„KLARHEIT IM NEBEL“ ‒ CHRISTOPH RENHART IM MICA-INTERVIEW

CHRISTOPH RENHART ist Komponist und Kurator einer Konzertreihe für Neue Musik im Grazer Kulturzentrum bei den Minoriten. Seit 2018 lehrt er an der Kunstuniversität Graz. Mit Michael Franz Woels sprach er über den größten Lavasee der Erde, über das heiße Eisen Diatonik und über die dringende Notwendigkeit eines ästhetischen Diskurses über Schönheit in der Neuen Musik.

Auf Ihrer Website habe ich eine kleine gelbe Lego-Giraffe entdeckt. Welche Funktion hat dieser Wegbegleiter für Sie, ist das ein Maskottchen?

Christoph Renhart: Das war ein kleines Geschenk von meiner Freundin. Marketingtechnisch macht das keinen Sinn, aber ich wollte damit etwas machen und ich freue mich, wenn jemand die kurzen Geschichten liest. Ich wollte einen niederschwelligen, amüsanten Beitrag damit gestalten. Eine Website dient ja meist dazu, sich im besten Lichte zu zeigen. Eigentlich widerstrebt mir das Sich-ständig-in-Schaulage setzen. So habe ich die kleine Giraffe vorgeschoben.

Sie irritiert auf eine angenehme Art und Weise und liefert ja auch Einblicke in Gedanken eines Komponisten. Das Thema Selbstvermarktung führt mich zum Ende eines Interviews, das Sie dem Komponisten Gerhard Präsent im September letzten Jahres gegeben haben. Ich möchte daran anknüpfen und noch einmal nachhaken, warum Sie die Musizierenden im Bereich der Neuen Musik als eher konservativ im Umgang mit diversen (neuen) Medien bezeichneten.

Christoph Renhart: Die Neue-Musik-Welt verhält sich in äußerster Weise konservativ. Wir reden gerne von stilistischer Offenheit und Vielfalt, die es ja zweifelsfrei gibt. Aber was man beobachtet ist, dass die Programmierung von großen Konzerthäusern immer wieder die gleichen Namen aufweist. Ich hätte mir gerade in dieser Corona-Zeit etwas mehr Wagemut gewünscht. Neugierde, was es sonst abseits der großen, namhaften Komponierenden noch so alles an jüngeren Stimmen gibt. Im Sommer waren ja viele Leute begierig auf Konzerte, da hätte man dieses Potenzial ausnutzen können, auch für die Neue Musik. Das hat man verstreichen lassen und das war ein Fehler. Wenn es drauf ankommt, werden die großen Konzerte wieder mit ihren „Dinosauriern“ bestückt – auch große Festivals wie Wien Modern wandern mir zu sehr auf ausgetretenen Pfaden. Sie haben schon ihre Berechtigung, aber ich finde das mutlos. Und wenn ich das einmal mit einer anderen meiner Tätigkeiten vergleiche, ich arbeite auch im Bereich des Webdevelopments, dann muss ich sagen, dass man sich so eine Attitüde, so eine Grundhaltung nicht erlauben kann, wenn man auf diesem Markt reüssieren will. Man kann da nicht sagen, wir machen einfach, was Professoren von der Standford Universität vor zwanzig Jahren gemacht haben. Das ist nicht mehr modern, das kann man sich absolut nicht erlauben. Da wird kein neues Start-up daraus; man schafft kein interessantes Produkt für den Markt.

Man sieht im Bereich der Neuen Musik doch viel Epigonentum und relativ wenig Programmverantwortliche, die neue Akzente setzen können und wollen. Das Problem ist da nicht unbedingt im Finanziellen zu sehen. In Österreich kann man als Komponist zu Geld kommen, man muss es auch wirtschaftlich und unternehmerisch denkend angehen und Risiken eingehen, Förderungen nutzen, etc. Das bedingt aber auch die Konsequenz, dass man, wenn es nicht funktioniert, etwas anderes macht. In meinem Fall habe ich einen Plan B, wenn ich meinen Weg künstlerisch nicht gestalten kann. Es gibt immer Möglichkeiten, die sich auftun. Bei mir ist es die IT.

„DA WÜNSCHE ICH MIR EIN STÄRKERES BEKENNTNIS ZUR NEUEN MUSIK.“

Als Komponist ist man ja stark bemüht, Uraufführungen zu bekommen. Da werden viele Eintagsfliegen produziert, das ist zum Teil nicht nachhaltig. Die Neue Musik kann eine wichtige Stimme sein, es entstehen interessante Kunstwerke. Aber qualitätsvolles Arbeiten benötigt Zeit – auch um Dinge ausprobieren zu können. Gerade im Orchesterbetrieb ist es ein riesiges Problem, dass man vielleicht zwei Proben bekommt, um ein neues Stück auf die Bühne zu bringen. Diese Haltung ist überhaupt nicht forschend und wiederum konservativ. Da wünsche ich mir ein stärkeres Bekenntnis zur Neuen Musik, das sehe ich zurzeit nicht. Man will das, was funktioniert. Das ist bequem und nicht innovativ.

Neben Ihrer aktuellen Tätigkeit als Webentwickler sind Sie ja vor allem Pianist, Komponist und auch Kurator. Vielleicht könnten Sie kurz auf Ihre kuratorischen Erfahrungen im Kulturzentrum KULTUM in Graz eingehen.

Christoph Renhart: Das KULTUMKulturzentrum bei den Minoriten ist eine Einrichtung der Diözese Graz-Seckau und wir sind ein Mehrspartenhaus, also eine Galerie mit Literatur-, Diskurs-, Film- und eine Neue-Musik-Sparte, darüber hinaus haben wir Veranstaltungen für junges Publikum. Wir wollen neue Stilistiken zeigen, und wollen jungen Musikerinnen und Musikern ein Sprungbrett anbieten, um sich zu präsentieren. Wir arbeiten sehr eng mit Ensembles oder einzelnen Musizierenden der Kunstuniversität Graz zusammen. Wir wollen auch Netzwerke ermöglichen. Es vermischen sich auch oft unterschiedliche Publikumsteile. Wir haben zum Beispiel heuer eine Pfingstvigil mit drei Kompositionsaufträgen gestaltet. Sânziana-Cristina Dobrovicescu, eine junge Studentin der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (KUG), Antonis Rouvelas, der sein Kompositionsstudium an der KUG abgeschlossen hat, und KUG-Professor Clemens Nachtmann als älterer, schon etablierter Komponist. Die Stücke wurden vom Ensemble Airborne Extended gespielt und dann auch zur Eröffnung der neu renovierten Minoritensäle wiederaufgeführt. Der Rahmen, den uns die Kirche da bietet, ist besonders gut, weil die Neue Musik mit einem anderen Publikum in Berührung kommt.

Sie kuratieren seit 2017 für KULTUM, Zentrum für Gegenwart, Kunst und Religion in Graz?

Christoph Renhart: Ja, und wir machen auch alle zwei Jahre ein Festival. Letztes Jahr haben wir die ersten Tage der Neuen Klaviermusik Graz ins Leben gerufen. Das hat wunderbar funktioniert, an Bord waren auch viele junge Pianistinnen und Pianisten der KUG. Es gab im Rahmen des Festivals auch einen Kompositions- und einen Interpretationswettbewerb. Die Veranstaltungen war gut besucht, wurde auch vom ORF ausgestrahlt und aufgezeichnet. Wir versuchen also immer wieder punktuell, Events für eine breitere Öffentlichkeit zu machen.

Sie sind ja auch als Senior Lecturer an der KUG tätig. Welche Fächer unterrichten Sie da genau?

Christoph Renhart: Ich unterrichte musiktheoretische Fächer: Grundlagen der Musiktheorie und Formenlehre. Heuer hatte ich das erste Mal einen Kurs für professionellen Notensatz. Das wird neu angeboten. Das layout-technische Setzen am Ende mit dem Computer ist heute Standard. Im Kurs lernen die Studierenden auch, was man bei der Erstellung von Notenmaterial mit Computergrafiken beachten sollte: Was macht ein gutes Stimmenmaterial aus? Wie liest man gut Korrektur, so dass keine Fehler im Stimmenmaterial entstehen, die dann viel Probezeit kosten können?

Fallen Ihnen da bezüglich der Herangehensweise der Studierenden spezielle Aspekte auf?

Christoph Renhart: Ich beobachte, dass die Studierenden unglaublich viel Wissen hinsichtlich der Handhabung von Computerprogrammen mitbringen. Man kann auf einem ganz anderen Niveau starten als vielleicht noch vor fünfzehn Jahren. Was mir auch auffällt, ist, dass es weniger Fragen bezüglich diverser Spieltechniken gibt. Es scheint wichtiger zu werden, die schnelle Anwendbarkeit zu fokussieren ‒ das Erstellen von tadellosem Stimmenmaterial in möglichst kurzer Zeit. Und Fragen nach (Sonder-)Zeichengebungen haben meiner Ansicht nach ein bisschen an Bedeutung verloren. Das führe ich auch darauf zurück, dass die Komponierenden heute mehr mit dem Computer arbeiten. Extravagante Grafiken sind aber immer noch handschriftlich leichter zu realisieren. Das wird beim Arbeiten am Computer noch als zeitliche Hürde empfunden, weil es oft stundenlang dauern kann, ein Sonderzeichen zu erstellen. Und das schlägt sich auch kompositorisch nieder, rein von der Methodik her.

Auf Ihrer Soundcloud-Seite gibt es als Hintergrundbild noch Manuskript-Notenblätter mit einem Radiergummi-Close-Up zu sehen. Verschwindet der Radiergummi aus dem Komponierenden-Alltag?

Christoph Renhart: Man kann das nicht so generell sagen. Ich versuche als Komponist ganz bewusst die Anwendung verschiedenster Methoden, um meinen Stil weiterzuentwickeln. Weil ich weiß, dass die immer gleiche Methodik dann auch zu gleichbleibenden Ergebnissen führt. Eine neue Methode, die ich probiert habe, ist zum Beispiel das Experimentieren mit Algorithmen. Ich schreibe einen Stilgenerator, ein Computer-Programm, mit dem ich bestimmte harmonische Prozesse ausrechnen lassen kann. Man lässt sich zum Beispiel einmal eine Seite an Akkorden vom Computer erstellen und spielt das dann selber am Klavier durch und schaut, ob man Möglichkeiten findet und ableiten kann, auf die man per Hand oder durch das Improvisieren am Klavier nicht gekommen wäre. Ich kann das wie einen künstlerischen Prozess der Manuskripterstellung nutzen, um Klanglichkeiten zu entdecken, die ich weiterentwickeln möchte. Ein Kollege von mir, der Komponist Christof Ressi, hat mir erst kürzlich erzählt, dass er das Programm Reaper großartig findet, auch da es das Hineinschreiben von Notizen gut unterstützt. Es eignet sich dadurch seiner Meinung nach gut zum Skizzieren von Klangereignissen und zum Planen von Kompositionen.

„DAS SCHAFFEN EINER ERGREIFENDEN OBERFLÄCHE.“

In der mica austria Musikdatenbank haben sie bei der Stilbeschreibung sehr poetische Worte gefunden: „In meiner Musik versuche ich, ins Gestrüpp zu poetischen Fragmenten geschmiedeter Silben Pfade zu leuchten, dort entlang man den Unwägbarkeiten musikalischer Aussagen einerseits misstrauen, dem Funkelbad ästhetischen Überflusses dennoch vollends erliegen mag.“ Wie würden Sie mir heute Ihren Stil beschreiben, ihre aktuellsten Entwicklungen?

Christoph Renhart: Ich würde auf den bildenden Künstler Joan Miró verweisen. Was ich an ihm sehr schätze, ist das Schaffen einer ergreifenden Oberfläche ‒ mit vielen Mechanismen im Hintergrund, die auf den ersten Blick gar nicht so auffallen. Mir ist es genauso wichtig, einen ersten Eindruck zu hinterlassen, der einen mitnimmt. Eine Formgestaltung zu erreichen, die beim ersten Hören überzeugt und Interesse weckt, tiefer hinein schauen zu wollen. Ich möchte „ausgehörte“ Klänge; stets das Gefühl haben, dass ich sozusagen alle „Stationen eines Klanggeschehens“ abgeschätzt habe. Die formale Gestaltung muss gut durchfühlt und innerlich durchhört sein. Die Bilder „L’or de l’azur“ (1967), „Paysan catalan à la guitare“ (1924) oder „Femme et oiseau dans la nuit“ (1945) von Miró sind da ein Vorbild für mich, weil sie in der Formsprache unglaublich klar sind und überzeugende Farben bieten können. Sie laden mich aber auch ein, nachzufragen, was die einzelnen Figuren und Formen bedeuten könnten. Miró abstrahiert seine Ideen, deutet seine Figuren in emanzipierter Form an.

Musik kann in ihrer emotionalen Aussage sehr konkret sein. Von daher rührt auch mein Bestreben, mich zuvor sehr um die „großen Oberflächen“ zu kümmern. Es ist schwierig, von der konkreten Bedeutung der einzelnen Klänge auszugehen, um damit eine Erwartung zu bauen. Politische Aussagen zu treffen, kann Musik eher schlecht. Ich könnte Ihnen zum Beispiel ohne weiteres einen Aufsatz darüber schreiben, warum der italienische Komponist Luigi Nono besonders unkommunistisch war. Man kann also leicht einen falschen Kontext um eine kompositorische Absicht erzeugen. Wenn ich mich konkreter ausdrücken müsste, würde ich eine andere Kunstform wählen. Ein Text oder ein Bild können viel präziser sein, wenn es darum geht, eine klare Absicht zu transportieren. Musik kann, glaube ich, schlecht konkrete Aussagen treffen, wie: „Die Welt ist grau“ oder „Der Himmel ist blau“. In ihrer emotionalen Wirkung wiederum kann sie sehr direkt sein. Insofern bin ich ein Komponist, der sich dieser Art der Poetik und der künstlerischen Gestaltung vordergründig widmet. Im Rahmen eines Vortrages an der Universität Leipzig für ein Seminar des Komponisten Bernd Franke habe ich unlängst über „Klarheit im Nebel“, eines meiner Lieblingsthemen meine Werke betreffend, gesprochen. Das bezog sich auf kompositorische Strategien in meinen neueren Werken – vor allem in Hinblick auf die harmonische Gestaltung.

Eine Frage, die mich kompositorisch unglaublich interessiert: Wie kann ich inmitten einer klanglichen Wolke mit sehr viel Klangmaterial und auch Mikrotönen ‒ wenn ganz „dicke Akkorde“ zusammenklingen ‒ wie kann man in so einer Situation Klarheit schaffen? Wie kann man in so einer Situation kompositorisch bewirken, dass es harmonische Spannungsverläufe gibt? Wie kann ich das strategisch gestalten? Wie kann ich Harmonien durchschimmern und in ihrer „Farblichkeit“ wahrnehmbar werden lassen? Das habe ich auch auf meinem Blog angedeutet, welche Methoden ich da im Klavierzyklus „XXI Orakel der Nacht“ angewendet habe. Das heiße Eisen diatonischer Strukturen traut man sich als zeitgenössischer Komponist fast nicht mehr anzugreifen. Aber die Fragen im Kontext eines 16-stimmigen Akkordes mit Mikrotönen: Wie könnte man mit einer diatonischen Struktur im Vordergrund punktuell harmonische Fasslichkeit herstellen? Wie gestaltet man damit größere formale Abschnitte und dramaturgische Verläufe? Dieses Spannungsfeld interessiert mich kompositorisch: einerseits das Herstellen einer unheimlich komplexen Situation, auf der anderen Seite das erlebbare Strukturieren dieser Komplexität.

Das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich, das Klangforum Wien, das Hugo Wolf Quartett, das Ensemble Kontrapunkte oder das Ensemble die reihe sind nur einige der prominenten Ensembles, die sich intensiv mit Ihren Stücken auseinandergesetzt haben. Es gibt von Ihnen eine Porträt-CD, die in der ORF Edition Zeitton 2017 erschienen ist. 2020 ist das Klavierstück „XXI Orakel der Nacht“ von Ihnen auf der CD Richard Dünser „Klavierwerke“ (VMS/Zappel Music Records) veröffentlicht worden. Sind weitere CD-Veröffentlichung geplant?

Christoph Renhart: Aufnahmen dieser Art sind für Komponierende absolut wichtig, um unsere Musik zugänglich zu machen. Wir wissen, dass wir in unseren Konzerten in der Off-Abo-Szene, wenn man nicht zufällig einmal vom Wiener Konzerthaus oder dem Wiener Musikverein für ein Publikum von 500 Leuten programmiert wird, durchschnittliche mit Zuschauerzahlen zwischen fünfzig und hundert Personen rechnen können. Es ist wichtig, Konzerte dokumentarisch festzuhalten, denn in Ensemble-Stücken steckt viel Geld drin, das man auch verantwortungsvoll verwenden muss. Wir haben also einen Auftrag, Konzerte wirklich sorgfältig und auf gutem Niveau zu dokumentieren. Damit eine Chance auf Nachhaltigkeit und Wiederverwertung gegeben ist. Und dann müssen wir darauf schauen, dass diese Dokumentationen auch zugänglich werden. Vor allem, wenn sie von staatlicher Seite gefördert wurden. In einem Museum sollte man auch als Öffentlichkeit das Recht daran haben, die beste Kunst zu sehen. Es sollten doch Kunstwerke nicht einfach in einem tiefen Speicher zur Wertvermehrung eingebunkert werden. Wir als Komponierende müssen also auch Sichtbarkeit anstreben. Ich finde es zum Beispiel sehr schade, dass man das ORF-Archiv nicht durchsuchen kann, selbst von der Universität aus nicht. Ich wüsste da keinen Zugang. mica – music austria leistet in diesem Bereich ja tolle Pionierarbeit, ich suche oft in der mica austria Musikdatenbank. Letztes Jahr entstand die Dokumentation „In Spirito Mahler“ von der ÖGZM, die auch nach wie vor auf YouTube zu sehen ist. Wir konnten damit viel mehr Publikum erreichen als sonst in einem Konzert. Und für nächsten Sommer ist angedacht, das Programm der ersten Tage der Neuen Klaviermusik Graz im letzten Jahr ‒ also einen guten Teil der aufgeführten Konzerte ‒ auf CD einzuspielen. Es ist natürlich ein gewisses unternehmerisches Risiko dabei, aber ein Anliegen unsererseits, diese Konzerte verfügbar zu machen.

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„IN ÖSTERREICH WIRD WENIG ÜBER ÄSTHETIK DISKUTIERT.“

Sie sind auch Teil des Ulysses Network Projects. Dieses Projekt wurde von den Bildungsreisen von Musizierenden des 18. Jahrhundert inspiriert, die ihren Meistern in unterschiedliche Länder nachgereist sind, um sich auf ihren Wanderschaften weiterzubilden und unterschiedliche kulturelle Umfelder zu erleben. Warum sind Sie diesem Netzwerk beigetreten?

Christoph Renhart: Es werden sehr viele Calls über das Ulysses-Netzwerk veröffentlicht, bei denen ich auch immer wieder Kompositionen eingereicht habe. Ich hatte großes Glück und wurde zum [‘tactus] Festival, das auch vom Ulysses-Netzwerk mitgetragen wird, 2019 in Belgien nach Brüssel und Mons eingeladen. Ich konnte dort mit den Brussels Philharmonic in Brüsseldas Stück „A Manifesto Mill und mit dem Ensemble Musiques Nouvelles in Mons das Stück „Échos éloquents“ erarbeiten. Die Wanderschaft im Rahmen des Ulysses-Netzwerkes bietet auch einen Zugang zu anderen ästhetischen Vorstellungen. Ich finde, bei uns hier in Österreich wird wenig über Ästhetik diskutiert. Daher finde ich es interessant zu sehen, welche Stücke in anderen Ländern und Gegenden programmiert werden und wie darüber diskutiert wird. 

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Wir befinden uns in so einer Art Spieltechniken-Neobarock im Sinne einer Überladenheit verfremdeter Instrumentalklänge in vielen Werken der Neuen Musik. Bei meinen Reisen versuche ich dann, vor Ort ästhetische Fragen anzusprechen und zu diskutieren. Mein Bestreben ist es schon, aus gewissen Echokammern herauszukommen. Brian Ferneyhough spricht über eine „primitive Expression des Gruppengeists“, die er dort ortet, wo „ohne Rücksicht auf die Werke selbst“ Zustimmung oder Ablehnung artikuliert wird. Gemeint ist der Dunstkreis rund um die Darmstädter Schule. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ein gewisses ästhetisches Ideal als gegeben betrachten. Wenn jemand sehr stark davon abweicht, dann findet es oft Ablehnung. Es bewegt sich zwar schon etwas im Bereich der Computermusik mit ihren unterschiedlichen Herangehensweisen. Der ästhetische Austausch wird breiter diskutiert als innerhalb der klassischen, traditionellen Neuen Musik, so habe ich den Eindruck. Aber man sollte auch mit den sogenannten konservativen Komponierenden darüber sprechen. Denn es ist allzu leicht, rückwärtsgewandte Positionen abzutun, ohne einen Diskurs zu suchen. Ich glaube, dass ein ästhetischer Diskurs wichtig ist, und dieser nicht in einem ausreichenden Maße stattfindet. Wer traut sich denn heute noch festzulegen, was Schönheit in der Neuen Musik bedeutet? Wir sollten uns dazu bekennen, was wir als schön empfinden, und was nicht.

Welche Reisen als Komponist sind Ihnen denn noch gut in Erinnerung geblieben, waren wichtige Etappen für Sie?

Christoph Renhart: Künstlerisch sehr wichtig war für mich der Workshop INK STILL WET in Grafenegg. Er bietet die hervorragende Möglichkeit, ein eigenes Orchesterwerk selbst zu dirigieren. Ich war zwei Mal dort und habe unglaublich viel gelernt. Das Ambiente ist wirklich perfekt. Der Workshop war eingebettet in ein großartiges, nettes Orchester, in eine Atmosphäre, in der man wirklich gut lernen und seine Arbeit weiterentwickeln kann. Das Erlebnis, einmal einen Auftakt zu einem vollen Blechakkord zu geben, das sollte keine Komponistin, kein Komponist missen. Solche Erlebnisse kann man nicht am Schreibtisch haben; und auch nicht im Konzert. Dafür muss man vorne am Dirigentenpult stehen und erfahren, wie das wirkt. Das verändert künstlerisch etwas in einem: Es verleiht mir einen ganz unmittelbaren Blick auf die Kraft des Orchesters und wie ich diese Kraft steuern kann.

Sonst hat mir ein Aufenthalt in Malta sehr gefallen. Die Insel, die Art, wie die Menschen dort leben, diese Mischung aus italienischer Leichtigkeit und britischer Disziplin, die war sehr, sehr interessant. Die Insel ist sehr dicht besiedelt, es wird dort quasi alles verbaut, es gibt nur mehr ein ganz kleines Stück Wald. Vieles ist sehr kurios, und das ist etwas, das ich in meiner Musik auch suche. Dieses Obskure und Komische. Und das ist in Malta in einer gewissen Art und Weise überall vorhanden. Man kann zum Beispiel die ausgefallensten italienischen Fischsorten, exzellent zubereitet, bekommen ‒ aber dazu eine Schüssel Pommes Frites. Solche Kleinigkeiten fand ich unheimlich spannend. Das versuche ich auch in meiner Musik: Situationen und Klangverhalten zu schaffen, die irgendwie komisch sind. Das, was im Künstlerischen ungefährlich ist ‒ dieses Sinistre, komisch Obskure ‒ kann allerdings im Politischen, wie im Falle von Malta, leicht ins Mafiöse kippen.

Gibt es noch andere, unbesuchte Sehnsuchtsorte?

Christoph Renhart: Einen Ort, den ich noch sehen möchte, ist der Berg Nyiragongo, ein sehr gefährlicher Vulkan nördlich der Stadt Goma im Kongo. Zurzeit herrscht im Kongo ein Bürgerkrieg und ich werde da wohl nicht so schnell hinkommen. Dort gibt es den größten Lavasee der Erde: ein Schauspiel, diese großartige Naturgewalt aus unglaublicher Gefahr und Schönheit. Der Ort ist aber noch in anderer Hinsicht gefährlich: Im südlich davon gelegenen Kivu-See sind in den tiefen Wasserschichten Unmengen an CO2 im Wasser gebunden. Es wird befürchtet, dass sich das Gas lösen und an die Oberfläche dringen könnte. So einen ähnlichen Fall gab es in Kamerun und dabei sind einige tausend Menschen gestorben. Das ist eine unglaublich fragile Situation. Das sind Orte, die mich anziehen, die eine Faszination auf mich ausüben. Eine Faszination, die sich daraus ergibt, dass sie ästhetisch sehr interessant sind, aber zugleich furchteinflößend und unzugänglich.

„DAS KANN DIE MUSIK AM BESTEN ‒ SIE KANN VERGEHEN.“

Das führt doch auch wieder zurück zu dem schon angesprochenen Begriff der Schönheit? Sie beinhaltet und vereint ja auch oft ambivalente Elemente.

Christoph Renhart: Ich würde den guten, alten Faust, den Bund mit dem Teufel, zitieren: „Verweile doch! Du bist so schön!“ In der Schönheit sehe ich auch das Kostbare des Moments. Sobald das Ideal der Schönheit erreicht ist, weiß man aber auch genau, dass sie schon wieder vorbei ist. Es ist ein Zustand, der nur kurz erreicht werden kann. Er muss sich von allen anderen Zuständen abheben, sowohl im Großen wie auch im Kleinen betrachtet. Auf die Musik umgelegt könnte man sagen: Im Großen betrachtet ist ein Stück Musik dann schön, wenn sie uns einen Moment der Aufmerksamkeit beschert. Innerhalb eines Musikstückes kann man dann noch einmal differenzieren. Da findet man dann Momente, die man sich gleich wieder anhören mag. Sie sollen bleiben, aber sie können nicht bleiben. Denn das kann die Musik am besten, sie kann Vergehen. Es bleibt vielleicht die Erinnerung, mehr oder weniger konkret. Aber selbst in der Erinnerung müssen wir die Zeit immer wieder durchlaufen, um zu diesem Moment zu kommen. Schönheit in der Musik ist im Prinzip maßgeblich geprägt durch ihre Fragilität und Vergänglichkeit.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Michael Franz Woels

Link:
Christoph Renhart
Christoph Renhart (music austria Musikdatenbank)