Komposition – Improvisation – Experiment: Österreichs Komponierende im 21. Jahrhundert

Man war fasziniert von Carl Phillip Emanuel Bachs Fantasier- und Improvisationskünsten, seinen Einfällen, Übergängen, kühnen Ausweichungen und Überraschungen. Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert waren solche Improvisationskünste eine Selbstverständlichkeit – für Komponisten wie Interpreten. Doch die Entwicklungen der Kompositionstechniken und damit verbundener ästhetischer Prämissen verdrängten das Improvisieren. Nicht zuletzt trug die Lösung vom Dur-Moll-System hierzu bei.

Improvisation als Inspirationsgeber

Im 20. und 21. Jahrhundert, so die weit verbreitete Annahme, sind Improvisation und Komposition zwei getrennte Sphären. Dass dies nicht immer der Fall sein muss, sondern dass sich, im Gegenteil, Improvisation und Komposition gegenseitig befruchten und durchdringen können, das zeigen immer wieder Komponierende und Improvisierende gleichermaßen. Die Verflechtungen, Wechselwirkungen und Einflüsse von Improvisation auf Komponistinnen und Komponisten können ganz unterschiedlich ausfallen. Einige integrieren improvisatorische Anteile in ihre Kompositionen, schreiben gezielt für versierte Improvisierende. Andere wiederum finden in ihrer Arbeit als ImprovisatorIn einerseits und KomponistIn andererseits Vergleichbares selbst dann, wenn ihre Musik, je nach Art der Hervorbringung, ganz unterschiedlich klingen mag. Vor allem sind es KomponistInnen der mittleren und jüngeren Generation, die sich aus den Gefilden der Improvisation anregen lassen. Und viele von ihnen sind oft selbst auch aktive Improvisierende. Komponistinnen und Komponisten wie in Österreich z. B. Elisabeth Harnik und Katharina Klement, Karlheinz Essl, Eva Reiter, Wolfgang Mitterer, Bernhard Lang oder Jorge Sánchez-Chiong sind nur einige von ihnen. Auch anderenorts, nicht nur in Europa, sind solche Wechselwirkungen (erneut) zu beobachten. So tragen z. B. KomponistInnen wie  Richard Barrett, Stefan Prins oder Cat Hope das Element der Improvisation auch in ihre Ensembles „fURT“, „Nadar“ bzw. „Decibel“ hinein.

Ein knapper Erinnerungsrückblick in die Mitte des 20. Jahrhunderts: Neue Wege des Komponierens wurden erprobt. Die Idee, Musik graphisch zu notieren, war eine von ihnen. Und auch sogenannte indeterminierte Werke, in denen die Interpreten gewisse Wahlmöglichkeiten und / oder Freiheitsgrade erhielten, in denen Prozesse, Form oder Material in gewissen Rahmen variabel oder unbestimmt waren. Karlheinz Stockhausen in Europa oder John Cage und Vertreter der „New York School“ sind bekannte Beispiele. Musikalische und konzeptionelle Experimente, auch mit klanglich nicht exakt vorhersehbaren Ergebnissen – auch sie waren in dieser Zeit ein wichtiges Feld des Neudenkens. Die Beschäftigung mit diesen ästhetischen Richtungen und der gleichzeitig auch in Europa bekannt werdende neue Jazz, der Free Jazz, sind zudem zwei der wichtigsten Inspirationen für die Entwicklung der sogenannten freien Improvisation.

Heute gibt es erneut zahlreiche Komponierende, vorwiegend der mittleren und jüngeren Generation, die Improvisation als Inspirationsfeld für ihr Schaffen sehen oder sie gar in ihre Kompositionen integrieren. Für sie sind diese einst getrennten Welten durchlässig geworden. Die einstigen Grabenkämpfe, basierend auf einen inzwischen auch in „puren“ Komponistenkreisen überholten Werkbegriff, haben sich zum Teil gelegt. Die Position des Komponisten und diejenige des Improvisators werden nicht mehr automatisch gegeneinander ausgespielt. Das Nicht-exakt-Notierbare ist vom „Aussätzigen“ zum akzeptierten Mitbürger geworden. Und umgekehrt: Auch Improvisierende entwickeln heute neben ihrem freien Spiel verstärkt immer wieder auch strukturierte Improvisationen, graphische Notationen, Spielregeln oder Anhaltspunkte – wahlweise mit dem Ziel, diese streng zu befolgen oder aber auch, sie als Impulsgeber zu verstehen, um sie bei Bedarf verlassen zu können.

Nicht zuletzt bilden sich seit einiger Zeit immer wieder Ensembles, die gezielt nicht nur neue Medien in Fokus ihres Interesses setzen, sondern die sich auch neuen Interpretationsanforderungen stellen. Dabei kommen neue Präsentationsformen ebenso in Frage wie die Auseinandersetzung mit neuen Konzepten – die in ihren Grundzügen eben oft gar nicht neu sind, sondern seit einiger Zeit  wieder verstärkt Interesse finden und die, etwa im Vergleich zu den 1960er Jahren, weiter entwickelt und neu gedacht werden. Und auch verstärkt von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Die belgischen Ensembles „Champ d’action“, „Besides“ und „Nadar“ oder das von Cat Hope gegründete Ensemble „Decibel“ aus Australien sind Beispiele hierfür. In Österreich sind es vor allem das Ensemble PHACE, das Klangforum oder kleinere Ensembles wie das Koehne-Quartett, Polwechsel, das LFO oder das Improvisatorinnen-Komponistinnen-Kollektiv Subshrubs.

Allgemein kann man erkennen, dass das Interesse meist jüngerer Musiker für Improvisation heute wesentlich höher ist, ebenso die Bereitschaft, Neues auch als Interpret auszuprobieren als noch vor zehn, zwanzig Jahren. Man denke nur an die beiden großen Fortbildungskurse für zeitgenössische Musik in Darmstadt (Darmstädter Ferienkurse) und Graz (impuls), bei denen auch die Improvisationsworkshops regen Zuspruch von InterpretInnen und KomponistInnen erhalten.

Spielorte in Österreich  

Duchlässigkeiten finden sich in Österreich im Bereich der Spielstätten. Meist sind es kleinere Orte, die sowohl Improvisation als auch Kompositionen, experimentelle Elektronik und diverse Mischformen programmieren. Zum Teil auch innerhalb eines Konzertes oder innerhalb kleiner Festivals. Ein paar Beispiele sind der Echoraum oder die Reihen für zeitgenössische Musik in St. Ruprecht / Wien, das Kabelwerk als extern kuratierter Spielort oder Minoriten / Graz. Nicht zu vergessen ist die Reihe „open music“ in Graz und die Konzertreihe für zeitgenössische Musik der Jeunesse, meist veranstaltet im Wiener Porgy & Bess. Beides wird kuratiert von Ute Pinter, die ganz gezielt sowohl Konzerte aus den Bereichen Jazz, Improvisation und experimentelle Musik sowie neue komponierte Musik in einer Konzertreihe präsentiert. Und deren Interesse immer auch auf Mischformen direkter oder indirekter Art liegt. In Kärnten ist es das ZZM, das, wenn auch nicht allzu häufig, sowohl Konzerte mit komponierter als auch improvisierter Musik an wechselnden Orten kuratiert.

Es sind vor allem die kleinen Veranstalter und Konzertbetreiber, die sich für Grenzüberschreitungen und Mischformen interessieren. In großen Häusern wie dem Konzerthaus Wien findet improvisierte oder experimentelle Musik in der Ära Bernhard Kerres nur noch ausnahmsweise statt. Die Reihe „Generator“ wurde gestrichen und durch „Im Loth“ ersetzt. „Im Loth“ soll junges Publikum anziehen, präsentiert allerdings ein bunt gemischtes Programm zwischen Jazz, Folk, leichter Klassik und nur gelegentlich Improvisation oder Neue Musik. Komponierte Musik, die aus Einflüssen improvisierter Musik gespeist wird oder deren KomponistInnen sich von Improvisation inspirieren lassen, findet im Wiener Konzerthaus Raum in Konzertreihen etwa des Klangforum Wien und des Ensembles PHACE. Das bedeutendeste Festival für zeitgenössische Musik in Österreich, Wien Modern, stand unter der Leitung von Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer für Neue Ideen, für Visionen und das Neudenken zeitgenössischer Musik heute. Improvisation und Experiment waren Teil des Festivals. Ein Schritt hin zu einer konservativeren Gestaltung unter Matthias Losek folgte.
Grenzüberschreitende Projekte sind offensichtlich mehr Alibi als fundiert durchdacht. Das älteste große Festival für zeitgenössische Musik, das Musikprotokoll im Steirischen Herbst, steht seit Jahren für die Öffnung hin zu vielfältigen zeitgenössischen Musikformen und integriert Improvisation und Experiment in sein Programm.

Einfluss von Improvisation auf Komposition:

Gedanken der Improvisation fließen auf unterschiedliche Art in aktuelles Musikschaffen von Komponierenden ein. Generell lassen sich verschiedene Ausprägungen des Einflusses unterscheiden:

1. Komponieren für ImprovisatorInnen
Zum einen gibt es Komponierende, die gezielt für Improvisierende oder gemischte Ensembles aus Improvisierenden und „reinen“ Interpreten schreiben. Oder, abgewandelt, die in ihren Werken Freiräume einbauen, die die Gedanken des offenen Kunstwerkes weiterschreiben und daher für Interpreten komponieren, die versiert sind im Umgang mit nicht vorab exakt festgelegten Partituren oder mit verbalen Spielanweisungen. Hierzu zählen zum Beispiel Karlheinz Essl, Gernhard E. Winkler, Bernhard Lang, Wolfgang Mitterer oder Jorge Sánchez-Chiong.

Umgekehrt gibt es auch diverse Musikschaffende, die primär als ImprovisatorInnen bekannt sind, die jedoch ihr Spektrum als „frei“ Improvisierende (ob in ad-hoc-Besetzungen oder über längeren Zeitraum probend und aktiv an einem eigenen bzw. gemeinsamen Spielidiom arbeitend) erweitern. ImprovisatorInnen wie Burkhard Stangl, Angelica Castello, Manon-Liu Winter, Michael Moser zählen dazu. Sie schreiben für wechselnde Besetzungen, in denen sie oft (aber nicht zwingend) mitspielen, deren Spielweisen sie aber meist gut kennen. Der Cellist und Improvisator Noid (Arnold Haberl) arbeitet immer wieder auch mit strengen Spielregeln, die teilweise auch experimentellen Versuchsanordnungen gleichen. Die Blockflötistin Pia Palme fing über den Weg der Improvisation und Konzeptentwicklung an, verstärkt auch fixierte Partituren zu entwickeln. Ensembles, die primär Eigenkompositionen und Konzeptimprovisationen spielen, sind Polwechsel, das LFO (Low Frequency Orchestra) oder das Musikerinnen-Kollektiv „Subshrubs“.

2. Inspirationsfeld Improvisation – exakte Notation
Zum anderen gibt es Komponierende, die ihre Werke durchaus streng notieren und den Interpreten keinerlei Freiräume lassen. Und dennoch lassen sie sich ganz eindeutig von Strategien, Materialien, Texturen, Interaktionsphänomenen und Prozessen der Improvisation inspirieren, die sie als Improvisierende selbst erfahren. Komponisten wie Elisabeth Harnik, Katharina Klement, Eva Reiter, Wolfgang Mitterer, Bernhard Lang – sie alle sind nicht nur KomponistInnen, sondern zugleich auch aktive, äußerst versierte Improvisatorinnen und Improvisatoren.

3. Mischformen – Freifelder & streng Fixiertes
Ebenfalls fruchtbare Spannungsfelder können sich ergeben, wenn beide Varianten kombiniert werden. Wenn einzelne Stimmen für Improvisierende notiert werden – zum Beispiel in Spielanweisungen, graphischen Hinweisen. Andere Stimmen werden hingegen vollständig und konventionell ausnotiert und fixiert. Zu finden etwa in einigen Kompositionen von Bernhard Lang, Wolfgang Mitterer oder Jorge Sánchez-Chiong.

Die im Folgenden präsentierten Komponistinnen und Komponisten stehen für diese unterschiedlichen Einflüsse und Wechselwirkugnen von Improvisation auf Komposition.

Katharina Klement:

Katharina Klement ist Komponistin, Pianistin und Improvisatorin. Improvisation und Komposition sieht sie zwar als getrennte Welten, doch als solche, die sich gegenseitig befruchten, über quasi unterirdische Kanäle. Improvisation und Komposition nennt sie auch „kommunizierende Gefäße“. Anhand ihres Stückes „Portrait“ für Akkordeon, Bassklarinette und Elektronik werden diese Einflüsse konkret und hörbar. Katharina Klament beschreibt es mit folgenden Worten:

Es ist ein Trio, in dem ein Instrument das andere portraitiert oder spiegelt. Und in dieser Unmöglichkeit, dass z. B. das Akkordeon die Bassklarinette portraitiert, entsteht etwas Neues. Da geht es eigentlich um den Gedanken der Transformation und da gibt es Elemente, die aus der Improvisation gespeist sind. Es sind auch sich wiederholende Muster, die sich fortspinnen, im freien Improvisieren geht man ähnlich vor, eher assoziativ.

Katharina Klement arbeitet mit Prozessen und kleinteiligen Formverläufen, die sie aus ihrer Erfahrung als Improvisatorin in ihre Kompositionen übernimmt. Katharina Klements Kompositionen sind keine losen Spielanweisungen, sondern streng fixiert. Allerdings wechseln solcherart Prozesse und Verläufe ihr Gewand. Die Fixierung von Prozessen oder aus improvisatorischen Settings inspirierten Spielweisen gelangen oft zu ganz anderen klanglichen Ergebnissen und Eindrücken. Ein Grund ist die strenge Notation, die von den InterpretInnen penibel und exakt umgesetzt wird, während in Improvisationssettings stets zusätzliche Unwägsamkeiten, etwa unerwartete Aktionen der Mitspielenden, den einmal gestarteten Prozess in andere Bahnen lenken können. Die Klangwelten, die Katharina Klement als Komponistin oder als Improvisatorin am Klavier entwirft, decken sich nicht. Sie ähneln sich aber. Die Arbeit am Klang ist ihr ebenso wichtig wie der Gedanke der Prozesshaftigkeit.

Klanglich wesentlich stärker unterscheiden sich die Klangwelten einer anderen österreichischen Komponistin und Improvisatorin, Elisabeth Harnik. Auch sie ist Pianistin.

Elisabeth Harnik:

Elisabeth Harnik ist bekannt als energiegeladen agierende Improvisatorin. Klangsensible Texturen, gespielt im Klavierinnenraum, ergänzen ihr Spiel, durchbrechen einen mal dichten, mal impulsiven Energiefluss oder aber behalten ihn bei, um keinen Energie-, wohl aber einen Klangfarbenwechsel herbeizuführen. Viele ihrer streng notierten Kompositionen klingen hingegen völlig anders. Sie sind von Ruhe durchzogen, fokussieren klangliche Prozesse. Ein Kontrast im klanglichen Ergebnis und der Entstehungsweise – und doch stehen Erfahrungen des Improvisierens versteckt Pate im Rahmen des Kompositionsprozesses. Konkret: Wesentlicher Aspekt für Elisabeth Harnik als Improvisatorin ist die Interaktion mit einem Gegenüber. Die Mitspielenden geben Impulse in Form einer Ergänzung des gerade gesetzten Klanges oder als kreative Reibefläche und „Störfaktor“. Ein solches Gegenüber sucht Elisabeth Harnik auch als Komponistin. Sie findet es, in dem sie sich Regeln setzt, an denen sie sich als Komponistin beim Schreiben reiben kann. Diese selbst und für jedes Werk neu entwickelten Regeln oder Strategien fordern sie zur Reaktion heraus. Sie sind, abstrakt und verkürzt gesehen, mithin vergleichbar mit musikalischen Partnern in der Improvisation – die Tatsache der unterschiedlichen Zeitlichkeit, der Korrekturmöglichkeit im Kompositionsprozess etc. einmal beiseite gelassen. Diese selbst gesetzten Regeln und Strategien zu befolgen, abzuwandeln, zu irritieren oder gar zu brechen, ist Teil des kreativen Kompositionsvorganges. Ziel solcher selbst erstellten Regelwerke ist es für Elisabeth Harnik auch, nicht in schreibende Automatismen beim Komponieren zu verfallen. Während Katharina Klement sich von Prozessen, klanglichen Texturen und konkreten Spielanweisungen aus der Improvisation inspirieren lässt, diese kompositorisch verfestigt und damit zugleich transformiert, geht Elisabeth Harnik noch einen Schritt weiter in die Abstraktion. Ihre Inspirationsfelder beim Komponieren basieren also ebenfalls auf ihren Erfahrungen als Improvisatorin. Doch weder sind es der Klang noch konkrete Prozesse, die sie überträgt, sondern das Phänomen der Interaktion. Ihre Spielregeln und Strategien, die sie für ihre Kompositionsprozesse entwickelt, dienen ihr selbst beim Denken als Gegenüber.

Wichtig ist mir aber – gleich, ob ich jetzt komponiere oder improvisiere – stets die Suche nach Neuem; etwas, das mir selber noch fremd ist. Ich versuche auch immer über meine eigenen Grenzen hinauszukommen. D. h. unter dem Spielen kann sich plötzlich etwas spontan ereignen, das neu ist in dem bisherigen Kontext. Ich greife das dann auf und folge dem nach. Auch beim Komponieren ist es so, dass ich mir bestimmte Arbeitsweisen wähle, die mich dazu bringen, spontan bestimmte musikalische Ereignisse zu verfolgen. Auch wenn ich nicht weiß, welches Resultat das ergibt. Das macht aber für mich bei beiden Disziplinen den Reiz aus. Es sind nur unterschiedliche Wege, diesen zu erreichen. (mica-Interview, 2007)

Eva Reiter:

Etwas jünger ist Eva Reiter. Als Blockflötistin und Gambistin ist sie als Interpretin Alter und Neuer Musik wie auch als Improvisatorin aktiv. Ihr Weg zur Komposition führte in erster Linie über die intensive Auseinandersetzung mit der Improvisation sowohl in Bezug auf Material- und Klangforschung als auch anhand von spezifischen Fragestellungen u. a. zu Formgebung, Interaktion und Reaktionsgeschwindigkeit. Hieraus entstand der Wunsch, v. a. die Form komplexer zu gestalten, zu verdichten, konkret zu fixieren. Eva Reiters Kompositionen sind streng notiert. Sie begann zunächst, für ihre eigenen Instrumente und sich selbst als Interpretin zu schreiben. Mit diesen Erfahrungen schreibt sie inzwischen auch für andere Musiker und Ensembles. Oft spielen Zuspielbänder eine Rolle. Basis sind z. B. oft Maschinengeräusche, rhythmische Strukturen, Loops, die bearbeitet werden.

Ich habe eine große Vorliebe für sehr strenge Strukturen entwickelt. Die Stücke, die ich mache, sind häufig Stücke für Instrumente oder ein Soloinstrument und Zuspielungen. Und die Klänge, die auf der Zuspielung zu hören sind, sind meistens Motorengeräusche, alltägliche synthetische Klänge, die man jeden Tag hört in der urbanen Umgebung. Motoren von Rolltreppen, Aufzugschächte etc. Ich bearbeite sie so, dass ich einen strengen Strukturplan verfolge und live versuche, mich an dieses sehr rohe Material anzupassen.

Ziel ist es, im Spiel akustische und elektroakustische Klänge zu verschmelzen bzw. ihre Herkunft zu verschleiern. Einerseits färbt der live gespielte Part die Klänge der Zuspielung und entschärft das Roh-Maschinelle und umgekehrt verliert der Klang des live gespielten Instrumentes ein wenig an Wärme durch die rau klingende Zuspielung.

Improvisation dient und diente Eva Reiter als Materialsuche ebenso wie der Entwicklung von Fragestellungen. Ihre Improvisationserfahrungen – und damit verbunden – das Erkunden der spezifischen Qualitäten der Improvisation wie auch die Erfahrung ihrer Grenzen festigten ihren Wunsch, Musik auch zu fixieren, komplexeren strukturellen Fragestellungen nachzugehen. Seien Maschinenklänge oder naturwisenschaftliche Phänomene und Prozesse Inspirationsgeber.

Ich habe mich selbst als Musikerin einige Jahre lang im Bereich der Improvisationsmusik bewegt, hierzu vor allem in Holland auch sehr, sehr intensiv geprobt und recherchiert. Wenn ich schreibe, greife ich auch auf eine Fülle von Ideen zu musikalischem Material zurück, welche ich mir im Zuge dieser Studienjahre habe aneignen können. Beziehungsweise ist es auch heute noch ein improvisatorischer Zugang, ein sich spielerisches Annähern an ein Instrument, welches am Beginn der Materialrecherche stehen kann. Improvisation ist hier sozusagen ein Mittel zum Zweck. Aber was die Form oder auch die strukturelle Ebene des Stückes betrifft, spielt Improvisation im Moment keine Rolle. (mica-Interview, 2010)

Jorge Sánchez-Chiong:

Jorge Sánchez-Chiong ist Komponist und Turntablist. Als ausübender Musiker arbeitet er als Improvisator ebenso wie in Projekten mit TänzerInnen oder Noisemusikern. Als Komponist schreibt er zum Teil für „traditionelle“ Interpreten und Ensembles – er notiert penibel genau und fixiert seine Werke. In andere Kompositionen hingegen integriert er die Improvisation, meist entstehen diese Werke für ganz spezielle Improvisierende. Auch Kombinationen für konventionelle Neue Musik Ensembles oder Interpreten und Improvisierende finden sich in seinem Werkverzeichnis. Die Stimmen für die „reinen“ Interpreten sind streng notiert, während diejenigen für spezielle Improvisierende oft Verbalpartituren oder Spielanweisungen sind, die auf die Klanglichkeit und Gestik der jeweiligen Improvisierenden zugeschnitten ist. Dass diese Stücke dann oft nicht von anderen interpretiert werden können, ist Jorge Sánchez-Chiong bewusst. Er schreibe im Hier & Jetzt und nicht für die Nachwelt.

In anderen Werken übersetzt Jorge Sánchez-Chiong klangliche oder strukturelle Ideen aus der Improvisation in eine komplexe Orchesterpartitur. Eine solche Übersetzung ist zugleich immer auch eine Neudeutung, Umformulierung oder auch eine Art Spiegelung. Ein Beispiel für diese Arbeit ist „Veneno 5“ für Perkussion, speziell für den Perkussionisten und Improvisator Berndt Thurner und Ensemble. Dazu hat Jorge Sánchez-Chiong Gesten, Agogik, Klang, Farben, Verläufe des Schlagzeugers beim Improvisieren analysiert und sie auf das Ensemble übertragen. Das Ensemble spielt nach einer exakt ausnotierten Paritur. Berndt Thurner improvisierte dann sozusagen mit sich selbst als übertragenem Spiegelbild. Oder auch eine spezielle Art der Bearbeitung, wie Jorge Sánchez-Chiong den Titel beschreibt.

Die ganze Arbeit war eine Vorstellung: Wie würde Bernd spielen, wenn er „Ensemble“ spielen würde und nicht Schlagwerk? Ich habe seine ganze Agogik, seinen Klang, Farblichkeit, seine Improvisationskonzepte für Ensemble übertragen und mir war klar, was passieren würde, wenn er mitspielt. Den Rest haben wir mündlich ausgemacht. „Veneno“ heißt Gift auf Spanisch und bedeutet in der Popmusik in der Karibik, eine Art Bearbeitung zu machen, zu „vergiften“. Ich habe diese Reihe mit der Bearbeitung von Solostücken begonnen. Und in diesem Fall gab es ein Idealstück (Berndt Thurners Improvisation), das nie für den Schlagzeuger selbst notiert wurde und der Schlagzeuger vergiftet das Ensemblestück. Und damit vergiftet der Schlagzeuger auch die Vorstellung seiner ursprünglich eigenen (nicht notierten) Improvisation.

Hier geht es also darum, zwei verschiedene Arten musikalischen Hervorbringens miteinander in Beziehung zu setzen, sie in die jeweils andere Form zu transformieren. Dabei bringt Sánchez-Chiong die Unschärfen und Unterschiede von Improvisation und Komposition als Reibungsflächen musikalisch gestaltet zu neuer Blüte. Und vereint „reine“ Interpreten und Improvisatoren gemeinsam auf der Bühne, dies übrigens nicht nur in diesem Stück.

Karlheinz Essl:

Ebenfalls mit computergesteuerten autopoietischen Systemen arbeitet Karlheinz Essl, der zudem selbst als Improvisator am Laptop aktiv ist. Als Komponist arbeitet er immer wieder mit offenen Formen. Zum Beispiel lässt er Partituren in Echtzeit vom Computer generieren. Die Interpretation solch unvorhergesehener oder zumindest zum Teil unvorhergesehener Instrumentalstimmen bzw. Partituren bedarf Interpreten, die in der Lage sind, auf nicht vorab fixierte Anweisungen rasch zu reagieren. Mithin Interpreten, die die Freiheiten und Anforderungen im Umgang mit offenen Formen und indeterminierten Partituren bewältigen können. Und zwar gerade auch dann, wenn der Computer keine herkömmliche Notation liefert, sondern Spielanweisungen – wie etwa im Falle von „more or less“. Hier sind die Grenzen zur Improvisationskompetenz bei den Interpreten fließend.

„More or less“ ist eine Realtime-Composition. Ich arbeite hier mit Spielanweisungen, die von einem Computerprogramm on the flight generiert werden. Die passieren zwar auf einem strukturellen Fundus von verschiedenen Klanggestalten, die genau beschrieben sind, aber welche gespielt werden müssen, wissen die Musiker vorab nicht. Dazu kommen ebenfalls vom Computer in Echtzeit komponierte englische „Haikus“, die diese Spielanweisungen interpretieren. D. h. der Spieler weiß, dass es diese fünf Klangtypen gibt und dass dazu dann noch ein zufallsgeneriertes Haiku dazu kommt. Da gibt’s dann soviele Variationen, dass es immer wieder andere Texte entstehen. Und die Interpreten müssen diese Sachen zusammen lesen und daraus eine Interpretation dieses Modells abstimmen in Zusammenhang was die anderen spielen. Jeder hat einen Laptop und kann sich seine Spielanweisungen auf Tastendruck immer wieder neu austauschen.

Der Computer fungiert in „more or less“ in gewisser Hinsicht als ein Mitspieler, als ein Gegenüber, das zwar nicht direkt reagiert, aber stets neuen Input liefert, auf das die Musiker eingehen.

Kompositon – Improvisation => Offene Form?

Die Integration von Improvisation in Komposition – Erinnerung an Konzepte des „offenen Werkes“ werden wach. Und dennoch sind die Begriffe Improvisation und Offenes Werk keine Synonyme. Bei Jorge Sánchez-Chiong z.B. sind die Improvisationsparts stets für besondere MusikerInnen konzipiert, denn Jorge Sánchez-Chiong möchte ganz spezielle Klangtexturen oder energetische Prozesse integrieren, die diese MusikerInnen anbieten und die kaum exakt notierbar wären. Da es sich meist um auf diese MusikerInnen zugeschnittene verbale Spielanweisungen handelt, sind diese Werke nur teilweise oder manchmal gar nicht von anderen Interpreten / Improvisatorinnen spielbar. Es handelt sich hier also nur bedingt um ein Konzept „offener Form“. Ähnlich verhält es sich etwa auch in manchen Kompositionen Wolfgang Mitterers, nämlich dann, wenn er selbst als Improvisator mitwirkt, vor allem in seinen Werken für Orgel Solo. Anders sieht es bei computergenerierten Partituren von Kompositionen wie Karlheinz Essl oder auch Gerhard E.Winkler aus.

Gerhard E. Winkler hat bislang ein Werk für Improvistoren und Live-Elektronik geschrieben. In seinem Stück „Bikini.Atoll“ sind weite Strecken fixiert, andere aber flexibel und erfordern rasche Umsetzungs- und Reaktionsfähigkeit – mithin Grundkompetenzen versierter Improvisatoren. Winkler schrieb dezidiert für Improvisierende, da er unbefriedigende Erfahrung mit herkömmlichen Interpreten gemacht hatte. Die Partitur ist zwar klar, doch ist nicht das klingende Ergebnis notiert, sondern Zeitverläufe in Form von algorithmischen Programmen geschrieben, die die Partitur herstellen. Das klangliche Ergebnis ist keinesfalls beliebig, aber schon allein aufgrund der unzähligen computerrechnerisch bedingten Möglichkeiten der Partitur offen. „Offene Form“ also im Detail. Zudem gibt es tatsächlich Passagen, in denen improvisatorische Interaktion und Reaktion erforderlich sind.

Dann gibt es eine andere Konzeption von Stücken, darunter fällt auch das neue Stück Bikini.Atoll, das sind Stücke, wo es Rahmen gibt, die zeitlich umrissen sind oder durch bestimmte Qualitäten umrissen sind, wo es schon eine gewisse Vorgabe gibt und wo die Interaktivität nun quasi im Inneren dieser Abschnitte stattfindet. Hier geht es weniger um den Zug ins absolut unvorhersehbar Offene, sondern hier geht man ins Innere hinein. Wie einzelne Zimmer, die vielfältige Welten sind, wo man gestalten kann als Interpret. In Bikini.Atoll habe ich so gearbeitet, dass es einerseits vordefinierte Teile gibt in dem Stück, auskomponierte Partiturelemente. Dazwischen gibt es Zonen, wo es sehr stark auf die Interaktion der Interpreten mit der Live-Elektronik ankommt. Wo sozusagen die jeweiligen Formteile sich von Aufführung zu Aufführung generieren und konkretisieren.

Improvisation und Kompositionen, die sich „offener Formen“ bedienen, was haben sie gemeinsam? Das Prinzip der „offenen Form“ kann vielfältig ausgeprägt sein. Offen, d. h. Nicht eindeutig bestimmt, bezieht sich genau genommen nicht nur auf die Form eines Musikstückes. Offen kann auch das Material, die Klangfarbe, ein musikalischer Prozess in einem Werk sein. In traditioneller Notenschrift wird (mehr oder weniger genau) das zu erwartende Klangbild niedergeschrieben. Wenn man in der Lage ist, diese Schrift zu entziffern, ist es möglich, sich die Musik in etwa klanglich vorzustellen. Genau dies funktioniert nicht in den meisten Werken, die sich Mitteln des Offenen bedienen. Einige Parameter sind variabel oder aber die gesamte Partitur wird erst live generiert. Die Programmiersprache selbst verweist auf kein Klangbild, sondern lediglich darauf, nach welchen Regeln die Spielanweisungen generiert werden. Verbale Spielanweisungen, die noch dazu für spezielle Improvisierende formuliert wurden, hinterlassen beim Partiturlesenden Fragezeichen. Selbst wenn man die Musiker kennt, kann man sich nur grob ein mögliches Klangbild vorstellen, exakt jedoch nicht. Ähnlich verhält es sich beim Lesen graphisch notierter Werke. Fälle, in denen die Interpretation bzw. die auszuführende Aktion der Graphiken relativ exakt fixiert ist, wie etwa in Kompositionen von Anestis Logothetis, sind eher die Ausnahme. Meist reicht die Bandbreite der Interpretations- und Aktionsanweisungen von eher losen Spielanweisungen bis hin zu solchen, in denen einige Parameter, jedoch nicht alle fixiert sind. Unvorhergesehenes auch hier.

Eher in der Tradition der strengen, oder besser gesagt, klar konzeptuell fixierten Interpretationsanweisung graphischer Partituren bewegt sich Christoph Herndler. Auch er arbeitet mit „offenen Formen“. Seine Partituren sind allerdings nicht von Improvisationserfahrungen inspiriert, sondern folgt der Auseinandersetzung mit Notation, mit Schrift. Ihre Interpretation erfordert dennoch kreative und eigenverantwortlich musikalisch sowohl strukturell als auch klanglich handelnde Interpreten. Herndler ist in gewisser Hinsicht ein Solitär in der österreichischen KomponistInnenlandschaft. Er führt auf ernsthafteste und individuell konzeptuell durchdachte Weise Ideen der grahischen Notation fort. Seine Parituren sind streng formale Graphiken. Umgesetzt werden können sie durch Musiker, aber auch Tänzer oder mittels Film. Die Ausführenden können allein die geometrischen Formen als Spielanregung verwenden. Man kann aber auch die Richtlinien zur Lesart und zum zu verwendenden Material befolgen oder aber ganz bestimmten vorgegebenen Lesarten und Materialien folgen.

Weder das abgeschlossene „Werk“ noch der „exakt bestimmte“ Klang stehen im Fokus meiner Arbeit. Vielmehr versuche ich die Kontrolle dorthin zu verlagern und zu konzentrieren, wo diese das Individuum explizit in eine Position der Verantwortung rücken lässt. (mica-Interview, 2012)

Je nach Lesart werden die Interpreten mehr oder weniger zu Mitkomponisten. Doch nicht vollständig, denn der formale Rahmen, den Christoph Herndler vorgibt, weist schon an sich zu klaren Vorgehensweisen, deren Umsetzung sich die Interpreten, quasi wieder auf sich zurück geworfen, kreativ nachdenkend erarbeiten müssen. Denn Herndlers formale Graphiken verweisen u. a. auch auf Fragenstellungen nach grundlegenden musikalischen Notations- und Gestaltungsprinzipien und denken damit musikalische Tradition weiter.

Mein Notieren ist kein Bruch mit traditionellen Notationsformen, sondern denkt diese, von ihren Grenzen her, weiter. Jeder technologische Fortschritt wirft auch ein neues Licht auf die Systeme, die ihn bedingen. Wenn Tradition als etwas Lebendiges verstanden wird und nicht als etwas Museales – also Tradition, die den Übersetzungsakt mitdenkt und sich nicht museal abkapselt –, dann sieht man auch, wie es über Jahrhunderte in der Musik (und in der Kunst überhaupt) zu wiederkehrenden Fragestellungen immer wieder neue Antworten gegeben hat. (mica-Interview, 2012)

Komposition – Improvisation – Offene Form => Sonderfall Experiment?

Experimentelle Musik ist ein Begriff, der immer wieder auftaucht. Versucht man, ihn trennscharf zu anderen Musikformen abzugrenzen, ihn exakt zu definieren, so fällt dies in diesem Falle noch schwieriger als sonst bei der Beschreibung musikalischer Begrifflichkeit. Manchmal wirkt er gar als eine Art Schmelztiegel für Musik, die sich, entstanden seit der Mitte des 20. Jahrhunderts (mit Vorläufern), keinem anderen Genre oder Begriff unterzuordnen vermag, der sich zwischen verschiedenen Stühlen befindet – oder aber deren ProtagonistInnen sich mit ihrer eigenen Zuschreibung zu experimentellen Spielformen, allzu engen Einordnungen zu entgehen versuchen. Und das gelegentlich auch aus rein marketingtechnischen Gründen. Improvisation und experimentelle Musik werden oft in einem Atemzug genannt. Oft sind es Improvisierende, die sich in ihrem Spiel nicht auf rein „freies“ Improvisieren beschränken, sondern ihre Arbeit an impliziten oder expliziten Spielkonzepten, ihre intensive Materialsuche usw. mit dem Begriff des Experiments unterstreichen möchten. Oft sind es auch MusikerInnen, die mit selbstgebautem Instrumentarium arbeiten, das Experimentieren am Instrumentenbau selbst betreiben. In der Musikgeschichte verweisen diese Begriffsdefinitionen auf John Cage: „What is the nature of an experimental action? It is simply an action the outcome of which is not foreseen“ meinte John Cage 1958 auf die Frage hin, wie er den Begriff des Experimentes in der Musik fassen würde (John Cage: „History of Experimental Music in the United States“ in: ders. Silence, Middletoen Conn. 1973, S.69).

Als Abgrenzung zur in traditioneller Notenschrift, mithin in Klangschrift, geschriebenen und ein musikalisches Klangbild als kompositorische Leitidee befolgenden Werke fasste Cage unter experimenteller Musik all diejenige, die hiervon abwich: Indeterminierte Musik, solche, die sich offenen Formen bediente usw. Auch die regelgeleitete oder freie Improvisation wäre demnach darunter zu fassen – auch wenn Cage bekanntlich selbst ein vehementer Gegner des freien Improvisierens war.

Stärker auf den naturwissenschaftlichen Begriff bezogen sind Ansätze, die zum Beispiel naturwissenschaftliche Phänomene als Anregung für Komposition verwenden, Daten aus der Natur als Material verwenden, mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeiten (Arbeit mit Biofeedback z. B.) oder naturwissenschaftliche Prozesse mehr oder weniger genau in Musik transformieren. Zahlreiche Arbeiten, die für das Ö1 Kunstradio entstehen, fallen unter diese Kategorie.

Peter Ablinger, auch er ist ein Solitär unter den Komponierenden Österreichs, vereint in seiner Arbeit verschiedene Elemente des Experimentellen. Er arbeitet als Komponist. Wenn er gelegentlich auch Klanginstallationen, Visuelles oder zu Lesendes präsentiert, so sind dies für ihn in erster Linie andere Blickwinkel auf seine Arbeit als Musikschreibender. Peter Ablinger betreibt nicht primär Materialforschung. Seine detaillierte Auseinandersetzung etwa mit dem Rauschen (weiß/weisslich) verweisen hingegen primär auf den Akt des Hörens selbst, also auf die Grundvoraussetzung des Komponierens und Musikmachens. Es sind die Hörenden selbst, die den Klang filtern, imaginieren (etwa in einigen Akten der Stadtoper Graz, wenn die Opernbesucher mitten in der Stadt aufgestellte Sitzreihen vorfinden) oder herstellen (in einem Schaufenster steht ein von Winfried Ritsch hergestelltes mechanisches Klavier, das die Bewegungen der Vorbeigehenden in Klang umsetzt, zu hören sowohl in der Stadtoper Graz 2007 als auch der Landschaftsoper Ulrichsberg 2009). Oder aber in weiss/weisslich 36: Ein Kopfhörer, mit starken Richtmikrophonen ausgestattet, zoomt quasi einzelne Geräusche der Umgebung stark heran, so dass sie, je nach Geräusch und je nach Wahrnehmung und Interpreation des Hörenden, das Umweltgeräusch plötzlich intensiver, genauer, strukturierter, aber auch musikalischer wahrgenommen wird. Schaffen von Hörräumen, so könnte man die Arbeit Peter Ablingers auch beschreiben. Allerdings sind diese Hörräume eben keine realen akustischen Räume, auch wenn die architektonischen und situativen Hörsituationen immer eine Rolle spielen. Es sind imaginäre Hörräume, die weniger auf eine visuell inspirierte Wahrnehmung denn auf das Phänomen des Hörens und seiner Illusionsfähigkeiten an sich aufgebaut sind.

So zum Beispiel auch der Zyklus „Voices and Piano“ für Klavier und Zuspielung. Über Lautsprecher zu hören sind die originalen Stimmen bekannter Persönlichkeiten, etwa von Ezra Pound, Billie Holliday, Morton Feldman, Mao Tse-Tung und anderen. Der Pianist spielt dazu eine Übersetzung der Sprache in Töne. Entstanden ist der Klaviersatz mithilfe eines Klangsyntheseverfahrens, das die Sprache möglichst genau in Töne überträgt. Klangfarbliche Nuancen, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke und der Sprachgestus fanden dabei gleichermaßen Beachtung. Ablingers Stück kann man als Sprachimitation verstehen, doch es ist weit mehr. Das Klavier ist bekanntermaßen das Instrument, das der menschlichen Stimme am weitesten entfernte ist. Kein Atem oder dem Atmen gleichsam verwandtes Bogenspiel, kein Dauerton ermöglicht es dem Pianisten, eine menschliche Stimme klangfarblich zu imitieren. Aber gerade die Wahl dieses sprachfernen Instrumentes hat seinen Reiz. Beim Hören des eher neutralen Klavierklanges bestaunt man nicht nur das klangliche Abbild der Sprache, die plötzliche Sprachähnlichkeit der rein akustischen, wortlosen Klaviergesten. Peter Ablinger meint dazu: Das Klavier wird zu einer Brille, zu einer Hörhilfe auf die Sprache oder die Geräusche im Allgemeinen. Und da findet so ein Wahrnehmungswechsel statt. – Kunst wird zum Rahmen, zur Wahrnehmungsunterstützung zu dem, was uns täglich umgibt. Ein Experiment, das prüft, inwiefern sich „Rahmen und Kunst“ – also Rahmen und Inhalt – im übertragenen Sinne tauschen können.

Man kann aber noch einen weiteren Wahrnehmungswechsel vornehmen: Man kann vom Wortsinn wie auch vom Sprachgestus abstrahieren und im Klavierspiel die rein musikalisch gestaltete Form verfolgen. Anders ausgedrückt: Indem Ablinger den Wortsinn eliminiert, lenkt er die Konzentration auf scheinbar Nebensächliches der Sprache: den reinen Klang. Diese scheinbare Reduktion bewirkt allerdings keine Begrenzung hin zu einer Eindimensionalität des Klanges (also Sprachgestus minus Wortsinn), sondern eine Umwandlung mit dem Ergebnis der Mehrdimensionalität: Sprache minus Wortsinn = Sprachgestus + musikalischer Formsinn.

Einflüsse von Improvisation auf Komposition können vielfältig sein, direkt und indirekt, offen oder versteckt. Sie können zuweilen auch in graphischer Notation vorliegen oder eng mit Experimenten verbunden sein. Einflüsse von Komposition auf Improvisation sind ebenfalls lebendige Praxis Musikschaffender. So interessant es ist, sich solche Wechselwirkungen bewusst zu machen und sie zu beschreiben, so sehr weisen all diese Beobachtungen darauf hin, dass Komposition und Improvisation keine getrennten Welten sind, dass sie in ihren „puren“ Ausformungen unterschiedliche Herangehensweisen mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Schwerpunktsetzung musikalischen Schaffens sein mögen, dass sie letztendlich jedoch eng miteinander verzahnt und in fruchtbarer Kooperation musikalisch Neues zu schaffen vermögen. Seit Jahrhunderten bekanntlich.

Nina Polaschegg
Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus Interviews der Autorin mit den MusikerInnen.
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