Kunst um der Kunst willen?

Die 2013 erschienene OECD-Publikation „Art for Art’s Sake? The Impact of Arts Education“ von ELLEN WINNER, THALIA R. GOLDSTEIN und STÉPHAN VINCENT-LANCRIN fasst sämtliche bisher erschienene Studien zur Wirkung von kultureller Bildung zusammen und rollt Fragen zur Rechtfertigung des Kunstunterrichts neu auf: Soll Kunst um der Kunst willen unterrichtet werden? Oder ist Kunst Mittel zum Zweck, um gewisse Kompetenzen zu erwerben? Sind die Transfereffekte, die kulturelle Bildung für andere Bereiche schafft, längst treibende Kraft für Wirtschaft und Politik, um kulturelle Bildung zu unterstützen?


Die Autoren stellen schon mit dem Titel die grundlegendste und im Rahmen dieser Studie immer wieder auftauchende Frage zur Diskussion: Hat Kunst um ihrer selbst willen eine Berechtigung? Und um es auf den Bildungssektor zu übertragen: Lässt sich kulturelle Bildung ohne bestimmte Zielsetzung in einer funktionsfreudigen Informationsgesellschaft rechtfertigen?

„Alles, was eine Funktion hat, ist ersetzlich. Unersetzlich ist nur, was zu nichts taugt“, so Adorno. Die Initialzündung für die Entstehung von Kunst scheint aufs Erste mit Zweckgebundenheit wenig am Hut zu haben. Und die von der westlichen Gesellschaft stark eingeforderte Zielgerichtetheit jeglicher Tätigkeit, jedes Berufs ist in der Kunst nicht möglich. Sie braucht Raum für Umwege, für Chaos und fürs Scheitern.

Dennoch haben politische und wirtschaftliche EntscheidungsträgerInnen längst ein Auge auf die kulturelle Bildung geworfen. Denn man nimmt an, dass die Kompetenzen, die durch die Auseinandersetzung mit Kunst erworben werden können, auch als Kernkompetenzen für Innovation gesehen werden können. Somit ist kulturelle Bildung nicht nur in künstlerischer und ästhetischer Hinsicht bereichernd, sie schafft wahrscheinlich auch die Basis dafür, dass Innovation – der wichtigste Motor für wirtschaftliches Wachstum – möglich wird.

Der Wettlauf um Kompetenzen

Kompetenz scheint das große Schlagwort der heutigen Bildungsdebatte geworden zu sein: Die Europäische Kommission hat acht Schlüsselkompetenzen für die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts festgemacht, die New Commission on the Skills of the American Workforce hat dies in Form von „Kompetenzen für das 21. Jahrhundert“ getan. Und mit der Einführung von Bildungsstandards geriet in Österreich der Kompetenzkatalog zum heiß umstrittenen Kern der Bildungsdiskussion.

Im Rahmen der OECD-Publikation wird der Kompetenzerwerb in Hinsicht auf Innovationsprozesse und untersucht und folgende Ergebnisse traten zutage: Es gibt unterschiedliche wirtschaftliche Bereiche, in denen Innovation gebraucht und gefordert wird (in der Entwicklung von Produkten, in Organisationsstrukturen, in der strategischen Ausrichtung eines Unternehmens, im Marketingbereich). Innovation wird von verschiedenen Berufsgruppen vorangetrieben. Dementsprechend vielfältig sind die Anforderungen an Innovationsprozesse, dementsprechend verschieden ist die Ausrichtung der gefragten Kompetenzen.

Die Schlüsselkompetenzen für Innovation werden auf drei Bereiche verdichtet: technische Kompetenzen (inhaltliches und prozedurales Wissen), Denkfähigkeit und Kreativität (Ideen hinterfragen, Zusammenhänge herstellen, Vorstellungskraft entwickeln etc.) sowie Verhaltens- und soziale Kompetenzen (Ausdauer, Selbstvertrauen, Zusammenarbeit etc.).

Versuch eines Überblicks

Zahllose Studien zur Wirkung von kultureller Bildung fließen in dieser OECD-Publikation zusammen. Die Studien werden strukturiert und analysiert, um einen Überblick über diesen äußerst komplexen und schwer messbaren Themenbereich zu geben. Dabei beziehen sich die Autoren auf eine bereits 2000 herausgegebene Studie der OECD („Reviewing Education and the Arts Project“ – REAP), erweitern sie um internationale Recherchen zu Psychologie und Bildung und fügen Verhaltens- und soziale Kompetenzen hinzu.

Die größte Schwierigkeit bei diesem Unterfangen ist wohl die Tatsache, dass jede Studie mit unterschiedlicher Methodik, unter verschiedenen Rahmenbedingungen und mit diversen Zielsetzungen angelegt ist. Unmittelbare, kausal begründbare Zusammenhänge zwischen kultureller Bildung und den erworbenen Kompetenzen lassen sich kaum ableiten. Dennoch bestärkt die Publikation nachfolgende Annahmen: Man geht davon aus, dass die Erfahrungen und die damit erworbenen Fähigkeiten in künstlerischen Fächern (allgemein kulturelle Bildung, dann gesplittet in Musik, bildende Kunst, Theater und Tanz) auch auf andere Bereiche des Lebens „abfärben“. Die drei Kompetenzbereiche (technische Kompetenzen, Denkfähigkeit und Kreativität, Verhaltens- und soziale Kompetenzen) seien auch über den Kunstunterricht zu erreichen.

Folgende Unterrichtsformate wurden untersucht:

  1. Unterricht an Schulen in den oben genannten Fächern
  2. Kulturelle Bildung, die in den Unterricht anderer Fächer einfließt
  3. Kulturelle Bildung außerhalb der Schule (privater Unterricht, Musikschule etc.)

Die Autoren nahmen die Wirkung von Musik, bildender Kunst, Theater und Tanz auf die „sprachliche Ausdrucksfähigkeit, mathematische Kompetenz und räumliche Vorstellungskraft, Kreativität, akademische Motivation sowie soziale Kompetenz einschließlich Selbstvertrauen, Empathie, Perspektivenübernahme und Emotionsregulation“ hin unter die Lupe.

Die Studien: ein buntes Gemisch

Wie schon erwähnt, weisen die Studien verschiedenartige Herangehensweisen, Methoden und Perspektiven auf. Viele der ausgewerteten Studien interessieren sich nicht nur für den direkten Effekt von kultureller Bildung, sondern auch für die Transferwirkungen auf nicht künstlerische Kompetenzen und Bereiche. Zum Beispiel gibt es Studien, die sich ganz konkret mit der Wirkung von Musik auf den Spracherwerb und das Leseverhalten auseinandersetzen. Außerdem wird ganz allgemein die Wirkung kultureller Bildung auf Prüfungsergebnisse und Schulnoten untersucht.
Der OECD-Bericht entwickelt drei verschiedene methodische Kategorien: Korrelationsstudien (kausale Schlussfolgerungen sind nicht möglich), quasiexperimentelle Studien (beinhalten keine Randomisierung durch Zufallsstichproben, kausale Schlussfolgerungen sind nicht möglich) und experimentelle Studien (die SchülerInnen werden per Randomisierung einer künstlerischen oder nicht künstlerischen Aktivität zugeordnet, kausale Rückschlüsse sind möglich).

Des Weiteren wird zwischen Querschnitt- und Längsschnittstudien unterschieden: Letztere zeigen eindeutig die verlässlicheren Ergebnisse auf.

Die Wirkung kultureller Bildung

Allgemein

Zuerst werden korrelative Untersuchungen über die Wirkung kultureller Bildung in mehreren künstlerischen Fächern (in den USA) gezeigt: SchülerInnen, die mehreren künstlerischen Aktivitäten nachgehen, haben einen besseren Bildungsabschluss als jene, die weniger oder keinen künstlerischen Tätigkeiten nachgehen – egal welcher ökonomischen und sozialen Schicht sie angehören. Eine experimentelle Studie, die den kausalen Zusammenhang zwischen kultureller Bildung und Bildungsabschluss untersuchte, zeigte jedoch keine eindeutigen Ergebnisse auf.

Motivation

Nachweise, dass kulturelle Bildung Auswirkungen auf die Motivation und das soziale Verhalten hat, sind unzureichend, da die Messung dieser Kompetenzen sehr schwierig ist und von vielen komplexen Faktoren abhängt.

Es gibt korrelative Studien, die belegen, dass kreative Fächer SchülerInnen auch in anderen Fächern in Bezug auf Ausdauer und Interesse motivieren. Die Komplexität des Themas Motivation sei dabei nicht zu unterschätzen, betonen die Autoren. Man nimmt an, dass das motiviert, was Freude bereitet, und dazu können viele Dinge beitragen. Darüber hinaus wird betont, dass in der kulturellen Bildung Methoden verwendet werden, die an sich motivierender sind als jene in anderen Fächern. Man denke nur die in der kulturellen Bildung tendenziell weniger eingesetzte Kategorisierung von „richtig oder falsch“ oder an experimentelle, empirische Zugänge zu künstlerischen Themen. Das ist in jedem Fall ein bemerkenswerter Punkt: Man nimmt an, dass die Art des Lernens in künstlerischen Fächern, die sich von anderen Fächern unterscheidet, die erwünschten Kompetenzen bestimmt.

All diese komplexen Faktoren müssten dazu untersucht und analysiert werden, um zu griffigen Ergebnissen zu kommen, meinen die Autoren.

Kreativität

Im Bereich der Kreativität ist die Beweislage erstaunlich schwach – und das, obwohl Kunst in erster Linie mit kreativen Prozessen assoziiert wird. Das mag daran liegen, dass Kreativität schwer messbar und kategorisierbar ist. Bisher konnte kein eindeutiger kausaler Bezug zwischen Kreativität und kultureller Bildung hergestellt werden.
Als weiteren Grund für diesen Status quo führen die Autoren an, dass Kreativität in jedem Fach gelehrt werden könne, indem es besonders originell unterrichtet werde. Umgekehrt sei es ebenso möglich, dass kulturelle Bildung gar keinen Effekt auf andere Bereiche ausübe, wenn sie langweilig und unkreativ unterrichtet werde.

Bereichsspezifische Untersuchungen – zum Beispiel kreatives musikalisches Denken abhängig vom Musikunterricht – gibt es noch nicht.

Sparten

Jedem Kunstbereich (Musik, bildende Kunst, Theater und Tanz) wird ein eigenes Kapitel gewidmet, in denen sämtliche Studien zur Sparte aufgeschlüsselt werden. Auffallend ist auf den ersten Blick, dass es im Bereich Musik die meisten Studien zu geben scheint, denn dem Thema Musik wird doppelt und dreifach so viel Raum gegeben wie den anderen künstlerischen Bereichen. (Im Bereich Theater sind zum Beispiel nur sehr wenige Studien angeführt.) Das mag daran liegen, dass Musik auf sehr viele Regionen des Gehirns – sowohl in der linken als auch in der rechten Gehirnhälfte – einen Impuls ausübt und besonders reichhaltige Informationen über die Entwicklung geistiger und sozialer Fähigkeiten liefert.

Fokus Musik

Das Kapitel, das sich mit Musik beschäftigt, untersucht die Wirkung von Musikunterricht auf den IQ, auf die allgemeine akademische Leistung, auf das Lesen, auf die sprachliche Wahrnehmung, auf das Erlernen einer Fremdsprache, auf Mathematik, auf visuelles und räumliches Denken, auf die Aufmerksamkeit und das Erinnerungsvermögen. Manche Bezüge wie die zwischen Musik und sprachlicher Wahrnehmung erscheinen ganz logisch, andere wie der Zusammenhang zwischen Musik und IQ geben weiterhin Rätsel auf.

Immerhin gibt es eindeutige Hinweise auf die Bezüge zwischen Musik und kognitiven Ergebnissen. Musik beeinflusst den IQ und die akademische Laufbahn von Schülerinnen und Schülern positiv. Außerdem verbessert sie die phonologische Bewusstheit, was bedeutet, dass die lautliche Struktur (Silben, Laute, Rhythmen etc.) der Sprache bewusster wahrgenommen und genutzt wird. Dies ist ein eindeutiger Fall eines Transfereffekts (von der Musik auf die Sprache).

Um ein Beispiel zu bringen: In einer Studie (Degé und Schwarzer, 2011) erhielten Vorschulkinder über 20 Wochen ein zehnminütiges Training in Sport, phonologischem Bewusstsein und Musik. Das Ergebnis zeigt, dass der musikalische Unterricht eindeutig das phonologische Bewusstsein beeinflusst, Sport hingegen nicht. Das genaue Hinhören, sei es auf Musik oder einzelne Silben, scheint den Spracherwerb wesentlich zu erleichtern.

Ebenfalls nachvollziehbar sind Studien, die sich mit den Lesefähigkeiten von Kindern auseinandersetzen. Sowohl beim Blattspiel als auch beim Notenlesen allgemein werden komplexe Informationen verarbeitet. Auch in diesem Fall ist die Übertragung auf die Lesefähigkeit von Sprache einleuchtend. Die Studien dazu bestärken diese Annahme.

Die seit vielen Jahren hochgespielte Beziehung von Musik und Mathematik – nach dem populären Motto „Musik macht schlau“ – steigt hier jedoch nicht eindeutig aus: Es scheint positive Beziehungen zwischen Musik und bestimmten Formen von Mathematik zu geben. Dennoch sind die Ergebnisse nicht eindeutig kausal zu begründen. Außerdem raten die Autoren dazu, eine Trennung zwischen geometrischer Mathematik und nicht geometrischer Mathematik vorzunehmen, da es Hinweise gibt, dass Musik zum Beispiel gar keine Wirkung auf arithmetische Mathematik hat.

Zum Thema Gedächtnis und Aufmerksamkeit erschienen ebenfalls einige Studien. Jene zur Gedächtnisleistung sind sehr nicht eindeutig. Zur Aufmerksamkeit gibt es drei Studien, die die korrelative Beziehung zwischen Musik und Aufmerksamkeit positiv beurteilen. Der Musikpädagoge Hans Günther Bastian hingegen, der 2000 und 2008 Studien herausbrachte, die einen heftigen öffentlichen Diskurs auslösten, stellt keine großartigen Unterschiede bei der Aufmerksamkeit zwischen den Grundschulkindern mit oder ohne Musikunterricht fest.

Resümee

„Kurz gefasst, kulturelle Bildung ist eine komplexe Aktivität (‚treatment‘) und es ist nützlich zu wissen, ob sie zu positiven Ergebnissen führt, selbst wenn wir nicht wissen, welche ihrer Bestandteile oder welche vermittelnden Faktoren die Ergebnisse eigentlich hervorrufen“, so die Autoren.

Dass kulturelle Bildung einen positiven Einfluss auf bestimmte Kompetenzen besitzt, steht fest. Allerdings bedarf es kleinteiligerer Analysen, um zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen.

Einerseits befassen sich die meisten empirischen Studien nur mit einem Teil der angeführten Kompetenzen. Andererseits schlagen die Autoren auch vor, Teilbereiche eines Faches (zum Beispiel das Komponieren) auf die Kompetenzen hin zu überprüfen. Langzeitstudien und vermehrt experimentelle Studien, die kausale Zusammenhänge zulassen, wären wünschenswert.

Wenn bildungspolitische EntscheidungsträgerInnen tatsächlich durch die Transfereffekte von kultureller Bildung zu ermutigen sind, Lehrpläne neu zu überdenken, wäre das ein wichtiger Schritt. Insofern würde sich eine intensivere, detailreichere Analyse des jetzigen Wissenstandes lohnen.

Andererseits: So spannend und aufschlussreich die Erforschung einzelner Wirkungsdetails für Lernprozesse und die Entwicklung von Kompetenzen auch sein mag, im Allgemeinen wird man wohl nie eine direkte, kausal begründbare Wirkung von Kunstfächern erreichen. Und das ist gut so. Sonst könnte man sich – ähnlich einem Rezept – die perfekten Kompetenzen für Innovation, oder was man sonst gerade so braucht, bestellen. Nach dem Motto: 60 dag Musik, 20 dag bildende Kunst, 15 dag Tanz und 5 dag Theater, und fertig ist der köstliche Kompetenzkuchen. Auch die Autoren der OECD-Publikation plädieren letztendlich dafür: Kunst um der Kunst willen muss sein.

Veronika Großberger