„MANCHE GEFÜHLE KANN MAN NUR IN DER MUTTERSPRACHE AUSDRÜCKEN“ – ÖZLEM BULUT IM MICA-INTERVIEW

Im Mai 2023 erscheint das dritte Album von ÖZLEM BULUT: „Ayna“ bedeutet Spiegel und versammelt 10 neue Lieder, die sie gemeinsam mit ihrer Band erarbeitet hat. Jürgen Plank hat mit der in Wien lebenden Sängerin mit türkischen Wurzeln über ihre Anfänge als Straßenmusikerin genauso gesprochen wie über die Sängerin AYNUR, die aus derselben wie sie Region stammt. Außerdem erzählt BULUT, warum Kurdisch nicht ihre Muttersprache ist, sie aber demnächst bei der ersten kurdischen Oper mitsingen wird. Das neue Album wird am 10. Mai im Rahmen des Festivals SALAM ORIENT in der Sargfabrik präsentiert.

Mir hat eine andere Opernsängerin in einem Interview erzählt, sie hätte auch schon auf der Straße gesungen. Du hast eine klassische Gesangsausbildung absolviert und ebenfalls als Straßenmusikerin begonnen. Wie war dieser Beginn?

Özlem Bulut: Ich habe diese Geschichte nur ein Mal erzählt, aber sie ist gut angekommen, weil sie zu diesem Bollywood-Klischee passt: das arme Mädchen beginnt auf der Straße zu singen und macht später Oper. Ich bin in einer kleinen Hafenstadt in der Türkei aufgewachsen und dort gab es keine Bühnen, man hat auf der Straße musiziert und so habe ich auch angefangen. Bis meine Eltern deswegen Angst hatten und mich zum Konservatorium zur Aufnahmeprüfung gebracht haben. Mein Vater war ein Hobbymusiker und hat mich immer sehr unterstützt.

Wie hat sich dein Musikmachen in den letzten Jahren entwickelt?

Özlem Bulut: Bis vor 4 oder 5 Jahren war es mir immer wichtig, was die anderen von mir halten und ich wollte immer gut ankommen und überall spielen. Mittlerweile gefällt mir, was ich gemacht habe. Ich habe erzählen können, was ich gespürt habe und dieses Gefühl kann man wahrscheinlich nur mit der Zeit gewinnen. Für das neue Album habe ich vier Lieder komponiert.

„Ich habe das Glück mit großartigen Musikern zu arbeiten“

Bild Özlem Bulut
Özlem Bulut (c) Fernanda Nigro

Auf deinem neuen Album „Ayna“ machst du eine Mischung aus Jazz, Klassik und Ethno-Einflüssen. Wie ist diese Mischung entstanden?

Özlem Bulut: Diesen Ethno-Teil empfinden Europäer:innen so, das ist aber eine eurozentrische Betrachtung, für mich ist das meine Musik. Meine klassische Ausbildung ist natürlich eine ganz andere Welt im Vergleich zu der Musik, die ich zu Hause von meinen Eltern mitbekommen habe. Dann bin ich nach Österreich gekommen und habe an der Volksoper gesungen, und ich erinnere mich auch noch an mein erstes Konzert im Porgy & Bess. Wenn du das neue Album hörst: das ist nicht nur meine Musik, das ist die Musik, die wir zusammen als Band gemacht haben. Man hört hier eine Band. Ich habe das Glück mit großartigen Musikern zu arbeiten. Zwei der Musiker haben am Berklee College studiert, Andrej Prozorov ist ebenfalls in meiner Band.

Du hast Wurzeln in der Provinz Tunceli, von dort stammt auch die berühmte kurdische Sängerin Aynur, die sehr politisch und kritisch ist und deswegen immer wieder Probleme bekommt. Hat dich ihr Wirken geprägt?

Özlem Bulut: Dort gibt es viele Sängerinnen, aber: Nein. Ich mag sie sehr und höre gerne ihre Musik, aber sie war kein Vorbild für mich. Es gibt großartige Sänger und Sängerinnen, die die Sprache und die Musik als politisches Instrument verwenden. Die kurdische Sprache war ja lange verboten und alles, was man mit kurdischer Musik macht, ist politisch. Aynur ist eine politische Sängerin. Ich komme aus einer ganz anderen Ecke, denn meine Muttersprache ist nicht Kurdisch. Mein Großvater hat die Massaker unter Atatürk selbst erlebt und hat immer verweigert, kurdisch zu sein. Meine Mutter ist Türkin und meine Muttersprache ist Türkisch, aber ich habe eine große Sympathie für die kurdische Bewegung. Musikalisch gesehen liebe ich traditionelle Volksmusik, aber ich bin dafür, neue Lieder zu komponieren. Ich finde es schön, die traditionellen Lieder immer wieder zu singen, sage mir aber: Machen wir neue Musik! Mich interessiert genauso elektronische Musik, ich möchte auch in diese Richtung gehen.

Auf deinem neuen Album verwendest du einen Text der türkischen Poetin Birhan Keskin, der sich mit Bauprojekten befasst. Naturzerstörung ist das übergeordnete Thema. Wie hat dieser Text den Weg aufs Album gefunden?

Özlem Bulut: Ich habe ja eine längere Pause gemacht, meine zweite CD wurde vor rund 8 Jahren veröffentlicht. Eine Zeitlang habe ich auch keine Musik gehört, irgendwann habe ich wieder begonnen zu Lesen und Musik zu hören und ein Freund hat vorgeschlagen, dass ich mit Texten von weiblichen türkischen Avantgarde-Dichterinnen arbeiten könnte. Das war eine gute Idee und ich bin bei Keskin einfach hängen geblieben. Ich bin begeistert von ihr, weil sie mit Humor schreibt: im angesprochenen Lied geht es um einen Bauarbeiter, der mit Gott spricht. Er sagt: ich habe eine platonische Liebe zu Gott. Und dann beschwert er sich über das Erdogan-Regime.

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Bitte erzähle über noch ein Lied vom neuen Album?

Özlem Bulut: „Yesilcam“ hat Marco Annau komponiert. Das ist ein Lied über das alte türkische Kino. In meiner Jugend bin ich viel zu Hause gesessen und habe viele alte türkische Filme in Schwarz-Weiss gesehen. Die sind ein bisschen ähnlich wie Bollywood-Filme. Mein Charakter wurde sehr durch diese Filme geprägt.

Wie erarbeitest du generell ein Lied?

Özlem Bulut: Meistens nehme ich mein Handy, summe eine Melodie und nehme Gesang auf. So sammle ich mit der Zeit Skizzen. Als wir mit den Kompositionen für das Album begonnen haben, haben ich auf diese Skizzen zurückgegriffen und wir haben überlegt, in welcher Sprache wir das Album machen: in deutscher, englischer oder in türkischer Sprache.

„Mir wurde gesagt: schminke dich, mache dich hübsch und zeige niemandem, dass es dir schlecht geht“

Du singst in türkischer Sprache, aber eine Nummer am Album „Ayna“ singst du in deutscher Sprache, das „Mädchenlied“.

Özlem Bulut: Auch wenn ich seit rund 20 Jahren Sängerin bin: Wenn ich Liebe singe, oder Aşk [Anm.: türkisch für Liebe], dann klingt das in meiner Muttersprache einfach anders. Manche Gefühle kann man nur in der Muttersprache ausdrücken. Das „Mädchenlied“ ist deswegen in deutscher Sprache, weil ich diese Liebe, diese Gefühlsphase, in deutscher Sprache erlebt habe. Deswegen konnte ich dieses Lied nicht auf Türkisch, sondern nur auf Deutsch machen. Im Lied geht es darum, dass man als Frau immer schön sein soll. Keine Wunde zeigen soll. Mir wurde gesagt: schminke dich, mache dich hübsch und zeige niemandem, dass es dir schlecht geht. Insofern ist das auch ein Spiegel-Lied. Gerade wir Frauen müssen uns immer gerade halten, immer funktionieren.

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Du singst mit dem Projekt Baroque Arabesque, mit dem du am 15. Mai 2023 im Wiener Konzerthaus auftreten wirst, auch ein sephardisches Lied in spanischer Sprache. Eines der neuen Stücke trägt den Titel „Tango“. Hast du ein musikalisches Interesse in Richtung Lateinamerika?

Özlem Bulut: Ich habe das auch nicht gewusst, aber es ist sehr interessant, dass Istanbul vor rund 100 Jahren ein Zentrum für Tango-Musik war. Es gibt sehr viele türkische Tangos. Was ich mit Baroque Arabesque mache, hat mit meiner Seite als Opernsängerin zu tun. Ich singe zum Beispiel Händel-Arien, aber mit Oud-Begleitung. Oder ich singe sephardische Lieder, die ich sehr liebe, begleitet von barocken Instrumenten wie Cembalo, Gambe und Barock-Perkussion.

Wien ist natürlich die Stadt der Musik. Bist du deswegen nach Wien gekommen und inwiefern passt es heute gut für dich, von hier aus zu agieren?

Özlem Bulut: Ich war Erasmus-Studentin und ich wollte einfach raus aus der Türkei. Ich habe Operngesang studiert und in diesem Bereich ist Wien einer der wichtigsten Orte der Welt. Wegen Jazz nach Wien zu kommen, ist keine gute Idee. Hier ist die Szene sehr klein, im Vergleich mit London, New York oder Berlin. Weil meine Wurzeln aber auch in der klassischen Musik liegen, war Wien für mich auf jeden Fall eine gute Wahl.

„Es gibt eine Fanbase in der Türkei, den Menschen gefällt unsere Musik“

Ihr habt auch schon in der Türkei gespielt, wie war das Feedback?

Özlem Bulut: Sehr gut, wir hatten großartige Feedbacks. Es gibt eine Fanbase in der Türkei, den Menschen gefällt unsere Musik. Die Frage ist, ob ich wieder in die Türkei fliegen kann, aber wir werden sehen, was nach den nächsten Wahlen passiert.

Ich habe mal mit Ulrich Drechsler über sein Projekt „Liminal Zone“ gesprochen, bei dem du involviert bist. Wie bringst du dich dort ein und was ist für dich das Besondere an diesem Projekt?

Özlem Bulut: Bei „Liminal Zone“ bin ich als Sopranistin dabei und übernehme die Vocals, da bin ich Koloratur-Sopran. Die Texte werden von Yasmin Hafedh gelesen.

Demnächst bist du in Deutschland als Opernsängerin für einen besonderen Abend engagiert.

Özlem Bulut: Genau, am Samstag, den 13. Mai singe ich in Wiesbaden die erste kurdische Oper „Mem û Zîn“. Oper ist mein Beruf und meine Leidenschaft, aber es wäre mir zu wenig Abwechslung, nur das zu machen. Komponiert hat diese Oper ein türkischer Komponist, der Text ist in kurdischer Sprache, basierend auf dem kurdischen Epos „Mem û Zîn“ aus dem 17. Jahrhundert.

Herzlichen Dank für das Interview.

Jürgen Plank

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Özlem Bulut live:
Mi 10.5.2023: Album-Präsentation, Sargfabrik, Goldschlagstraße 169, 1140 Wien, 19:30h
Fr 12.5.2023: Baroque Arabesque, Bad Vöslau
Mo 15.5.2023: Baroque Arabesque, Konzerthaus, 1030 Wien, 19:30h
Do 25.05.2023: Guntramsdorf, Barock Arabesque

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