Der Saxofonist Mats Gustafsson (Jahrgang 1964) ist einer der international profiliertesten Künstler des Freejazz und der Improvisierten Musik. Im Gespräch mit Alois Sonnleitner erzählt er unter anderem, warum er von Schweden nach Österreich übersiedelt ist, welche Unterschiede zwischen beiden Ländern er wahrnimmt und woher er seine Energie schöpft.
Mats, du bist in Schweden aufgewachsen und hast dort mehr als 40 Jahre gelebt, bevor du nach Österreich übersiedelt bist. Was waren die Gründe für deinen Ortswechsel und was hältst du für den größten Unterschied zwischen beiden Ländern, speziell für einen Musiker?
Mats Gustafsson: Stelzen!! Nein, im Ernst, es dreht sich alles um die Liebe! Worum sonst? Und so muss es sein. So ist das Leben. Dass ich die Liebe meines Lebens, eine Burgenländerin, getroffen habe, hat alles verändert. Und jetzt leben wir in Mitteleuropas Mittelpunkt kreativer Musiken: in Nickelsdorf! Ich finde es sehr interessant, beide Länder zu vergleichen, aus vielen verschiedenen Perspektiven und aus unterschiedlichen Gründen. Die Musik- und Kunstszenen unterscheiden sich ein bisschen. Und die Strukturen ebenso. Ich habe das Gefühl, dass es in Schweden mehr aktive Musiker gibt. Auf allen Gebieten der Musik, außer der klassischen. Österreich hat wesentlich mehr Ensembles für klassische und zeitgenössische Musik. Das Klangforum Wien ist wohl das spektakulärste und wichtigste davon. Zurzeit sogar das weltbeste, wenn du mich fragst, wenn es um radikale zeitgenössische Musik geht. Aber ich bemerke mehr jüngere Jazz- und Rockmusiker in Schweden. Obwohl es fantastische Spieler hier gibt, die extrem aktiv sind. Die kreativen Musiker in Österreich sind wirklich kreativ, schauen, dass eine Menge passiert. Christof Kurzmann, Martin Siewert, dieb13, DD Kern, Martin Brandlmayr, Franz Hautzinger, Pita, Burkhard Stangl – es gibt einen Haufen ernsthafter, ass kicking Persönlichkeiten hier. Den riesigen Unterschied machen die Festivals. Ich bin begeistert, dass drei der besten Festivals Europas in Österreich stattfinden: Konfrontationen Nickelsdorf, Kaleidophon Ulrichsberg und selbstverständlich unlimited Wels! Schweden hat dagegen … null Festivals.
Meinem Gefühl nach ist es in beiden Ländern ungefähr gleich einfach bzw. schwierig für einen Musiker. Aus geografischer Hinsicht ist es für mich persönlich einfacher, in Österreich zu leben – weil so viel interessante Musik in den osteuropäischen Ländern passiert. Bis vor einigen Jahren war es in Schweden großartig. Aber es hat sich viel geändert. Es wird immer noch viel unterstützt, was Reisen und jährlichen Support betrifft. Aber verglichen mit Norwegen wurden viele Möglichkeiten verpasst. Der deprimierendste Vergleich ist jener mit dem Gesundheitssystem und der Sozialversicherung. Da bewegt sich Schweden rückwärts, ist längst nicht mehr das beste Land Europas, was die Wartezeiten beim Arzt, die Bettenanzahl in Spitälern und die Altersversorgung betrifft – da gibt es vieles, was dringend zu verbessern wäre. Deprimierend. Es tut mir leid, das zu sagen, aber so ist es. Schweden ruht sich auf der Reputation aus, die es sich in den 60er- und 70er-Jahren erworben hat. Trotz allem würde ich sagen, dass es sich in beiden Ländern gut leben lässt, wenn man es mit Leuten zu tun hat, mit Essen und Trinken, Kunst, Film (Ulrich Seidl etwa ist ein verdammtes Genie!), gleiches gilt für die Natur hier und dort. Sobald es sich um politische oder ideologische Angelegenheiten handelt, müssten wir länger diskutieren – da passiert viel Scheiße. Rechtsextreme Bewegungen und Mentalitäten verfestigen die Dummheit der Menschen. Selbstverständlich kann das alles bekämpft werden. Wir müssen nur daran arbeiten…
Es würde Stunden dauern, um deine unzähligen musikalischen Aktivitäten aufzuzählen. Allein wenn ich an deine Trios denke, fallen mir Gush, Sonore, The Thing (mit und ohne Neneh Cherry) und Fire! ein. Daneben spielst du im Peter Brötzmann Chicago Tentet, im Barry Guy New Orchestra, eine Vielzahl an Solokonzerten und Kooperationen mit dem Who is who der Freejazz- und Impro-Szene. Wie kannst diesen Arbeitsaufwand bewältigen? Anders gefragt: Was ist das Geheimnis hinter dieser Energie?
Mats Gustafsson: Haha, keine Geheimnisse (Stelzen?). Man muss sich nur in Situationen begeben, die einen herausfordern. Situationen, die dir in den Hintern und ins Bewusstsein treten. Es ist eine endlose Suche nach neuen Situationen, neuen Türen, die noch zu öffnen sind, neuer Musik und Kunst, die noch zu machen ist. Es hört nie auf. Und das Gute daran ist – es muss langsam geschehen. Alle guten Dinge geschehen langsam. Und du musst brennen! Du musst dich dem, was du tust, zur Gänze widmen. Wenn du dich nicht von etwas herausgefordert fühlst, wenn du die Neugierde an etwas verlierst – bleib lieber daheim! Lieber arbeite ich in einem verdammten Kraftwerk oder in einer Fabrik, als in meiner Musik Kompromisse zu schließen. Ich bin froh, dass ich seit meiner Jugendzeit so denke. Im Alter von 20 Jahren hast du keine Ahnung. Ich hab’ sie immer noch nicht, aber ich habe mir meine Energie erhalten, meine Leidenschaft, meinen Hunger. Die Suche ist alles.
Es gibt neue Projekte, neue Künstler, mit denen ich arbeiten will. Jeden Tag. Ich sterbe dafür, zu erfahren, was passiert, wenn ich mit einer österreichischen Hardcore-Band spiele oder mit einem französischen Dudelsackspieler oder wer auch immer mir zustößt. Du musst dahinterher sein, dass Sachen passieren. Nichts passiert von selbst. Eine Menge an Energie geht für‘s Organisieren, Kuratieren, Produzieren usw. drauf. Darum kommt man nicht herum. Und selbst das kann Spaß machen und kreativ sein. Festivals, Konzertreihen, Platten, Tourneen. Du musst es machen!
Eine weitere wichtige Band, die du gegründet hast, ist Swedish Azz inklusive den österreichischen Turntablisten dieb13. Magst du uns die Motivation für dieses Ensemble erklären? Hat es mit Reminiszenzen an deine schwedische Vergangenheit zu tun?
Mats Gustafsson: Auf der einen Seite sind mir meine Wurzeln egal. Auf der anderen sind sie einfach da, die ganze Zeit. Also musst du etwas mit ihnen anfangen. Immerhin sind sie eine große Quelle der Inspiration. Und ich fühle meine Wurzeln in unterschiedlichen Erden. Der schwedische Jazz ist eine davon, die schwedische Punkszene eine andere, die Sami-Kultur eine dritte – und meine Vinyl-Sammlung ist natürlich eine täglich sprudelnde Quelle. Wurzeln überall. Der „Schwedische Arsch“ war eine verdrehte Idee von mir und Per Åke Holmlander, das ist Jahre her. Wir hörten gerade junge (und alte) Musiker geliebte Stücke unserer schwedischen Heroen – Lars Gullin, Jan Johansson, Börje Fredriksson, Lars Werner, Per Henrik Wallin, Lars Färnlöf u. a. – auf eine imitierende, redundante Weise spielen. Ohne Persönlichkeit, ohne individuelle Prägung. Also wollten wir etwas schaffen, das mit der Tradition des schwedischen Jazz zu tun hat, aber mit starker Persönlichkeit interpretiert und in einen neuen Kontext gestellt wird. Einen zeitgenössischen Kontext, was Formen und Farben anbelangt.
Wir haben einige Zeit dafür gebraucht, aber schlussendlich haben wir das fehlende Puzzlestück gefunden – in Nickelsdorf, wo sonst? – als wir dieb13 das erste Mal hörten. Er spielte mit Phil Minton ein faszinierendes Set, das uns umgehauen hat und die restlichen Konzerte wie Kindergarten-Improvisation klingen ließ. Kurz danach trafen wir uns in Schweden und starteten unseren Kreuzzug, der immer noch andauert. Und wenn uns die schwedischen Kompositionen ausgehen, werden wir uns der österreichischen Jazz-Geschichte zuwenden. Und die gibt es in rauen Mengen. Ich kann es gar nicht erwarten, mit Stücken von Joe Zawinul und von Hans Koller zu arbeiten.
Vor dem Hintergrund deiner intensiven und radikalen Musik kann ich mir Mats Gustafsson als politischen Menschen vorstellen. Spielen Länder und Grenzen in deinem Bewusstsein eine große Rolle? Und wenn nicht, favorisierst du eine bestimmte Utopie für die heutige Gesellschaft? Ich denke da an dich als Teil des unabhängigen Königreichs Elgaland-Vargaland, das von Leif Elggren und Carl Michael Hauswolff gegründet wurde …
Mats Gustafsson: Ich bin seit Jahren Bürger von Elgaland-Vargaland. Ich besitze tatsächlich zwei Pässe. Das ist das einzige Land, das ich respektiere. Der ganze Rest basiert auf falschen Fundamenten und Ideen. Die Grenzen sind in uns. Fuck the borders! Aber sie sind alle in unserem Eigentum und Eigentum nervt. Elgaland-Vargaland ist bald größer als der Vatikan. Wir wachsen permanent und ohne Eile. Wie gesagt: Gute Dinge brauchen ihre Zeit. Es dreht sich alles um Politik, wie solltest du ihr ausweichen können?
Mats, willst du uns etwas über deine nächsten Pläne verraten? Neue Zusammenarbeiten, neue Programme, die nächsten Konzerte?
Mats Gustafsson: Pfffffff. Davon gibt es zu viele, um überhaupt anfangen können, darüber zu reden. Neue Ideen werden mit der Hilfe von Freunden und neuen Komplizen geboren. Hauptsache, es fordert mich heraus! Ich höre dauernd großartige, abenteuerliche Musik, Zeug, das mich dazu drängt, damit zu arbeiten und etwas daraus zu entwickeln. Auch in der bizarren Welt der Visuals und Konzeptkunst existieren viele neue Stimmen, Ohren und Augen. Mein Fokus ist natürlich auf Nickelsdorf im Besonderen und auf Österreich im Allgemeinen gerichtet. Grundsätzlich kann man sich immer auf zwei Sachen fokussieren. Erstens: Free your mind and your ass will follow! Und zweitens: One piece of vinyl a day keeps the doctor away!
(Foto: Werner Krepper)
Die Diskussions- und Vortragsreihe mica focus wird unterstützt durch die Abteilung für Wissenschafts- und Forschungsförderung der MA7 Wien.
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