Lothar Knessl. Eine Erinnerung aus mica-Perspektive

Im August 2022 ist Lothar Knessl 95-jährig verstorben. In seiner Würdigung schildert Christian Scheib als einer seiner engsten Mitstreiter die Zusammenarbeit mit dem Doyen der Neuen Musik. Und wofür er ihm am meisten dankt.

Schon die erste Adresse, die das mica je hatte, war Lothars Verdienst. Wir hatten die Gründung eines „Musikinformationszentrums“ – und bis wir diesen sperrigen Arbeitstitel endlich zu einem „music austria“ eingedampft hatten, dauerte es Jahre – für die österreichischen Komponierenden beschlossen. Und dann brauchten wir sehr plötzlich einen physischen Ort, an dem sich das realiter auch ereignen konnte. Lothar ließ alte Beziehungen spielen, in Verlagsräumlichkeiten, die gerade nicht genutzt wurden, waren wir herzlich willkommen und wir zogen als mica in ein Büro im fünften Wiener Gemeindebezirk. Selbstverständlich hatten wir uns international erkundigt, wie das mit diversen Institutionen ähnlicher Zielsetzung so läuft, bald wurden diesbezügliche Kontakte institutionalisiert, mal mehr, mal weniger erfolgreich, und bald schien dem mica seine bisherige Heimstatt zu eng, zu provisorisch. In einem Monsterunterfangen wagten die Bundeskuratoren Lothar Knessl und der Autor dieses Textes gemeinsam mit der damaligen mica-Geschäftsführung die Übersiedlung in eine zu renovierende Liegenschaft im siebenten Wiener Gemeindebezirk am Spittelberg, von wo aus das mica bis heute seine segensreiche Wirkung ausstrahlt. Aber Halt. Das Ganze war ja nicht solitär gedacht, es war Teil eines viel größeren Ganzen, an dem Lothar Knessl und ich damals arbeiteten. Und eine Vorgeschichte hatten wir auch noch.

In den 1990er Jahren verbrachten Lothar Knessl und ich viel Zeit, auch viel öffentliche Zeit, miteinander in unserer Funktion als die zwei „Musik-Kuratoren des Bundes“, eingesetzt von Rudolf Scholten, damals Minister für Unterreich und Kunst. Im Gegensatz zu anderen ministeriellen Kuratoren waren wir dezidiert gemeinsam mit dieser Aufgabe betraut worden. Das führte zur Gründung des mica, also des Musikinformationszentrums, zur Neuausstattung des Klangforum Wien, zur Gründung des aufwändigen Schulprojekts „Klangnetze“, aber dazu weiter unten ein paar Zeilen mehr. Aber dass Lothar Knessl und ich einander schon kannten und vertrauten, liegt natürlich an unserer Vorgeschichte bei Ö1.

In den Begräbnisreden für Lothar Knessl am 14. September 2022 wiesen Veronica Kaup-Hasler, Wiener Kulturstadträtin, und Sven Hartberger, engster Vertrauter von Lothar Knessl in den letzten Jahren und langjähriger Chef des Klangforum Wien, darauf hin, dass es zu den bestechendsten Eigenschaften von Lothar Knessl zählte, in seinem beruflichen Umfeld trotz all seines umtriebigen Aktionismus immer Platz für andere zu lassen – so formulierte es Veronica Kaup-Hasler und wer könnte davon ein schöneres Lied singen, als ich selbst – als auch ein Leben lang gnadenlos positiv zu agieren, wie Sven Hartberger es mit seiner Hervorhebung von Lothar Knessls lebenslanger Konzentration auf das Interessante, das Gute, das Hervorstechende, das im positiven Sinn Aufregende auf den Punkt brachte. Beides, die Wertschätzung für Kollegen ebenso wie die Wertschätzung von und Suche nach Qualität, hat auch Lothar Knessls und meine Zusammenarbeit über Jahrzehnte geprägt.

Wir, also Lothar und ich, kannten uns aber vom Radio, von Ö1, von der zeitgenössischen Musik. Er war seit 1968, also seit der Gründung des Senders, bei Ö1 in Sachen zeitgenössischer Musik tätig, ich bin ziemlich genau zwanzig Jahre später eingestiegen. „Studio Neuer Musik“ hieß damals die mittwöchliche 23:00-Uhr-Ö1-Geheinmwaffe für die zeitgenössische Musik. Ich stieg dort als Sendungsgestalter ein und überzeugte ziemlich bald die damalige Ö1-Musikchefin Andrea Seebohm davon, dass wir statt einmal in der Woche doch besser an jedem Wochentag Zeitgenössisches mit dem Sendetitel „Zeit-Ton“ um 23:00 Uhr spielen könnten. Lothar Knessl zeigte sich skeptisch lächelnd dezent überrascht ob dieses Coups und blieb erfreut als Sendungsgestalter an Bord. Nun hatte ich aber in den Monaten davor am Beginn meiner Ö1-Zeit vor allem „Diagonal“-Beiträge gestaltet und das war damals noch eine wirklich ganz andere, feuilletonhaft gestaltete Welt, als Musiksendungen zu moderieren. Ich besprach das mit Lothar, weil ich wollte, dass auch unsere Sendungen bunter und abwechslungsreicher werden sollten und wir dem Schema der Abfolge anspruchsvoller, schwieriger Moderationstexte, gefolgt von anspruchsvoller, schwierig zu hörender Musik eine Alternative entgegensetzten. Lothar überlegte nicht lange und fuhr dann im nächsten Herbst erstmals mit einem Mikrofon bewaffnet zu den Donaueschinger Musiktagen. Wenn ich mich recht erinnere, führte das dazu, dass in diesem Herbst der Komponist Wolfgang Rihm im „O-T“, also im Originalton mit eigener Stimme, im Programm Ö1 zu hören war. Wir waren, um das jetzt so unverblümt zu sagen, ziemlich erfolgreich. Aus der „Geheimwaffe“ mit circa 2.000 Hörerinnen und Hörern war in diesen Jahren Ende der 1980er- und vor allem zu Beginn der 1990er-Jahre ein verlässlich volles Stadion mit täglich 20.000 Hörenden geworden. Mit dabei im Wiener Kernteam waren damals neben Lothar und mir als Sendungsgestalterinnen und -gestalter noch Ursula Strubinsky, Andrea Zschunke und Reinhard Kager, später auch Susanna Niedermayr und Elke Tschaikner, nebst Klaudia Zeininger als administrativer Wunderwaffe.

Selbstverständlich hat Lothar Knessl nie seine scouthafte Suche nach dem noch Unbekannten, dem Jungen, dem Qualitätsvollen aufgegeben und nicht zuletzt seine Reisen zum Warschauer Herbst, zum musikprotokoll nach Graz und immer wieder nach Donaueschingen dienten diesem Zweck. Dass ihn Wien Modern 2022 in memoriam mit einem RSO-Wien-Konzert mit ausschließlich Musik aus solch einer Schnittmenge der Jüngeren ehrt, ist da nur folgerichtig. Lothar Knessl hat übrigens fast bis ins sein 90. Lebensjahr in Ö1 Zeit-Töne gestaltet. 2015 hat er uns mitgeteilt, er werde jetzt aufhören mit dem Radiomachen. Wir waren so schockiert, dass Elke Tschaikner, die inzwischen Ö1-Musikchefin geworden war, ihn dazu überredette, noch weiterzumachen. Aber 2016 hat er sich dann endgültig vom Sendungsgestalten zurückgezogen. Wir haben daraufhin zum Abschluss nicht nur ein wunderbares Gelage mit ihm und seiner Frau Elisabeth in einem Lokal in der Vorstadt, sondern vor allem auch eine siebenstündige Sendung mit dem Titel „Knesslmania“ mit ihm als Studiogast veranstaltet. Im Text zu dieser Abschiedssendung hieß es: „Nun lässt uns Lothar Knessl, inzwischen fast 90-jährig, wissen, er höre auf mit dem Gestalten von Radiosendungen. Das kommt uns vor, als ob der Mond verkünden würde, er höre jetzt auf mit dem Aufgehen. Aber im Gegensatz zum Mond, der davon lebt, dass er angestrahlt wird, hat Lothar Knessl immer selbst gestrahlt.“ 

Zitatende 2016. Aber nochmals zurück in die Tage und Jahre des Kuratoren-Daseins. Es konnte heikel sein und heikel werden, wenn Lothar und ich unseren unbezahlten Ehrenjobs in diversen Vorständen nachgingen. Immerhin waren wir als Präsident und stellvertretender Präsident beispielsweise für das Budget des mica und dessen Einhaltung durch die jeweilige Geschäftsführung verantwortlich und haftbar. Und das war immer wieder einmal wirklich grenzwertig und bedrohlich. In solch eine Situation kommt man natürlich im Laufe eines altruistischen Lebens im Dienste des Musiklebens öfter, aber wir beide gemeinsam, also Lothar und ich, haben das am Anfang und Mitte der 1990er-Jahre besonders oft gemeinsam erlebt.

Anfang der 1990er-Jahre hatte ja Bundesminister Rudolf Scholten das „Kuratorenprinzip“ erfunden; also jemand bekommt vom Kunstministerium für eine beschränkte Zeit Auftrag und Budget, um in einem bestimmten Bereich der Kunst möglichst etwas Merkbares zu bewirken. Das war natürlich der Versuch, den zwar verlässlich, aber langsam mahlenden Mühlen der ministeriellen Ausschüsse etwas Schnelleres und Flexibleres zur Seite zu stellen. Für die zeitgenössische Musik wurde die bemerkenswert generationsübergreifende Kombination des – schon damals – Altmeisters Lothar Knessl und des – damals gerade noch – Jungspunds Christian Scheib gewählt. Wir machten uns sofort konspirierend und konzipierend ans Werk.

Wir erfanden das aufwändige, österreichweite, musikpädagogische Projekt „Klangnetze“, dessen inhaltliche Errungenschaften glücklicherweise mancherorts bis heute nachwirken, wir stellten das Klangforum Wien auf neue, organisatorische und finanzielle Beine, wir organisierten Workshops in Österreich mit Künstlerinnen und Künstlern wie Helmut Lachenmann und Sylvano Busotti in Wien mit einem legendären Besuch des Kunsthistorischen Museums mit Busotti, mit unter anderem dem Akkordeonisten und Komponisten Guy Klucevsek und dem Saxofonisten und Komponisten Max Nagl im Ennstal, mit LaMonte Young, Maryanne Amacher, Georg Friedrich Haas und James Tenney in Krems, mit Alvin Lucier, Robert Adrian X, Bill Fontana, Sodomka/Breindl/Math in Hall in Tirol. Und wir gründeten eben das mica, das music information center austria, später im Titel verkürzt auf music austria.

Und jetzt beginnt erst die Anekdote und die spezielle Erinnerung: Wie schon erwähnt, konnte solch Vorstandstätigkeit gelegentlich heikel und nervenaufreibend sein. Eines Tages in solch einer Sitzung war ich über ein anderes Mitglied dieses Vorstandes äußerst empört. Lothar, der neben mir sitzt, bemerkt meine Erregung, und errät, dass es jetzt gleich zu einer emotionalen Explosion kommen wird, die der Gesamtsituation und vor allem auch ihm als Vorstandsvorsitzenden nicht wirklich weiterhelfen würde. In dieser Situation greift der Elder Statesman Lothar Knessl zu einem bemerkenswert leisen Trick. Er nimmt ein Blatt Papier, ganz klassisch Din A4, in diesem Fall Querformat, und schreibt auf die leere Fläche in seiner Handschrift, die übrigens genauso charakteristisch und einzigartig war wie seine Stimme, ein einziges Wort: calma. Und er schiebt das Blatt unauffällig zu mir rüber.

Das hat gewirkt. Und zwar über viele Jahre hinweg. Das war dann auch eine Art Geheimsprache zwischen Lothar und mir. Wann immer etwas heikel wurde, es brauchte nur die augenzwinkernde Erinnerung an „calma“, um die Situation zu entschärfen und gleichzeitig die Sinne zu schärfen. Ich war und bin Lothar für Vieles sehr dankbar, aber diese beruhigende und zugleich sinnenschärfende Kleinigkeit war und ist ein besonderer Schatz.

Christian Scheib

Hinweis: Eine kürzere Fassung dieses Textes von Christian Scheib erschien bereits im Ö1-Magazin „gehört (Ausgabe 11/2022).

Link:
Lothar Knessl (music austria Datenbank)