Mediathek im Marchettischlössl: Symphoniker-Aufnahmen (1952-55) öffentlich zugänglich

Mediathek im Marchettischlössl: Symphoniker-Aufnahmen (1952-55) öffentlich zugänglichWer einmal hören will, was für ein Kaliber der junge Giuseppe di Stefano bei seinem ersten Auftritt in Wien (1953 im Musikverein) gewesen ist, der sollte den angeführten Link zur Mediathek anklicken: Man kann dort “Cielo e mar” mit ihm fünf Minuten lang anhören. Oder einen längeren Ausschnitt einer “Orfeo”-Aufführung (1954), zum ersten Mal mit Nikolaus Harnoncourt und dem damals noch nicht benannten, auch aus Symphoniker-Reihen besetzten Concentus Musicus. Plus den Einführungs-Vortrag dazu, bei dem kein Geringerer als der damalige Dirigent Paul Hindemith den “Originalklang” erklärt. Das alles mit freundlicher Genehmigung der Wiener Symphoniker.

Zwischen der Österreichischen Mediathek des Technischen Museums (Gumpendorferstraße 95) und den Wiener Symphonikern fand ein umfangreiches Projekt an der Nahtstelle zwischen Tradition und Moderne seinen vorläufigen Abschluss: die Digitalisierung und Einlagerung von alten Symphoniker-Aufnahmen des Senders Rot-Weiß-Rot aus den Jahren 1952 bis 1955. Sämtliche Originalbänder werden ab sofort in der Mediathek gelagert und sind als digitale Kopie für alle Besucher akustisch zugänglich.

 

Die auf 400 Bändern gesicherten Aufnahmen wurden vom amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot während der Besatzungszeit mit namhaften Dirigenten und Solisten unter hochprofessionellen Bedingungen für die Live-Übertragung produziert. Obwohl sie ursprünglich vernichtet hätten werden sollen, wurden sie in einem Akt von Zivilcourage gesichert. Das ging so:
Nach Abschluss des Staatsvertrages beendete der amerikanische Sender seine Aktivitäten in Österreich, der Österreichische Rundfunk nahm den Sendebetrieb auf. Es erhob sich die Frage, was mit den Tonbandmitschnitten der Konzertreihe zu geschehen habe. Das Orchester verlangte die Löschung, um in der Hochkonjunkturphase des neuen Mediums Langspielplatte Raubpressungen zu verhindern. Zu dieser Zeit war Oskar Deleglise, der zuvor in verschiedenen österreichischen Kulturbetrieben als Manager gearbeitet hatte, bei RWR beschäftigt. Er sollte die Tonbänder löschen, erkannte aber ihren großen kulturhistorischen Wert. Scheinbar ging er auf die Forderung des Orchesters ein, in Wahrheit jedoch versteckte er die Bänder in einem Keller und ließ die Angelegenheit in Vergessenheit geraten. Zwei Jahrzehnte später sah er anlässlich des 200. Unabhängigkeitstages der USA die Gelegenheit gekommen, die auftragswidrig gehorteten Schätze wieder zu heben und empfahl der amerikanischen Regierung, sie den Wiener Symphonikern als freundliche Geste der Signatarmacht gegenüber Österreich zum Geschenk anzubieten. Im April 1978 wurden die Tonbänder schließlich in einem Festakt dem Orchester übergeben und lagerten seither im Orchesterarchiv und wurden dem historischen Archiv der Wiener Symphoniker übergeben.

 

“Das Technische Museum zeigt nicht nur vergangene Technik, sondern ist immer mehr Schauraum des Künftigen. Dies gilt besonders für die Abteilung Österreichische Mediathek und ihr digitales Archiv. Nur die hier angewandten Strategien verbürgen, dass wir audiovisuelle Medien auf Dauer zur Verfügung haben. Die Bestände der Wiener Symphoniker sind hier sicher und obendrein für alle zugänglich: Kulturgut auf Knopfdruck, sozusagen”, erläuterte Gabriele Zuna-Kratky, Direktorin des Technischen Museums, bei einer Pressekonferenz zur Vertragsunterzeichnung.

Für die Wiener Symphoniker stellt die Kooperation mit der Mediathek eine gelungene Symbiose aus historischer Materialsicherung und zeitgerechter Präsentation eines Orchesters dar. “Für ein Orchester mit 108-jähriger Geschichte ist die professionelle Sicherung und Lagerung seiner historischen Dokumente eine wesentliche Grundlage – schließlich gilt es für uns im Hier und Jetzt, unsere Geschichte zu kennen, um sie auch entsprechend weiterdenken zu können. Gleichzeitig können wir uns mit der Österreichischen Mediathek als Partner eine moderne und öffentlichkeitswirksame Infrastruktur zunutze machen, die unsere historischen Aufnahmen in einen zukunftsorientierten Kontext rückt“, ergänzte Peter-Sylvester Lehner, Geschäftsführer der Wiener Symphoniker. (hr unter Verwendung zweier Berichte auf der Symphoniker-Website ).

 

Der erste L’Orfeo Harnoncourts mit dem Concentus

 

Unter den Aufnahmen – nunmehr digitalisiert öffentlich zugänglich – befinden sich auch Raritäten mit Dirigenten wie Herbert von Karajan, Paul Hindemith, Paul Sacher oder dem jungen Friedrich Gulda als dirigierendem Solisten (Beethovens Klavierkonzerte 1 und 4). Wie bereits erwähnt, auch der Mitschnitt des ersten Concentus Musicus-Auftritts, an den sich Nikolaus Harnoncourt gut erinnert, nachzulesen bei Monika Mertl, Vom Denken des Herzens, Residenz-Verlag 1999, S.109 f.:

Das heimliche Debüt des erst 1957 so benannten Concentus Musicus erfolgt bereits bei den Wiener Festwochen 1954. Paul Hindemith, der bei den Wiener Symphonikern häufig als Dirigent in Erscheinung tritt, ist einer der Wegbereiter für die Opern von Claudio Monteverdi. Gemeinsam mit dem Regisseur Leopold Lindtberg will er “L’Orfeo” auf die Bühne des Konzerthauses bringen und übermittelt dem Generalsekretär Egon Seefehlner die Liste der benötigten Instrumente. Darauf finden sich nicht nur diverse Violen und Violinen, Cembali und Orgeln, sondern auch ein Tasteninstrument namens ,Regal’, das einen eigentümlichen, schnarrenden Ton erzeugt, sowie exotisch gebogene, ,Cornetti’ genannte Holzblasinstrumente, die man heute als Zinken kennt. Harnoncourt:

 

“Ich erinnere mich nicht, wie die Sache zu mir gekommen ist, aber ich bin zu Seefehlner zitiert worden. Der zeigt mir die Liste, und ich sage: Außer den Harfen, den Tasteninstrumenten und den Zinken kann ich alles beisteuern. Der hat solche Augen gemacht! Und ich habe gesagt: Dann will ich aber auch die Spieler stellen, ich will nicht nur die Instrumente herleihen (.) Es hat praktisch außer Alice der ganze Concentus mitgespielt. Statt ihr hat Paul Angerer gespielt. Als Karl Trötzmüller, Bratschist bei den Symphonikern, der für Hindemith in Wien ein großer Vorkämpfer war, erfahren hat, dass Hindemith den ,Orfeo’ machen will, hat er gemeint: Der Hindemith braucht zwei Zinken. In einem Jahr muss es möglich sein, das zu lernen. ,Trötz’ und Angerer haben sich Zinken machen lassen und dann haben sie geübt wie die Irren.

Dann haben wir in der Josefstädter Straße das ganze Instrumentarium durchprobiert. Es hat entsetzlich geklungen mit den Zinken! Aber schließlich ist es irgendwie gegangen (.) Die Brüder Jellinek, die großen Harfenisten der Philharmoniker, haben Harfe gespielt. Mertin hat auch mitgespielt, Regal. Das war das Lambacher Regal, das ist wahrscheinlich das schönste Regal der Welt. Es steht jetzt im Kunsthistorischen Museum. Und er hat für diese Aufführung eine Orgel gebaut (.) Aber was war mit den Zinken? – Die durften bei Hindemith gerade ein paar Takte spielen, nach einem Jahr Üben; dann hat er gesagt: Da nehmen wir lieber Englischhorn.”

 

Wir wollen hier noch einmal die Gelegenheit ergreifen, die mica-Musiknachrichten-LeserInnen auf die Existenz dieser Mediathek aufmerksam machen, von der viele wahrscheinlich gar nichts wissen. Sie befindet sich als Außenstelle des Technischen Museum im Marchettischlössl in der Wiener Gumpendorfer Straße 95 (1. Stock). Den BenutzerInnen stehen ein Studiensaal mit zehn Medienarbeitsplätzen – davon fünf zum Abspielen digitalisierter Medien (Voxboxen) -, ein Katalograum mit Handbibliothek, Zugriff auf den Online-Katalog und die Website sowie ein CD-Archiv zur Verfügung. Die Bestände umfassen in dem Archiv 1 Million Tonaufnahmen und Videos zur österreichischen Kultur- und Zeitgeschichte. Nicht kostenpflichtig ist in der  Mediathek das Suchen und Anhören der Bestände, die Öffnungszeiten sind Montag,  Mittwoch, Donnerstag 12 – 18 Uhr, Dienstag 12 – 20, und Freitag 10 – 15 Uhr. Der Gesamtkatalog der Österreichischen Mediathek mit den gesammelten Musik-, Sprach- und Videoaufnahmen ist auch von zu Hause aus auf einem Online-Katalog ansehbar. Zu ausgewählten Dokumenten existieren kurze Hörproben (Vorauswahl: Suche nur Medienclips). Und übrigens hat die Mediathek natürlich auch allen Grund, am 27.Oktober den UNESCO-World Day for Audiovisual Heritage mit diesen neuen Konzertmitschnitten der Symphoniker (und des Concentus) würdig zu feiern (hr).

Fotos: (1) Aufnahme-Equipment vom Sender RWR,  (2) Digitalisierung, unbenannt © Wiener Symphoniker; (3) Nikolaus Harnoncourt (TELDEC 6.48242)