Johannes Maria Staud zählt zu den auch international erfolgreichsten österreichischen Komponisten der jüngeren Generation. Staud, der in Wien bei Michael Jarrell und Dieter Kaufmann, dann bei Hanspeter Kyburz in Berlin studierte, Meisterkurse bei u. a. Brian Ferneyhough absolvierte, war in Wien Mitbegründer der Gruppe “Gegenklang”, seine Werke werden seit 2000 von der Universal Edition verlegt. 2004 erhielt er den Förderpreis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung. Er lebt zur Zeit in London.
Nach . gleichsam als ob . für großes Orchester (1999/2000), A map is not the terroritory (2001), der Musik für Klavier und Orchester Polygon (2002), der Kammeroper Berenice, die 2004 bei der Münchener Biennale, bei den Wiener und den Berliner Festwochen gezeigt wurde (dann in einer revidierten Fassung in Heidelberg), sowie weitere Werke für Solo- und kammermusikalische Besetzungen folgten auch Aufträge renommierter Orchester. Die Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle brachten 2005 Apeiron für großes Orchester zur Uraufführung, am 23. Juli wird als Auftragswerk der Salzburger Festspiele Segue, Musik für Violoncello und Orchester mit den Wiener Philharmonikern unter Daniel Barenboim und Heinrich Schiff als Solisten uraufgeführt, auch Franz Welser-Möst und das Cleveland Orchestra haben ein weiteres Orchesterwerk (für 2008) bestellt. Über seine letzten Werke und über das Komponieren von Johannes Maria Staud dreht sich das folgende ausführliche Gespräch.
Wo hast du derzeit deinen Lebensmittelpunkt?
Johannes Maria Staud: Seit Juni 2004 in London. Ich fühle mich dort wohl. Denn Wien ist zwar toll, aber hier kennt jeder jeden. Und anderswo wird das, was man macht, auch anders gesehen. Das ist irgendwie auch eine Schocktherapie. In England wird Musikgeschichte und -ästhetik wirklich anders gesehen. Musik, die mir auch persönlich viel bedeutet hat, wird dort als ,so called avantgarde’ abgetan. Und umgekehrt ist bei uns Eklektizismus ein Schimpfwort und dort ein Ausdruck für Qualität.
Gibt es in England nicht viel stärker die Erwartung, dass Komponisten für ein großes Publikum schreiben sollten, und auch mal einen Reißer?
Johannes Maria Staud: Möglich. Bei uns ist da ja so ein Zwiespalt. Wenn Georg Friedrich Haas etwas so Tolles schreibt wie in vain, dann wird das sofort zwiespältig aufgenommen, abtariert. Man sagt, gut, das basiert auf älteren Stücken, die viel widerständiger sind. Dann sagt man schnell, der hat seine Seele verkauft, was natürlich Blödsinn ist.
Hast du das auch zu spüren bekommen, zuletzt zum Beispiel bei der Rezeption deiner Oper Berenice bei den Wiener Festwochen 2004?
Johannes Maria Staud: Ich hab sowohl viel Positives als auch Negatives gehört, das war aber zu erwarten. Das ist an sich ein gutes Zeichen. Doch mit feigen Attacken ist man immer konfrontiert. Da war ich, knapp nach Berenice in Wien auf einer Feier, da ist irgendein Mensch hinter mir, den ich noch nie gesehen habe, gar nicht kenne, und der sagt dort laut “also der Staud ist echt Scheiße”. Muss ich mir das antun? Der könnte ja direkt zu mir kommen. Als Komponist hat man vielleicht eine gewisse Neigung zur Paranoia, dennoch muss man doch auch die Freiheit haben, für sich etwas zu versuchen, einen eigenen Weg zu gehen. Und: Es ist ja eine freie Entscheidung jedes einzelnen, da hinzugehen und sich das anzuhören.
Willst du die Oper überarbeiten?
Johannes Maria Staud: Ich mache im Sommer jetzt eine Revision, schon bei der Heidelberger Aufführung haben wir vieles geändert und auch gekürzt, das möchte ich eintragen. Für das Ensemble Modern schreibe ich auch eine zweiteilige Berenice-Suite. Da ist doch so viel Musik drin! Das ist aber keine “Verwurstung”, wiewohl, Geld verdienen muss ich als freier Komponist ja auch.
Wie bist du in den letzten Jahren mit all den großen, auch für die Karriere wichtigen Aufträgen klargekommen?
Johannes Maria Staud: Ich versuche wirklich, bei jedem neuen Stück etwas zu probieren, das ich selbst noch nicht gemacht habe. Als ich von den Berliner Philharmonikern den Auftrag für Apeiron bekommen habe, hat es mich sehr interessiert, ein Riesenorchester zu beschäftigen. Wenn ich die Chance habe, für 104 Musiker zu schreiben, tue ich das auch.
“Für mich ist diese Gattung tot.”
Für welche Besetzungen reizt es dich, zu komponieren?
Johannes Maria Staud: Ich hatte eben ein Gespräch mit Lucas Fels vom Arditti-Quartett und mir wurde klar, ich kann derzeit nicht für Streichquartett schreiben. Für mich ist diese Gattung tot. Quartett, Klaviertrio oder Klavierlied sind Gattungen, die einer anderen Zeit angehören. Sie waren Prunkstück der bürgerlichen Konzertkultur, anderseits gibt es auch in der Neuen Musik große Auseinandersetzungen mit dieser Gattung, etwa von Lachenmann, Haas oder Guerrero. Einfach von der Obertonstruktur dieser Instrumentenkombination her ist das schwierig. Wenn ich ein Stück für, sagen wir, Posaune, Saxophon und Schlagzeug mache, bin ich unbelasteter, da habe ich nicht diese lange Gattungsgeschichte. Auch beim Orchester sind die Kombinationsmöglichkeiten von Instrumenten noch lange nicht ausgereizt. Und so habe ich jetzt Incipit III, ein Stück für Posaune solo, zwei Hörner, Schlagzeug und Streichorchester geschrieben. Dann gab es vorher die in Schwaz uraufgeführten Violent Incidents(Hommage à Bruce Nauman) für Saxophon solo, drei Flöten, drei Fagotte, Blech, zwei Schlagzeuger – wenn man so will, auch aus dem Orchester gelöste Gruppen.
Es interessieren dich vor allem instrumentale Klangmöglichkeiten?
Johannes Maria Staud: Da wird immer so abgewogen: Jemand macht akusmatische oder elektronische Musik, wird also deshalb für moderner als ein anderer gehalten. Es kann aber jemand in seiner Akusmatik viel altmodischer und konventioneller sein, als jemand, der für Instrumente komponiert. Ein tiefes Tonbandbrummen, das ist genauso ein Klischee wie ein Streichertutti. Was soll’s.
Das Bestreben nach Innovation, nach neuen Klangfarbenmischungen, neuen formalen und harmonischen Lösungen ist konstituierend für dein Tun?
Johannes Maria Staud: Absolut. Sonst bräuchte ich doch nicht zu komponieren. Im Herbst schreibe ich ein Stück für Cembalo, kleines Ensemble und Live-Elektronik. Jonathan Harvey hat schon gesagt, wie das 19. Jahrhundert die Möglichkeiten für Bläser erweitert hat, und das 20. Jahrhundert das Jahrhundert des Schlagwerks war, ist das 21. Jahrhundert natürlich das der Elektronik. Diese Möglichkeiten werden immer mehr standardisiert, die Studios werden kleiner, das Equipment ist so, dass man vieles zu Hause machen kann. Das heißt, auch die Wiederaufführbarkeit ist einfacher, es ist ja nicht mehr so wie in den Pioniertagen. Insofern heißt das aber nun wiederum nicht, dass ich nicht doch irgendwann wieder ein Streichquartett schreiben werde.
Warum für Cembalo?
Johannes Maria Staud: Es ist eine unglaubliche Vielfalt, die in diesem Instrument drinnensteckt, da kann man noch viel entdecken. Neulich habe ich die Sonaten von Scarlatti in einer Neuaufnahme mit Pierre Hantai gehört, unglaublich!
Das große Orchesterstück Apeiron kommt mit dem RSO Wien bei Wien Modern. Worum geht es in diesem Stück?
Johannes Maria Staud: Das basiert auf einer Beschäftigung mit dem Apeiron, dem Unbegrenzten, Unendlichen in der vorsokratischen Philosophie, wie es Anaximander einführte. Über die Kunsttheorie Leonardo da Vincis bin ich auf dieses Grundmodell der Kreativität gestoßen, auf den vorsokratischen Fluss, in dem sich ständig alles verändert. Es ist ein induktives Vorgehen: Wenn ich Boulez, Kyburz oder Ferneyhough als “deduktive” Komponisten einschätze, würde ich Edgar Varése oder Morton Feldman, besonders auch Béla Bartók als “induktiv” sehen, und ich glaube, auch ich bin ein induktiver Komponist in diesem Zusammenhang. Wie bei Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta wirkt auch in Apeiron der “Goldene Schnitt” nach einer Fibonacci-Reihe, jede Sekunde ist formal nach Fibonacci organisiert. Ein Höhepunkt erscheint hörpsychologisch in der Mitte eines Abschnittes, wenn er nach zwei Dritteln oder drei Fünfteln stattfindet. Und ein schneller Teil dauert hörpsychologisch länger als ein sehr langsamer. Alle diese Dinge sind in diesem Orchesterstück, das auf ganz wenigen Keimzellen basiert, angewandt, aber alles ist stets entwickelnd angelegt, über einer sich verändernden Harmonik entsteht auf einmal etwas komplett Neues. Das Verfahren lässt sich auch mit Feldmans The Viola in my life vergleichen. Es hat etwas Fließendes. Mein Klavierstück Peras (Anm.: das Bestimmte, die Ordnung), eigentlich der erste Abschnitt von Apeiron für Klavier solo, ist da dann genau das Gegenteil. Ich habe vorher das Unbegrenzte und versuche dann eine Grenze einzuführen. Als Musik für Klavier führt das zu aber einem anderen Ende.
“Der Schluss des Stücks ist ein großes Aufrauschen nach einer lang angelegten Steigerung.”
Wie war die Erfahrung mit den Berliner Philharmonikern?
Johannes Maria Staud: Ganz toll. Ich traf Simon Rattle vor der ersten Probe in seinem Zimmer, er sagte freundlich “you crazy guy” und, dass die Partitur ungefähr so hoch sei wie jetzt gerade sein kleiner Sohn . Aber wir hatten wirklich viel Probenzeit und es gab zum Beispiel spontan nach der offiziellen ersten Probe eine Extra-Schlagzeug-Probe, wo alles genau aus- und abgestimmt wurde (ich verwendete als kleinen Scherz Kastenratschen – “rattles”). Man kann mit Simon sehr gut kommunizieren, besser als mit manchem anderen Spezialisten für Aufführungen Neuer Musik unter den Dirigenten. Es war auch alles ein bisschen “fun”, ohne dabei jedoch oberflächlich zu sein. Und das Stück hatte beim Publikum wirklich eine tolle Resonanz, was mich gefreut hat. Der Schluss des Stücks ist ein großes Aufrauschen nach einer lang angelegten Steigerung. Wer sagt denn, dass jedes moderne Stück pianissimo enden muss? Ich wollte halt einfach einmal einen “Ramba-Zamba”-Schluss schreiben. Wieso soll das nicht möglich sein. Es muss ja deswegen nicht wie Henze klingen.
Violent Incidents, in Schwaz uraufgeführt, ist auf der neuen kairos-CD zu hören.
Johannes Maria Staud: Es wurde von Windkraft Tirol unter Kasper de Roo mit dem Saxophonisten Marcus Weiss uraufgeführt und ist eine Hommage an Bruce Nauman, ein Künstler, der mich regelmäßig fesselt, einfach weil er so unvorhersehbare Sachen macht. Er hat etwas Minimalistisches, ist aber nicht so dogmatisch, wie es andere waren. Er arbeitet in seinen Videos so präzise, so poetisch. In der Videoinstallation geht es um Gewalt und Gewalt-Voyeurismus, sehr beängstigende Situationen, und ich versuchte das mit dieser Bläserbesetzung einzufangen. Das wirklich beängstigende an Gewalt ist die Zeit davor. Wie bei Alfred Hitchcocks “North by Northwest”.
Du bist sehr produktiv gewesen in letzter Zeit.
Johannes Maria Staud: Ich brauche für ein Orchesterstück ein halbes Jahr, also so schnell schreibe ich gar nicht. Bei Incipit III (Esquisse retouchée II), drittes und letztes Stück meines Incipit-Zyklus bin ich nach dem Ensemblestück über das Solostück beim Orchesterstück angekommen, das neben mehr Tiefenschärfe sehr bald auch völlige Eigendynamik entwickelt. Das könnte man auch an einem Abend aufführen, aber womöglich würde es der Solist nicht durchstehen. Ich habe dabei viel gelernt im Umgang mit der Posaune und dem wunderbar feinen, abphrasierten und sprechenden Stil von Uwe Dierksen, dem Posaunisten des Ensemble Modern, dem alle drei Incipits gewidmet sind.
Segue, Musik für Violoncello und Orchester wird als Auftragswerk der Salzburger Festspiele mit den Wiener Philharmonikern und Heinrich Schiff am 23. Juli aufgeführt. Inwieweit hat es den geforderten Mozartbezug?
Johannes Maria Staud: Heinrich Schiff hat ein Mozartfragment entdeckt und es Peter Ruzicka gezeigt. Ich habe diese Skizze dann gekriegt und mich gefragt, warum Mozart das nicht fertig geschrieben hat. Es ist eine Seite in schneller Schrift für Cello und Tasteninstrument; Mozart hat ja nichts für Cello geschrieben, wahrscheinlich aus dem Umstand heraus, dass er keinen so guten Cellisten so gekannt hat, wie er einen hervorragenden Hornisten oder Klarinettisten an der Hand hatte. Cellisten unserer Tage bedauern das natürlich, die haben aus der Klassik ja nur die Haydn- und Boccherini-Konzerte. Was man von mir sicher nicht bekommt, ist eine Verarbeitung, wie man sie von Alfred Schnittke hätte erwarten können, als verfremdendes Element in polystilistischem Sinne, oder in der Art, wie es Luciano Berio mit einem Boccherini-Thema gemacht hat. Der Anfang ist daher schlicht die Vervollständigung und Orchestration des Fragments von Mozart, dann wird mit einem Knall fortgesetzt und etwas völlig Eigenes, Unvorhersehbares entwickelt, das aber ohne diesen Beginn wohl nie entstanden wäre. Der formale Bezug ist ständig da. Der erste Teil dauert 2 1/2 Minuten, der zweite Teil 6’15” – es gibt vier Großabschnitte. Den Mozart sehe ich als heterogen im Kontext, aber schlussendlich erklärbar aus dem Gesamtganzen.
Wie war die Zusammenarbeit mit Heinrich Schiff?
Johannes Maria Staud: Schiff hat mir sehr viel gezeigt, wir haben alles mögliche gemeinsam ausprobiert, ich hab ihn mit Fragen gelöchert Ohne ihn wäre die Musik für Violoncello und Orchester nicht so entstanden. Er hatte immer Zeit und war immer sehr interessiert.
Was erwartest du dir vom Orchester?
Johannes Maria Staud: Die Wiener Philharmoniker spielen natürlich toll, haben ihren ganz eigenen Klang, der mich natürlich sehr bei der Arbeit inspiriert hat. Aber dennoch habe ich die Musik geschrieben, die ich schreiben wollte, habe den Klang erweitert: Es gibt ein Akkordeon, zwei Saxophone, viel Schlagzeug drin. Ich bin gespannt.
Woran arbeitest du zur Zeit?
Johannes Maria Staud: An einem Schlagzeugsolostück, dann einem Stück für Cembalo, Ensemble und Live-Elektronik. Danach folgen zwei Trios – eines für Flöte, Harfe und Bratsche und das andere wird wahrscheinlich für Klarinette, Klavier und Cello sein.
Da bist du ja doch wieder bei einer Kammermusik-Besetzung. Wie ist deine Verbindung zu Österreich und österreichischen Interpreten derzeit?
Johannes Maria Staud: Apeiron kommt bei Wien Modern mit unter Bertrand de Billy mit dem RSO Wien, das zuletzt öfter meine Musik für Klavier und Orchester, Polygon, gespielt hat. Ernst Kovacic wird mein Violin-Solostück Towards a Brighter Hue spielen, das er 2004 in London aufgeführt hat. Nächstes Jahr kommt etwas beim Musikprotokoll und bei den Klangspuren Schwaz neben einigen anderen Aufführungen. Ich kann nicht klagen.
“Sagen wir so, in der positivistischen Ära in den fünfziger und sechziger Jahren war man ja sehr systemgläubig.”
In deinem Eintrag in der mica-Datenbank fehlt im Moment eine von dir autorisierte “Stilbeschreibung”. Wie würdest du dich stilistisch einordnen?
Johannes Maria Staud: Ich bin ein Induktiver, entwickle ein Stück stets aus wenigen Keimzellen, die sich fortwährend gegenseitig in organischer Weise beeinflussen. Jede Entscheidung zieht Konsequenzen nach sich und lässt so nach und nach die Großform entstehen. Auf diese Weise ist man in der Lage, auf Eventualitäten während des Komponierens spontaner und kreativer reagieren zu können, weil man ja auch nicht von prästabilisierten Modellen abhängig ist. Sagen wir so, in der positivistischen Ära in den fünfziger und sechziger Jahren war man ja sehr systemgläubig. Politisch interessierten Komponisten, wie Mathias Spahlinger ist es dann entfallen, dass sie im Umgang mit Andersdenkenden – überspitzt ausgedrückt -zur Reichsmusikkammer wurden. Bei der Linken, der ich mich zurechne, störten mich Instrumentalisierungen, die dazu benutzt wurden, um ästhetisch zu legitimieren. Eine Materialhinterfragung, wie Nicolaus A. Huber sie betreibt, muss nicht automatisch ein gutes Musikstück nach sich ziehen. Ein Komponist, den ich da komplett ausnehme, ist für mich übrigens Helmut Lachenmann: einer, der sich nie anpasst, der immer einen Schritt weiter ist als die anderen. Nicolaus A. Huber, der sich als Modernen einschätzt, ist in seiner “Seifenoper” im Grunde postmodern. Diese Schallwitze mit explodierenden Luftballons, alles das, was da aus dem absurden Musiktheater der fünfziger und sechziger Jahre kommt, unterscheidet sich im Kern für mich gar nicht so sehr von Kurt Schwertsik. und ist wohl eher bemüht als lustig.
Offenheit ist für dich wichtig?
Johannes Maria Staud: Ja, absolut.Alle Einflüsse, ob aus anderen Musikrichtungen, aus anderenKunstformen, aus dem Tagesgeschehen und persönlichen Leben, alles istfür einen Komponisten wichtig – er saugt alles wie ein Schwamm auf.Aber ich bin kein Komponist der offenen Form. Bei mir ist ein Stück eingeschlossener Mikrokosmos, ein in sich stimmiges Modell ohneaufgesetzten Effekt. Es muss aus der Form entwickelt werden. Daverdanke ich meinem Lehrer Michael Jarrell sehr viel. Über mein Metierdes Komponierens sagen viele dann “expressiver Stil”. Was heißt das?Ist Expression etwas Negatives? Bergsches cantabile findet sichjedenfalls bei mir nicht. Meine Phrasierung ist anders, die Dynamik,die Akzentstruktur, die Harmonik, einfach alles. Aber was mir wichtigist: Unmittelbarkeit im Ausdruck, der aber eigentlich kalkulierter ist,als man das auf den ersten Blick glaubt. Und: Ich bin minutiös, einPräzisionsfanatiker. Ich kann nicht al fresco komponieren. Aus diesemGrund schreibe ich meine Partituren auch nicht mit Computer …
… sondern bist ein Komponist, der mit Bleistift auf einem Blatt Papier komponiert.
Johannes Maria Staud: Das heißt nicht Verzicht auf Elektronik. Ich möchte nur nicht bei der Schönschrift meinen eigenen Klischees von “copy and paste” anheimfallen.
“Unmittelbarkeit” – das heißt dein Publikum soll deine Musik verstehen?
Johannes Maria Staud: Ich schreibe nicht FÜR ein Publikum, das wäre ja falsch und unredlich.Sondern: Ich schreibe das, was ich selbst hören will. Man freut sichnatürlich sehr, wenn das einem andern auch etwas gibt und man Feedbackbekommt. Und es ist meiner Meinung nach ein gutes Zeichen, wenn mansowohl von der wirklich konservativen Seite als auch von einervermeintlichen Donaueschingen-Gralshüter-Clique attackiert wird. DieMusikkritik an sich ist ja groß geworden mit den wilden fünfziger undsechziger Jahren, Adorno, Cage, Georges Brecht . Viele heutige Kritikerhaben aber in dem Sinn veraltete Vorstellungen. Wir kennen alleLachenmann, wir kennen Fluxus, wir kennen die Antwort darauf, diepostmodernen Strömungen, die Zweite Moderne eines Brian Ferneyhoughusw. Viele Kritiker heute imaginieren die Zukunft der Musik nun imSinne einer Retromoderne wie in “Raumschiff Enterprise”, und merkendabei gar nicht, wie sie selbst dabei von der Zeit überholt wurden. Dasist sehr amüsant. Theodor W. Adorno, den ich übrigens sehr mag, war dawesentlich hellsichtiger als viele seiner heutigen Kollegen. Abernehmen wir nur die damalige Erwartungshaltung an eine Uraufführung.Unsere Haltung kann ja nicht mehr sein: wir reißen jetzt alle diePfitzners und Johann Nepomuk Davids nieder. Das können wir heute nichtmehr In dieser Hinsicht können wir und wollen wir nur enttäuschen.
Was kann man dann, als Komponist deiner Generation?
Johannes Maria Staud: E sgeht heute nicht um Provokation, sondern um Synthese. Es geht um dasEinführen von unkonventioneller Semantik, neuen, formal und harmonischstringent eingebetteten klanglichen Lösungen. Wir sind in einerkomischen Situation: Man erwartet Umstürzlerisches, man erwartetQualität, man will unterhalten werden, will provoziert werden, es solleigentlich widerständig sein, soll aber auch das Publikum ansprechen,weil man ja weg will aus dem Elfenbeinturm. Das ist eine Quadratur desKreises. Vielleicht können wir insofern etwas tun, dass die Musik imHandwerklichen und im Geistigen wieder zusammenkommt.
Dertraditionelle Formenkanon bricht aber zusammen: die Symphonie, dasKonzert. Ein Konzert ist nicht mehr zu reanimieren, das ist mausetot.Ich kann nur mehr mit der Besetzung etwas anfangen. Ich finde schon,dass es – auch sprachlich – um präzises Neuüberlegen von “Form” geht.Auch von Harmonik im Zusammenhang mit Geräuschwerten. Es ist einespannende Zeit. Man weiß ja nicht, wer ist vorne, wer hinten. Ein”Sfumato”. Komponieren heute ist spannender, denn je.
(Das Gespräch führte Heinz Rögl)