Mehr als Donaublubbern: Donaueschinger Musiktage 2008

Unsere mica-Berichterstatterin für Donaueschingen ist auch heuer wieder Nina Polaschegg. Da sie in ihrem Beitrag zu Donaueschingen (17.-19.Oktober) sowohl auf Dror Feilers Werk “Müll” mit dem Klangforum Wien Bezug nimmt, mit dem das Festival zu Ende ging, als auch auf das SWR-Orchester, das auch unter Pierre Boulez spielte, können wir uns unseren ersten Tagebuch-Eintrag zur Wien Modern-Eröffnung getrost sparen. Diese Konzerte waren in Donaueschingen nämlich quasi als “Generalproben” zu den beiden ersten Programmpunkten vergangenen Sonntag und Montag in Wien gespielt worden. Worüber Polaschegg auch schreibt, ist Bernhard Gander, heuer einziger österreichischer Gastkomponist in Donaueschingen, dafür zweimal mit ein und demselben Stück (hr).

Donaueschingen – noch immer eins der wichtigsten Festivals

 

Ein Interpretationsvergleich einiger in Donaueschingen aus der Taufe gehobenen Werke durch verschiedene Ensembles, eine Kollektivkomposition, “Lärm” und ein Müllwagen auf der Bühne – die Konzeption der Donaueschinger Tage für neue Musik, wahrscheinlich noch immer das bedeutendste Festival der Gegenwartsmusik, scheute das Wagnis nicht und erinnerte daran, dass Neue Musik einmal auch “experimentell” genannt wurde und das als höchstes Lob zu denken war. Wie entscheidend die Ideen des Kurators Armin Köhler für das Zustandekommen dieser lustvoll erteilten Lektion war, erfuhr, wer die “experimentellen” Programmteile mit den nicht eben wenigen Stücken verglich, die europäischen Neue-Musik-Standard verkörperten. Hochprofessionelle virtuose Musik für weitgehend konventionell gehandhabtes klassisches Sinfonieorchester (oder auch Kammerorchester), basierend auf reihentechnisch oder in atonalen Modi “organisiertem” Tonhöhenmaterial, ausgesetzt in konventioneller, zuweilen gar fast neoromantischer oder neoimpressionistischer Manier, dramaturgisch in kleiner bis mittlerer Phrasierung aufgebaut, die sich verdichten, überlagern und wieder ausgedünnt werden. Oft Variationen aus einem Einfall. Standard-Neue-Musik, oft gekonnt gebaut und orchestriert, doch ohne Kanten. Seltendst noch wagt man beispielsweise das Nicht-Ereignis, das Ungebärdige, kantige Zeitverläufe, die Sparsamkeit mit dem konventionellen Orchesterapparat oder das Schwarz-Weiß; Mikrotöne benutzt man, weil man es eben heute so tut, aber meist eher als Kolorit. Diese Standardstücke, die sofort wieder aus Ohr und  Gedächtnis verschwinden.

 

Aber eben: Den Kuratoren der bereits seit 1921 bestehenden Musiktage für zeitgenössische Musik war es zu danken, daß man die Redundanz solcher hochprofessionellen Etabliertenmusik im Kontrast eindrücklich erfuhr. Dass man die Standards nicht einfach außen vor lassen kann, versteht sich, der dreitätige Uraufführungsmarathon in der Baden-Württembergischen Provinzstadt, die sonst wenige Reize bietet, abgesehen vom Bächlein Brigach, das sich nicht weit entfernt in die Donau ergießt, ist schließlich eine Art Fachmesse für zeitgenössische (komponierte) Musik – und da muss das gesamte Spektrum vertreten sein. Veranstalter ist der Südwestrundfunk Baden-Baden, genauer die Redaktionen Neue Musik, Jazz und akustische Kunst, die den jährlichen Karl-Sczuka-Preis verleihen, Ernst von Siemens Musikstiftung und die Kulturstiftung des Bundes sind wichtige zusätzliche Finanzgeber, um die 21 Ur- und Erstaufführungen von Komponisten aus 14 Ländern zu ermöglichen.

 

Dass wir Bach und Beethoven in den unterschiedlichsten Interpretationen hören, sie stilistisch, klanglich und nach aufführungspraktischen Gesichtspunkten miteinander vergleichen, ist uns längst selbstverständlich. Dass ein Werk erst in seiner klingenden Form seine Realisierung erfährt, dass es in der Interpretation und Deutung immer diese Restunsicherheit oder auch einen Rest-Spielraum  gibt, dass sich der Blick auf Historisches mit der Erfahrung und Entwicklung in der Musikgeschichte verändert und erweitert, alles dies ist für klassische Musik common sense. Zeitgenössisches aber wird oft nur einmal aufgeführt, nur wenige Werke finden Eingang in den (Neue Musik)-Konzertbetrieb und damit auch ins Repertoire unterschiedlicher Ensembles. Dabei verlangt die Komplexität vieler Partituren noch viel eher als in bekannter, tonal gebundener Repertoiremusik doch fast von sich aus ein wiederholtes Hören, Vergleichen und Interpretieren. Zwar gab es einige wenige Vorläuferversuche, die etwa Uraufführungsstücke prinzipiell zweimal hintereinander spielen ließen, doch man staunt, dass ein solcher Vergleich verschiedener Ensembles in Donaueschingen noch nie stattgefunden hatte. Der leitende Redakteur für Neue Musik im SWR, Armin Köhler, hat in diesem Jahr drei der international renommiertesten Spezialistenensembles für zeitgenössische Musik nach Donaueschingen zu einer “Ensembliade” eingeladen.

 

Bernhard Gander: “Beine und Strümpfe”

 

Das 1976 von Pierre Boulez gegründete “Ensemble Intercontemporain”, das “Ensemble Modern” und das “Klangforum Wien” spielten einen Tag lang Uraufführungen verschiedener Komponisten. Jedes Ensemble musste sich ein Werk aus dem Repertoire jedes der beiden anderen Ensembles aussuchen. Das Publikum kam also in den Genuss, drei Kompositionen zweimal zu hören, zwei Interpretationen, zwei Vorstellungen, die Dirigent bzw. Dirigentin und Ensemble zunächst alleine, schließlich auch mit dem jeweiligen Komponisten erarbeitet hatten. Dass es hier nicht um einen Wettbewerb, nicht um besser oder schlechter ging, versteht sich auf diesem Niveau von selbst. Trotz der schwierigen Akustik der traditionell zum Konzertsaal umfunktionierten Schulsporthalle zeigten diese vergleichenden Klangeindrücke eindrucksvoll die unterschiedlichen Spielkulturen der drei Ensembles, ihren Ensembleklang, die Verschiedenheit von Spieltraditionen. Intercontemporain setzte sehr französisch – und sehr im Geist ihres Gründungsvaters Boulez – auf Durchsichtigkeit, Kontrolle des Ausdrucks und rhythmische Präzision. Das “Ensemble Modern” setzte – vielleicht sogar in einer deutschen Tradition – auf individuelle Virtuosität und Expressivität. Das “Klangforum” versuchte, die Vorzüge beider Spieltraditionen zu vereinen.

 

Interessant zu hören war aber vor allem auch, wie unterschiedlich einzelne Stücke wirken, wenn sie von zwei verschiedenen Ensembles gespielt werden. Vielleicht am deutlichsten wurde dies bei der Interpretation von Bernhard Ganders “Beine und Strümpfe”, der in diesem Jahrgang als einziger österreichischer Komponist bei den Donaueschinger Musiktagen zu Gast war. Bernhard Gander beschreibt seine Stücke meist über assoziative Analogien zum Alltag und zur Rockmusik. In diesem Fall ließ er sich von außermusikalischen Bildern inspirieren, von Strümpfen, die ihren Weg zunächst auf den Laufsteg, schließlich in die Disco finden – die Komik oder spielerische Absurdität dieses Vergleichs findet sich in Ganders Musik ebenso. Die Bewegungen tanzender Beine übersetzte er in klangliche Bewegungsabläufe, die Dehnbarkeit der Strümpfe in flexible Rhythmisierungen.

 

Wer nach Ganders Selbsterklärungen Klänge erwartet, die direkt der Popularmusik entspringen, wird regelmäßig, so auch hier, enttäuscht – und zwar durchaus im positiven Sinne. Beats, die nur die Magengrube interessieren, finden sich hier nicht. Ganders Klangsprache hat nichts mit direkten Gesten aus Pop oder Rock zu tun, selbst wenn er sich immer wieder von einzelnen Strukturideen, von Dauern, Intensitäten oder Klangperspektiven, gelegentlich auch von rhythmischen Rock und Pop-Patterns inspirieren lässt. Alles aber wird – oft komisch oder grotesk oder anarchisch – transformiert. Jazz oder Tanzmusik klingt höchstens als flüchtiges Moment in einem verschlungenen, oft polymorphen Ganzen auf. In “Beine und Strümpfe”, schälten sich aus scheinbar chaotisch-dichten Bewegungsabläufen rhythmisch akzentuierte Repetitionsüberlagerungen heraus, die in wechselnden Bewegungen das Stück prägen. Dass der genaue Struktursinn nicht zuletzt von den ausführenden Musikern abhängt, zeigte nun nachdrücklich der Interpretationsvergleich der “Ensembliade”: Einzelne Soli und Duette wirkten in der Interpretation des Ensemble Modern und seines Dirigenten Franck Ollu eher als Ruhepole, während die Musikerinnen und Musiker des Klangforum Wien unter Emilio Pomarico den dichten, stets von kurzen ab- oder aufsteigenden Läufen und Repetitionen geprägten Duktus weiterzutragen schienen. Insgesamt spielten die Wiener schneller, fokussierten präzise kleine Gesten. Das Ensemble Modern hingegen erarbeitete eher den “Rhythmus im Großen”, die Gesamtdramaturgie, die expressive Großdisposition. Erst vor dem Hintergrund dieser Gesamtdisposition werden einzelne Motivpassagen herausgezoomt.

 

SWR-Sinfonieorchester unter Boulez und Cambreling

 

Solche Interpretationsvergleiche bieten verschiedene Blicke auch auf ganz neue Werke. Sie erinnern aber auch daran, dass es eben nie nur um Material und seine (fixierte) Ausformung allein gehen kann. Das zeigte, freilich auf ganz andere Art, auch das Eröffnungskonzert des SWR-Sinfonieorchesters unter Pierre Boulez, in dem vor allem für Boulez’  “Figure – Doubles – Prismes” geprobt wurde, die neuen Stücke von Fabian Panisello, Isabel Mundry und Enno Poppe eher knapp realisiert denn interpretiert und durchgearbeitet schienen und schon allein dadurch eher farblos wirken mussten.

 

Ganz anders im zweiten Orchesterkonzert, in dem das SWR-Orchester unter Silvain Cambreling seine Qualitäten auch in der Interpretation und Spielkultur zeitgenössischer Musik zur Entfaltung bringen konnte. Überraschend, für manche regelrecht sensationell und dabei nur als Ersatz für nicht fertig gewordene Kompositionen programmiert, war ein 1965/66 entstandenes Werk Ben Johnstons, eines hierzulande kaum bekannten US-Amerikaners. Fasziniert von Harry Partch, arbeitet Johnston mit verschieden gestimmten Orchestergruppen, lässt auf skurrile Weise abstrakte Gesten auf Ives-Zitate prallen, verwebt filmmusikartige Linien mit kurzen Repetitionspassagen, sucht freiere Strukturen mit Konstruktivem zu verbinden. Ben Johnstons “Quintet for Groups” erwies sich trotz einiger Fragezeichen an die Tragfähigkeit dieses Patchworks und sehr deutlicher Inspiration an Ives’ Konzeption dennoch prägnanter als viele andere, nur professionell effektorientiert den Orchesterapparat bedienende Werke der diesjährigen Festivalausgabe.

 

Musikalisch leider allzu stark in wenigen Klischees zeitgenössischen Komponierens verharrend war das Ergebnis einer Kollektivimprovisation Chaya Czernowins und ihrer Schüler bzw. ehemaliger Schüler. Was als Experiment gedacht war, entpuppte sich als ein langatmiges Stück, abgeleitet aus wenigen Grundideen, die nach und nach von einzelnen Komponistinnen und Komponisten ein wenig variiert wurden. Im Kollektiv wurde im Wesentlichen nur die Großform beschlossen, den einzelnen Komponierenden ihr jeweiliger Part überlassen. Die Chance, den Werkbegriff neu zu denken, wenn nicht mehr ein einzelnes Subjekt als Urheber verantwortlich zeichnet, wurde damit vertan. Genauso wenig wurde damit ein Bezug gesetzt zu anderen kollektiven Formen der Musikgestaltung, zur Kollektivimprovisation und damit zu dialogischem Austausch in der Werkgenese selbst – mit ihren möglichen Konsequenzen wie der Überlagerung einzelner musikalischer Ansätze und der jeweiligen Referenz auf das jeweils andere angebotene Material, mithin die Verschränkung subjektiver Ansätze oder dergleichen mehr für Komposition neu zu denken.

 

“Müll”

 

Das Festival endete mit “Müll” von Dror Feiler, der, in Tel Aviv geboren, seit 1973 in Schweden lebt. Sein Werk ist durchzogen von einem “politischen” Impetus. Das gilt für seine Eröffnungsperformance ebenso wie für eine Klanginstallation, in der er Videoaufnahmen von ärmlichen Straßenmusikern Mexikos auf 16 gleichzeitig sicht- und hörbaren Monitorfeldern in einer der Haupt(einkaufs)straßen Donaueschingens platzierte. Dror Feilers Werke polarisieren. Oft werden sie nur mit einem Wort abgetan: Krach. Lärm-Terrorist, solche Etiketten hängen Feiler an. Doch auch im Donaueschinger Abschlusskonzert bedeutete Krach noch nicht undifferenziertes Chaos. Im Gegenteil. Wie Dror Feiler aus dichtem Klanggewebe, das vom Gestus her dem Energy Play des Free Jazz, vom Klangmaterial her aber eindeutig ausnotierter “Neue-Musik-Motivik” entsprang, schälten sich zunehmend als elektronische Samples eingeworfene Schlagzeugbeats heraus, die nach und nach das gesamte Ensemble in rhythmischen Gesten sammelte. Pulsieren und Breaks gingen über in dichtes Gewirr, Sängerin und Sänger rezitierten, schrieen, klagten an. Ein Müllwagen war auf der Bühne platziert, dessen Geräusche sich gelegentlich in das Frequenzspektrum der Instrumente hinzumischte. Einziger Wehmutstropfen dieses Werkes, wie vieler anderer Werke Feilers auch: Die semantische Aufladung seiner Stücke, die sich schon im Titel zeigt: “Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit” – und seinen damit indirekt verbundenen Anspruch, die Welt mittels Kunst verbessern zu können. So durchdacht und interessant etwa das Abschlusskonzert (sieht man von einigen Längen ab) war, so plakativ und simplistisch erscheint es, wenn man den anklagenden Text, die Kulturkritik mitdenkt. Von Feilers Starrsinn einmal ganz abgesehen, mit der er ultralinke Desperados und Meuchelmörder kultisch auflädt und noch einmal zu den letzten, wahren Idealisten in einer niedrigen, imperalistischen Zivilisation umzulügen versucht. Plakativ und mit einfachsten Mitteln künstlerisch “umgesetzt” auf musikalischem Wege sogenannte Kulturkritik zu üben scheint übrigens ein Trend zu sein, gerade von einigen Komponisten, die wie Dror Feiler aus Israel oder Palestina stammen.

 

Dror Feiler allerdings unterscheidet sich als Musiker kategorial von jenen moralistischen Schöntönern und Betroffenheitssymphonikern. Feiler ist nicht nur Komponist, sondern bewegt sich auch in Improvisations- und Free Jazz Kontexten. Er hätte mit anderen Projekten in der “NOWJazz Session” vertreten sein können, die traditionell beispielhafte Projekte  improvisierter Musik in Donaueschingen präsentiert. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, Feiler auch hierher einzuladen. Stattdessen war eher das Gegenteil von Feilers kompromissloser Provokation zu hören: man könnte fast sagen kulinarisches Biedermeier in der angeblich “experimentellen” Musik – nämlich Avantgarde als Mogelpackung mit Wellnesseffekt, Musik, die man, zumindest im zweiten Teil des Konzertes eher in einer Clublounge angesiedelt hätte.

 

Unter dem Motto “Hypnotic Grooves” wurden zwei Trios präsentiert, die minimalistische Inspirationen weiterzuentwickeln suchen. Die Kultband “The Necks” aus Australien spannt extrem lange Bögen mit wenig expressiven, aber doch kontinuierlichen Steigerungen, wenigen Rhythmus- und Motivwechseln. Wenn aber der Pianist sich auf tonale und motivische Repetitionen beschränkt, und diese lediglich in eine banale dynamisch Steigerung über 20 Min packt, wird das Ganze zur Mogelpackung: Das ist Klassik-Pop mit anspruchsvoller Drumset-Untermalung. Ärgerlicher war wohl nur das nachfolgende “Duo” des Elektronikers Burnt Friedman mit dem Schlagzeuger Jaki Liebezeit, die sich als Gast in ihrem Projekt “Secret Rhythms” den Klarinettisten Hayden Chrisholm hinzugebeten hatten. Die Idee, das traditionelle Begleitinstrument Schlagzeug in den Vordergrund, Elektronik und Klarinette eher als Begleitung im Klangspektrum in Szene zu setzten, mag als Konzept reizvoll sein – wenn denn eine solche Idee irgendwie ausgestaltet wird. Doch langweiliger hätte dieses Konzert nicht sein können, bei aller Präzision und Intensität innerhalb seines seit 30 Jahren unveränderten Konzeptes Liebezeits, des ehemaligen Drummers der Rockband “Can”. Friedman setzte vor allem Patternsamples hinzu, die keine versteckten Rhythmen, keinerlei Querstände, keinerlei Vielschichtigkeit erzeugten, sondern sich in die Rhythmen des Schlagzeugs ohne Brechung einfügten. Die Einsprengsel des Klarinettisten gingen in den Klängen von Liebezeits Präzisionsuhrwerk gleich ganz unter, ausgenommen einige klangfarbliche Schimmer – und einige brave folkloristisch angehauchte Weisen, die die Kulinarik keineswegs störten. Dass dazu die Klangbalance des Trios völlig unausgewogen war, war offensichtlich und passte zum Gesamteindruck.