Kurtágs Ghosts – Marino Formenti spürte im Konzerthaus Klavierwerken von György Kurtág nach

Im Mozart-Saal konnte man am Dienstag im Zyklus “Nouvelles Aventures” des Konzerthauses eine formidable Produktion über György Kurtág des Pianisten Marino Formenti  erleben. Man ist geschwebt und nach dem Verklingen des letzten Tons am Ende des zweiten Teils gab es vor dem Applaus beim Publikum mehr als eine Minute dankbaren Schweigens. Für alle, die diesen Abend versäumt haben ein Trost: Die Produktion ist bei kairos auf CD erschienen und erhältlich.

Der Klangforum-Pianist machte in den letzten fünf Jahren mit schöpferischen Programmierungen auch eine bemerkenswerte Karriere als Solist am Klavier, er arbeitet auch zusätzlich als Dirigent. Er spielte zum Beispiel bei Wien Modern 2008 denkwürdig gut Stockhausen, trat in New York und Los Angeles auf. Zu seinem Auftritt in Los Angeles County Museum of Art schrieb die Los Angeles Times: “a Glenn Gould for the 21st century . mesmeric, shamanistic, unforgettable ..”.

Für sein beim Lucerne Piano Festival 2007 erstmals vorgestelltes “Kurtágs Ghosts” -Projekt, das “klassische” Stücke von Guillaume de Machaut, Purcell, Scarlatti, Bach  über Haydn, Schubert, (viel von) Robert Schumann, Chopin, Mussorgski, Bartók bis zu Boulez, Stockhausen, Ligeti verblüffend genau passend mit den “aphoristischen” Klavierstücken Kurtágs kombiniert (Hommagen oft auf die genannten Komponisten aus den achtbändigen Játékok” (“Spiele”) für Klavier) hat Formenti akribisch genau das Stück der Vorbilder herauszufinden versucht, denen das jeweilige Kurtág-Stück in Gestus und Stimmung entspricht. So sah er etwa sämtliche 558 Scarlatti-Sonaten durch, um am Ende festzustellen: “Kurtág schrieb eigentlich das beste aller Scarlatti-Stücke”. Einem Satz aus dessen h-moll Sonata (1752) lässt Formenti zwei Stücke Kurtágs folgen: “Einige flüchtige Gedanken über den Alberti-Bass” (1995), dem wiederum unmittelbar darauf folgend “All’ongherese (Hommage à Gösta Neuwirth)” (1996) folgt. Darauf dann eine “Ungarische Melodie” von Schubert und eine Nummer aus  Bartóks “Improvisationen für Klavier (über ungarische Bauernlieder)”. Und so fort. Formenti gelingt es sehr gut, nicht in “klassischer” Manier zu spielen, sondern ab und zu auch zu verwischen. Man weiß oft gar nicht mehr, ist das jetzt noch Kurtág oder schon Bach (!).

Für die Urauffführung in Luzern schrieb Andrea Zschunke, nunmehr für Radio Bremen tätig, das Programmheft. Auch sie arbeitete schon einmal – 1997 – für das mica (CD-Projekt “Musik aus Österreich” samt Begleitheften, immer noch bei uns erhältlich) und wird nichts dagegen haben, wenn wir aus dem Text dieses Programms zitieren, da uns dieser auch György Kurtág selbst näher bringt (hr).

Essenzen der Musikgeschichte

György Kurtág, geboren 1926 im rumänischen Logoj, gilt als der Kammermusiker unter den Komponisten der Gegenwart. Kaum jemand, der so akribisch an jedem einzelnen Ton feilt und auf diese Weise Klanggebilde von außerordentlicher Dichte und Ausdruckskraft erschafft. Zu Recht trägt Kurtág den Titel ,Meister des Aphorismus’. Selten indes äußert er sich zu seiner eigenen Musik, lieber sprcht er über Werke anderer Komponisten. Und das am liebsten in der Probensituation, im Austausch mit Interpreten und Schülern [Anm.: machte er auch in Wien, etwa auch mit Klangforum-Geigerin] .

Kurtág sagte noch 1998, zwölf Jahre nach seiner offiziellen Verabschiedung vom Professorenamt, “vielleicht bringt es auch den Lernenden etwas, aber hauptsächlich beglückt es mich, wenn ich während der Arbeit tiefer in eine Komposition eindringe und diese wie von innen beleuchten kann. Und noch etwas beglückt mich: Wenn ich jemanden aus Zuneigung eine klingende Botschaft senden kann, sei es nur in einigen wenigen Takten.” War es ein Zufall, dass Kurtág mit vielen kleinen “Botschaften”, nämlich dem Vokalzyklus Botschaften des verstorbenen Fräuleins R. V. Troussova, uraufgeführt vo1981 von Sylvain Cambreling, international bekannt wurde? Es ist auffällig: Ein Großteil seiner Werktitel deutet auf einen kommunikativen Akt, verweist auf Kollegen oder Komponisten der Vergangenheit in Form einer “Hommage” oder eines “in memoriam” – Stückes. Auch Botschaften an Freunde hat Kurtág auf diese Weise in Töne gehüllt.

Für den Pianisten Marino Formenti war das der denkbar beste Weg, sich mit Kurtág zu beschäftigen: einen Dialog mit den Komponisten aufzunehmen, die Kurtág kompositorisch mit Widmungen oder Botschaften bedacht hat. . Die vielen Stimmen, die für Kurtág wichtig und prägend waren, seine “ghosts” finden sich hier in direkter Nachbarschaft mit ihrer Spiegelung in Kurtágs Kompositionen. Aus Miniaturen,  Bagatellen, skizzenartigen Stücken die große Form bauen – das war die Aufgabe, die sich Formenti gestellt hat .

Das Stück “Für Marianne Teöke” könnte man zum Motto des Programms küren. Diese Klavierpädagogin beauftragte Kurtág im Jahr 1973, als er sich in einer Schaffenkrise befand, mit der Komposition von Klavierstücken für Kinder. Daraus erwuchs die mittlerweile achtbändige Klaviersammlung “Játekok” (Spiele), aus der sämtliche Klavierstücke Kurtágs im Programm stammen. “Freude am Spiel, an der Bewegung” war der Auslöser dieser zunächst pädagogisch ausgerichteten Sammlung . Später wandelte sich die Bedeutung der “Játékok” – Reihe und wurde Kurtágs Tagebuch und Skizzensammlung. Hier trägt er seine Botschaften an lebende und verstorbene Freunde ein, hier setzt er sich mit von ihm geschätzten Komponisten und ihren Werken auseinander . Die Botschaften sind Interpretationen vergangener Werke oder Musiksprachen, gewissermaßen Essenzen der Musikgeschichte und ihrer Kompositionsbausteine. Keinesfalls handelt es sich dabei um Nachahmungen, vordergründige Allusionen oder “Im- Stile – von.”-Kompositionen; für Kurtág ist vielmehr die musikalische Geste entscheidend. . So präsentiert seine “Hommage à Domenico Scarlatti” in aller Kürze das ungezähmte Wesen der Musik Scarlattis: Ein erste markantes Motiv verbeugt sich vor der Kühnheit Scarlattis, ein zweites leichtfüßiges erinnert an Scarlattis oft volksliedhafte Themen.

György Kurtág sieht sich innerhalb einer Dialogkette, die sich oft auch über Jahrhunderte hinweg spannen kann: “Meine Muttersprache war Bartók und dessen Muttersprache war Beethoven.” . Und Kurtág lernte, aus wenigen musikalischen Ereignissen, aus einem Pizzicato oder einem Intervallsprung, Expression herauszuholen. Seine Affinität zu den “Meistern der kleinen Form” wie Scarlatti, Schumann oder Webern blieb ihm durch die Jahrzehnte erhalten – auch zu den “Werkstatt-Splittern” eines Beethoven.

Das Ringen um kleinste Nuancen des Ausdrucks verlangt Kurtág auch von seinen Interpreten . Musik von György Kurtág zu spielen bedeutet, nicht nur mit seinen Fingern, sondern mit seinem ganzen Bewusstsein hinter jeder noch so kleinen Note zu stehen – selbst (oder gerade) hinter dem Schweigen.”
Andrea Zschunke (2007).

Link:
Marino Formenti (mica-Datenbank)