Die Wiener Impro-Musikerin GLORIA DAMIJAN, Mitbegründerin des Vereins snim – spontanes Netzwerk für Improvisation, hat bereits in unzähligen Ensembles in Österreich wie auch international gespielt. Wie für viele Live-Musizierende stellte der erste Lockdown 2021 eine starke Zäsur dar. Mit Michael Franz Woels hat sie über DILATE ENSEMBLE, ihr neuestes, internationales Projekt gesprochen, über die Endlosigkeit von afrikanischstämmiger Musik und wie Algorithmen ihre Spielweise beeinflussen können.
Gehen wir zu zurück zu den Anfängen. Wann ist das Interesse an improvisierter Musik bei dir aufgetaucht?
Gloria Damijan: Kurz nach Beginn meines Studiums 2002 fanden die 11. Wiener Tage der zeitgenössischen Klaviermusik an der mdw statt. Ich habe daran teilgenommen und einen Improvisations-Workshop mit Manon-Liu Winter besucht. Ein Jahr später habe ich – auch auf der mdw – einen Aushang gesehen: Ein Schwerpunkt für Improvisation und neue Musikströmungen wurde innerhalb des Studiums der Instrumentalpädagogik eingerichtet. Ich wollte das unbedingt ausprobieren, ging zu den Lehrveranstaltungen mit Manon-Liu Winter, Franz Hautzinger und Burkhard Stangl. Das Interesse ist gewachsen und viele Leute mit gleichem Schwerpunkt, die damals mit mir studiert haben, sind so wie ich im Verein snim – spontanes netzwerk für improvisierte musik aktiv. Wir veranstalten einmal im Jahr das kleine symposion im echoraum. das kleine symposion wird heuer im Mai stattfinden. Seit 2021 haben wir begonnen, Studierende, die diesen Schwerpunkt derzeit an der mdw absolvieren, mit einzubinden. Das werden wir auch diesen Mai fortführen.
Dein Hauptinstrument ist das Klavier, du verwendest aber auch häufig ein spezielles Instrument für deine Improvisationen.
Gloria Damijan: Ja, und zwar ein Toy-Piano. Wir haben uns im Rahmen des Improvisations-Schwerpunktes an der mdw sehr viel mit John Cage und seinem Musikverständnis auseinandergesetzt: Mit der Gleichwertigkeit von Geräusch, Melodie und anderen Klangereignissen. John Cage hat auch einige Stücke für Toy-Piano komponiert. Das bekannteste ist die Suite For Toy Piano. Da es nicht überall, wo man als Pianistin spielen möchte, einen Flügel oder zumindest ein Pianino gibt, war es irgendwann einmal naheliegend für mich, nach transportablen Alternativen zu suchen. So habe ich mir ein kleines, billiges Toy Piano bestellt. Nach einiger Zeit wollte ich die Klangmöglichkeiten erweitern und habe den Resonanzboden herausgeschraubt. Die Holz- und Metallteile eignen sich sehr gut, um verschiedene Geräusch-Qualitäten zu erzeugen. Wenn man mit verschiedenen Schlägeln arbeitet, kann man die Tonhöhen, die bei einem klassischen Toy-Piano von einem Plastikhammer angeschlagen werden und dadurch wenig Modulationsmöglichkeiten bieten, variieren. In Verbindung mit einem Pick-up-Mikrofon kann man sehr viele Effekte erzeugen. Leise Geräusche, die durch das Zusammenspiel der Oberflächen von Schwämmen, Styropor, Folien oder sogar der Haut mit dem Holz des Resonanzbodens entstehen, werden in den Vordergrund geholt. So erzeuge ich zum Beispiel Rauschen in verschiedenen Frequenzbereichen. Damit arbeite ich sehr gerne.
Seit einigen Jahren beschäftigst du dich auch mit afro-brasilianischer Musik, du praktizierst den Kampftanz Capoeira Angola und lernst das Instrumentarium, das traditionellerweise dazu gespielt wird. Beeinflusst oder verändert das auch deine Art zu improvisieren?
Gloria Damijan: Capoeira Angola ist eine Bewegungskultur, ein Zusammenspiel von Rhythmus, Bewegung und Interaktion mit allen Beteiligten. Das hat eine gewisse Verwandtschaft zur Jazz-Improvisation, auch die körperlichen Aspekte, da man doch eine gemeinsame „Sprache“ spricht. Es ist kein komplett freies Interagieren wie bei frei improvisierter Musik – innerhalb von gewissen ästhetischen oder strukturellen Grenzen, die man untereinander ausmacht oder im gemeinsamen Spielen herausgearbeitet werden –, sondern es gibt bei den Bewegungsabläufen Frage- und Antwort-Situationen. Das spiegelt sich auch in der Musik wider. Bei der Musik ist für mich sehr interessant, dass sie wirklich anders konzipiert ist als europäische Musik. Auch die Kommunikation innerhalb der Musik mit ihren rhythmischen und polyrhythmischen Strukturen funktioniert etwas anders. Die Capoeira-Musik hat eine gewisse Grundstruktur, innerhalb der gewisse Instrumente wie das Berimbau die Möglichkeiten haben zu variieren. Diese Musik ist so aufgebaut, dass sie, oft charakteristisch für afrikanisch-stämmige Musik, nicht auf ein Ende hin konzipiert ist. Ein europäisches Musikstück wird ja meist so strukturiert, dass es einem Ende zugeführt wird. Das gibt es in der Capoeira-Musik nicht, die Aufführung richtet sich nach der Länge und dem zeitlichen Rahmen dieses gesellschaftlichen Ereignisses – dieses Ritual wird auch Roda [Anm.: Brasilianisch für Kreis] genannt. Wenn man diese Musik spielt als Europäerin, hat man oft die Tendenz, sie in unser vertrautes Taktschema hineinzudenken. Aber es wäre sinnvoll, sich davon zu entfernen und, wie es auch Gerhard Kubik in seinen Forschungsergebnissen beschrieben hat, sie eher entlang einer Timeline zu denken: Rhythmische Aktionen passieren entlang dieser Timeline.
„… WIE MIKRO-UNTERSCHIEDE AUF DIE UMWELT WIRKEN …“
Hat dir das regelmäßige Ausüben des Kampftanzes Capoeira Angola auch geholfen, deine Bühnenpräsenz beim Musizieren vor Publikum zu intensivieren?
Gloria Damijan: Man trainiert ein sehr spezifisches Bewegungsrepertoire und natürlich eine gewisse physische Präsenz, die auch auf der Bühne hilft. Man entwickelt ein Gespür und Gefühl dafür, wie die Körperhaltung und die Körpersprache auf andere wirkt. Aber nicht so dezidiert wie in einer Tanzausbildung. Der Fokus einer zeitgenössischen Tanzausbildung ist meiner Einschätzung nach verstärkt darauf ausgerichtet, wie man den Körper in verschiedenen Performancekunst-Kontexten einsetzen kann. Und wie Mikro-Unterschiede auf die Umwelt wirken und man bewusst damit arbeiten kann, um beim Publikum gewisse Emotionen zu evozieren.
Was waren deine Strategien, um mit den starken Einschränkungen an Live-Auftrittsmöglichkeiten in den letzten Jahren umzugehen?
Gloria Damijan: Der erste Lockdown im März 2020 war eine riesige Zäsur, bei der ich mich musikalisch sehr stark zurückgezogen habe. Ich bin in die bildnerische Kunst eingetaucht, es sind in dieser Zeit sehr viele grafische Notationen entstanden. Im Sommer 2020 habe ich eine Serie von Videos gemacht, die ich „Virtual Postcards“ genannt habe. Das war auch eine Nachbearbeitung von diesem ersten Schock des Lockdowns. Dieses Projekt wurde freundlicherweise auch von der Stiftung Philanthropie unterstützt.
Im April 2020 habe ich dann auf Facebook einen Aufruf der New Yorker Dirigentin und Komponistin Sarah Weaver gesehen, die sich seit fünfzehn Jahren mit netzwerkbasierter Kunst beschäftigt und künstlerische Leiterin von NowNet Arts ist. Sarah Weaver wollte ein neues, von ihr dirigiertes, internationales Ensemble gründen, das über netzwerkbasierte Technologien zusammenarbeiten sollte, unterstützt durch NowNet Arts und die Stanford University. Der Schwerpunkt dieser Non-Profit-Organisation NowNet Arts auf der technischen Ebene ist unter anderem die Unterstützung bei der Entwicklung und Verbesserung von Audio-Programmen. Auf der künstlerischen Ebene werden Konzertreihen und Festivals organisiert.
Ich habe mich gemeldet, und dieses Projekt des NowNet Arts Ensemble hat eine interessante Entwicklung genommen: Zuerst haben wir Konzepte für das Videokonferenz-Tool Zoom entwickelt. Dann haben wir, gemeinsam mit der Stanford University, ein Projekt zur Implementierung eines Audio-Programms in unsere Arbeit gestartet. Mit dem Programm JackTrip konnten und können wir wir alle gleichzeitig musizieren, mit einer Teilnehmenden-Obergrenze von zirka 16 Leuten. Derzeit wird daran gearbeitet, diese Obergrenze auf 25 Personen zu erhöhen. JackTrip beschneidet die Bandbreite der Audiosignale nicht, dadurch hat man wirklich das Gefühl, sich mittels Kopfhörer in einem gemeinsamen Musizierraum zu befinden. Anfangs gab es sogar wöchentliche Konzerte, weil wir keine anderweitigen Beschäftigungen hatten. Mittlerweile ist daraus eine monatlich stattfindende Konzertreihe geworden. Das nächste Mal kann man das NowNet Arts Ensemble am 5. März hören.
„UNSERE ERSTEN AUFTRITTE WAREN REIN VIRTUELL.“
Und wie kam es zur Gründung des Dilate Ensembles, von dem du ja seit Mai 2020 ein Teil bist?
Gloria Damijan: Innerhalb des NowNet Arts Ensemble gab es immer wieder auch kleinere Gruppen, die im Anschluss an die Performance einer etwa 45-minütigen Komposition von Sarah Weaver (mit komponierten, strukturell und frei improvisierten Teilen) auch eigene Projekte präsentieren konnten. Eines dieser Projekte wurde von Carole Kim, einer Videokünstlerin aus Pasadena, Kalifornien initiiert. Sie hat den Elektronik-Musiker Scott L. Miller aus Minnesota, die Vokalistin Luisa Muhr, eine in New York lebende Österreicherin und den Saxofonisten John Ruskin, der in Sacramento in Kalifornien lebt und mich für eine Performance zusammengebracht. Das war, wie man auf Englisch sagen würde, ein perfect match. Wir haben dann beschlossen, in dieser Form ein audiovisuelles Ensemble zu gründen. Als Dilate Ensemble arbeiten wir mit einem anderen Audio-Programm, mit Netty McNetface. Das eignet sich für kleinere Besetzungen. Unsere ersten Auftritte waren rein virtuell. Bei unserer letzten Performance im Rahmen einer Residency in San Francisco im CounterPulse Theater, eine Residency, die von Thoughworks Arts mitfinanziert wurde, konnten wir das erste Mal hybrid arbeiten.
Stand bei dieser hybriden Performance das Visuelle im Vordergrund?
Gloria Damijan: Unser Fokus im Sinne einer audiovisuellen Aufführung ist der Gleichklang von visuellen und auditiven Elementen. Carole Kim arbeitet mit audioreaktiven Programmen wie Isadora. Im Prinzip funktioniert das so, dass sie Tableaus von Videoprojektionen vorbereitet. Dadurch ist eine improvisatorische Interaktion möglich, weil sie diese Tableaus nach den Musikstimmungen ändern kann. Wir als Musizierende versuchen natürlich auch, auf die Visuals zu reagieren. Wir bemühen uns um eine gleichwertige Interaktion. Beim hybriden Projekt konnte Carole Kim erstmals wieder mit richtigen Videoprojektionen arbeiten. Während der Pandemie hat sie sich eine Blackbox unter ihrem Küchentisch gebaut, in der sie ihre visuellen Projekte realisiert hat. Sie kombiniert gerne haptische Installationselemente mit Videoprojektionen.
Für die Residency im CounterPulse Theater hat sie eine große Leinwand mit verschiedenen, landkartenartigen Mustern genäht. Sie arbeitet mit Beamern, die an verschiedenen Stellen im Raum positioniert sind. Dadurch kann sie starke dreidimensionale Effekte erzielen. Bei unserem letzten Projekt „Catena“ ist die Einbeziehung von Tanz und Bewegung dazugekommen. Wir haben den Tänzer Shinichi Iova-Koga – er ist künstlerischer Leiter der Physical Theater- und Tanzcompagnie inkBoat – eingeladen, mit uns gemeinsam live im Theater zu improvisieren und mit den Projektionen zu interagieren. Auch Luisa Muhr ist innerhalb von Dilate Ensemble erstmals auch als Tänzerin/Performerin in Erscheinung getreten. Ihr Video wurde in die Projektionen integriert. Ein Großteil von Luisa Muhrs künstlerischer Tätigkeit abseits von Dilate Ensemble besteht aus der Verbindung von Stimme und Bewegung.
„MAN HAT SOZUSAGEN EINE KETTENREAKTION, EINE FEEDBACK-SITUATION, DIE DEN EIGENEN SOUND BEEINFLUSST.“
Arbeitet ihr eigentlich auch mit Algorithmen?
Gloria Damijan: Speziell auf der klanglichen Ebene bei Dilate Ensemble und für ein hybrides Setting. Scott L. Miller hat eine Reihe von Algorithmen programmiert, er nennt das auch „Ecosystemic Programming“. Das Ganze funktioniert so: Er bekommt den Sound von allen Musizierenden; dieser Sound wird weiter prozessiert und von ihm zurückgesendet. Man hat sozusagen eine Kettenreaktion, eine Feedback-Situation, die den eigenen Sound beeinflusst. Wir haben ziemlich viel daran gearbeitet, wie das programmiert sein muss, damit wir mit den Algorithmen interagieren können. Man agiert miteinander auf einer additiven Ebene, diese Algorithmen filtern, mit welchen Sounds man interagiert. Das erzeugt natürlich eine andere Interaktion zwischen den Musizierenden als ein gemeinsames Musizieren in einem Raum. Man improvisiert anders, bezieht auch längerfristige Auswirkungen der musikalischen Aktionen mit ein, weil die Prozesse der Algorithmen, je nach Beschaffenheit oft erst nach zehn bis fünfzehn Sekunden oder Minuten wahrnehmbar werden.
Welches Programm verwendet ihr dafür?
Gloria Damijan: Wir arbeiten im Rahmen von Dilate Ensemble mit dem Programm Netty McNetface für die Audioverbindung. Für das sogenannte Ecosystemic Processing das Implementieren der Algorithmen verwendet Scott L. Miller Kyma. Weiters verwendet Varole Kim das Programm Isadora, um audioreaktive Tableaus zu kreieren. Wenn man als Musikerin in pandemischen Zeiten aktiv sein will, denke ich, ist es essenziell, sich mit diesen Technologien auseinanderzusetzen. Sie haben auch den Vorteil, dass man international arbeiten und sich vernetzen kann, ohne aufwendige und anstrengende Reisetätigkeiten zu unternehmen. Dilate Ensemble hat sich zum Beispiel als gesamte Gruppe noch nie physisch getroffen. Nur einzelne Personen – ich habe im Sommer 2021 mit Luisa Muhr in Wien zusammengearbeitet [Anm: mit Auftritten im vekks und in der Galerie Blumentopf], und auch mit dem Elektronik-Musiker Scott L. Miller im Dezember in Wien gespielt [Anm.: in der Alten Schmiede, gemeinsam mit dem Trompeter Alexander Kranabetter]. Es hat für die Realisation von „Catena“ geholfen, mit Scott L. Miller intensiver zu zweit zu arbeiten, das Prozessieren von Sounds auszuprobieren, sein Verarbeiten von Klängen besser zu verstehen. Man kann musikalische Aktionen besser antizipieren, wenn man die Mikrobewegungen des anderen im selben Raum beobachten kann. Auch die Zusammenarbeit mit Luisa Muhr, sie erstmals als Performerin wahrnehmen zu können und auch mit ihren Bewegungen zu interagieren, hat zur erfolgreichen Realisation von „Catena“ beigetragen.
Herzlichen Dank für das Interview!
Michael Franz Woels
Termine im März:
Neues von den Wundergeckos
Donnerstag, 3. März 2022, 19:30 Uhr
Kunstraum Ewigkeitsgasse
Thelemanngasse 6, 1170 Wien
NowNet Arts
Hub Ensemble Performance
Samstag, 5. März 2022, 18:00 Uhr
Dilate Ensemble Panel talk with Sarah Weaver
about the latest work CATENA, network based art and hybrid performances
Samstag, 5. März 2022, 22:00
https://nownetarts.org/venue
TOY PIANO FEATURES – DUETS
TOY PIANO DUET #1
Laura Pudelek & Gloria Damijan
Donnerstag, 17. März 2022, 19:00 Uhr
vienna art market (v.a.m.)
Durchgang Währinger Straße 100 / Gentzgasse 21, 1180 Wien
Eine Veranstaltung von
BVfKuK – Blumentopf Verein für Kunst und Kultur
Martinstraße 74, 1180 Wien
Die weiteren Termine in der Reihe sind:
Mittwoch, 20. April 2022: gemeinsam mit Günther Gessert (Vert-Harmonika, Marxophon, Sensorchestra, Rebab)
Samstag, 23. April 2022: gemeinsam mit Michael Zacherl (Scivolo)
Samstag, 28. Mai 2022: gemeinsam mit Martin Gut (Gitarre)
Mittwoch, 22. Juni 2022: gemeinsam mit Elisabeth Kelvin (Stimme, Klarinette, Bass Klarinette, Tenor / Soprano Saxofon, Xaphoon, bildende Kunst)
Links:
Gloria Damijan
Gloria Damijan (music austria Datenbank)
Dilate Ensemble
snim – spontanes netzwerk für improvisierte musik