilufar Habibian, Jorge Villoslada Duran and María Pérez Díez
Montag, 10. März 2025
sonic lab Bruckneruniversität Linz
Black Page Orchestra
Works by Georgia Koumará, Raphaël Cendo et al.
Dienstag, 11. März 2025
Stadtwerkstatt Linz
Black Page Orchestra
Samstag, 15. März 2025
Neue Oper Wien
Jugendstiltheater Vienna
amadeus ensemble wien, Walter Kobéra
Österreichische Erstaufführung von „Cachafaz“ von Oscar Strasnoy
Weitere Termine: 18., 19., 20. und 22. März 2025
Dienstag, 29. April 2025
Fracanaeum Lausanne
Jumeaux Jazz Club Lausanne (CH)
Solo electric guitar with electronics ft. Elena Rykova & Micha Seidenberg
Samstag, 24. Mai 2025
Minoritensaal Graz
Schallfeld Ensemble
Freitag, 3. Oktober 2025
Mozarteum Universität Salzburg
oenm – oesterreichisches ensemble fuer neue musik, Johannes Kalitzke, Jacobo Hernández Henríquez (solo e-violin), Samuel Toro Pérez (solo e-guitar)
Waterfall by Ying Wang for e-violin, e-guitar, ensemble and video (WP) et al.
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