Klangforum Wien: Zyklus Bruch.Punkt 22/23

Bruchpunkte meinen Bestehendes, das bricht: Aushöhlung, Ermüdung, Abnutzung und große Druckeinwirkung von außen sind oft die Gründe dafür. Bruchpunkte sind aber auch jene magischen Momente, in denen man zu neuen Punkten am Horizont aufbricht. Zwischen diesen beiden Polen gestaltet das KLANGFORUM WIEN die eigene Reise in eine neue Konzertsaison 22/23.

1922, vor hundert Jahren, wurden Hubschrauber und Tonfilm erfunden sowie die Sowjetunion gegründet. Im Folgejahr 1923 wurden Japan, China und Iran von verheerenden Erdbeben heimgesucht, erste Radiosender sind on air gegangen.
Der Konzertzyklus „Bruch.Punktdes Klangforum Wienbildet ein Scharnier zwischen diesen beiden Jahren, indem er sich zwei Jubilaren widmet und von dort ausgehend vorausweist auf künftig musikalische Perspektiven im Angesicht unserer aktuellen geschichtslosen Orientierungslosigkeit.

Mit einem Coda-Konzert zu Iannis Xenakis (*1922) und einem Auftaktkonzert zu György Ligeti (*1923) schlägt das Klangforum Wien zwei kolossale Jubiläums-Pflöcke in unser gegenwärtiges Zeitempfinden. Damals, in den Geburtsjahren von Xenakis und Ligeti, ist vieles gebrochen und zum Punkt für einen Aufbruch geworden. Der neue Zyklus des Klangforum Wien lässt sich ein auf eine Befragung der Zukunft und eine Geschichte des Neuen. (4 Uraufführungen und 3 Erstaufführungen tragen diesem Anspruch Rechnung.)

Programm

Das Konzertprogramm kommt an jedem Termin jeweils zweimal zur Aufführung:
1. Konzert: 18:00 Uhr
2. Konzert: 20:30 Uhr

Fermate

Zwischen den beiden Konzerten gesellt sich erneut die Gesprächsreihe „Fermate“ dazu, die das Publikum einlädt, innezuhalten. Im Dialog zwischen Musiker:innen, Komponist:innen und Persönlichkeiten aus Philosophie, Architektur, Religion, Literatur, Wissenschaft und Kunst entspinnen sich neue Herangehensweisen und Möglichkeiten, das Gehörte oder noch zu Hörende erlebend zu begreifen.

Das erste Gespräch am 25. Oktober bestreiten aus Anlass der Uraufführung der Meta-Oper „Amopera“ am 5. November (Festspielhaus Erl, Tirol) Jan Lauwers (Needcompany), der gerade für Proben in Wien verweilt, das neueste Ensemblemitglied Paul Beckett (Viola) und Franck Bedrossian, einer der Komponisten des ersten Konzertabends in Wien.

Bruch.Punkt – Zyklus Klangforum Wien 2022/23
Bruch.Punkt – Zyklus Klangforum Wien 2022/23

Zyklus I Mozart-Saal – Atem (25. Oktober 2022)

Klangforum Wien
Bernhard Zachhuber, Klarinette
Dirigent: Clement Power

  • Franck Bedrossian – Le lieu et la formule
  • Malin Bång – blooming brume
  • Beat Furrer – Klarinettenkonzert (EA)

Bedrossians Werk bezieht sich auf Texte aus Arthur Rimbauds Sammlung Illuminations. Die enigmatischen Worte des Dichters «Ses souffles – son corps – son jour» („Sein Atem – sein Körper – sein Tag“), welche dem Konzertabend die Überschrift leihen, führen uns in einen geräuschhaften Abgrund, aus dem Franck Bedrossians neue Klänge emporschimmern und sich schließlich die Texte Rimbauds herausschälen und wieder zu erkennen geben. Malin Bångs „blooming brume“ umwickelt uns mit einem Netz aus akustischen Erinnerungen. Eine Geräuschstruktur wird zur Folie für wichtige Erfahrungsmomente ihrer Kindheit und Herkunft: Lindgren’sche Räubersprache, Geräusche der naheliegenden Fabrik, Zitate aus Opern. Das Ensemble des Klangforum Wien freut sich im Besonderen Beat Furrers Klarinettenkonzert nach der coronabedingten Absage in der Saison 20/21 nun bei diesem Zykluskonzert zur Aufführung zu bringen.

Zyklus II Mozart-Saal – Coda Xenakis 100 (12. Dezember 2022)

Klangforum Wien
Alex Lipowski, Schlagwerk
Lukas Schiske, Schlagwerk
Björn Wilker, Schlagwerk
Dirigentin: Claire Levacher

  • Iannis Xenakis – Okho for 3 percussionists
  • Sarah Nemtsov – SACRIFICE – Suite für Ensemble (UA)
  • Michael Pelzel – Pavlopetri (EA)

Das Fundament des Coda-Konzerts zum Abschluss des Xenakis Jubiläumsjahres bildet beispielhaft ein Werk, das verdeutlicht, wie der Klangarchitekt Xenakis die Bedeutung von massiv-archaischer Klanggewalt herauszuarbeiten wusste. Michael Pelzel hat dessen 100. Geburtstag zum Anlass genommen und erweist diesen Kräften mit Pavlopetri seine Reverenz. Sarah Nemtsov erstellte auf Bitte des Ensembles eine Suite ihrer Oper „SACRIFICE“. Sie sucht durch Verdichtung, Krieg und Terror einen Klang abzutrotzen.

Zyklus III Mozart-Saal – Auftakt Ligeti 100 (13. Jänner 2023)

Klangforum Wien
Daisy Press, Sopran
Dirigentin: Elena Schwarz

  • György Ligeti – Artikulation – Video
  • György Ligeti – Kammerkonzert
  • Claude Vivier – Bouchara
  • Unsuk Chin – Xi für Ensemble und Elektronik
  • György Ligeti – Mysteries of the Macabre
  • György Ligeti – The statement – Video

Das Festprogramm zum Auftakt ins Ligeti-Jahr. Rauschhafter Gesamtklang, flirrende Mikropolyphonie, polyrhythmische Verzahnungen. György Ligeti hat das Gelände des Neuen in der Musik gewaltig erweitert. Exemplarisch steht dafür gleich zu Beginn „Artikulation“, das die Affinität von elektronischen Klängen und Sprache zwischen Affekt und Humor, Plappern und Tuscheln, Frage und Antwort untersucht. Claude Vivier, den Ligeti sehr verehrte, grüßt mit seinem Bouchara aus Usbekistan und Unsuk Chin, die nach ihrem Studium bei Ligeti fast das Komponieren aufgegeben hätte, ist mit dem koreanischen Xi als kleinste Einheit der Dinge der Urzelle auf der Spur.

Zyklus IV Mozart-Saal – Speicher(17. Februar 2023)

Klangforum Wien
Dirigent: Bas Wiegers

  • Enno Poppe – Speicher I-VI

Dem Unvorhersehbaren hörend auf der Spur. Bevor das Klangforum Wien seine Interpretation von Enno Poppes Meisterwerk in den Niederlanden zur Aufführung bringt kommt das Wiener Publikum das erste Mal seit 2014 wieder in den Genuss. Speicher ist ein Netzwerk an Ableitungen, das beim kleinsten Baustein, dem Ton, ansetzt und sich prozessual zu einem Hörerlebnis entwickelt, das einlädt im Ungeordneten das blitzend Neue zu entdecken.

Zyklus V Mozart-Saal – Fragil (13. März 2023)

Klangforum Wien
Markus Deuter, Oboe
Dirigent: Emilio Pomàrico

  • Lucia Dlugoszewski – Fire Fragile Flight for 17 instruments
  • Niccolò Castiglioni/Bearb. Emilio Pomàrico – Morceaux Lyriques für Oboe und Orchester (UA der Fassung für Ensemble)
  • Emilio Pomàrico – Konzert (Paralipomena a Caractères di N.C.), Einleitung, Metamorphosen und Coda für 24 Solisten, 2021 (UA)

«Il rumore non fa bene. Il bene non fa rumore». Der Lärm tut nicht gut, das Gute lärmt nicht, sagt Niccolò Castiglioni zu seinem Freund Emilio Pomàrico, der als Entdecker entlegener Zonen des Neuen selbst eine Entdeckung ist. Mit dem „Konzert“ hat Pomàrico in jahrelanger Arbeit ein hochkomplexes Stück den Musiker:innen des Klangforums auf den Leib geschrieben – ein Geschenk. Bezugspunkt für dieses Werk ist Niccolò Castiglionis „Caractères“. Diesem vorangestellt ist Castiglionis Oboenkonzert, eines seiner Hauptwerke. Dessen Aufführung in einer Ensemblefassung ist ein lang gehegter Wunsch von Pomàrico, dem Klangforum Wien und seinem Oboisten Markus Deuter. Am Beginn dieses Abends steht jedoch mit Lucia Dlugoszewskis „Fire Fragile Flight for 17 instruments“ eine Entdeckung aus dem Fundus des polnischen Adam Mickiewicz Instituts, mit dem das Klangforum Wien eng zusammenarbeitet.

Zyklus VI Mozart-Saal – Fluchtpunkt (11. April 2023)

Klangforum Wien
Sarah Maria Sun, Stimme
Mikael Rudolfsson, Posaune
Dirigent: Lorenz C. Aichner

  • Peter Ruzicka – STILL. Memorial für Posaune und Kammerensemble
  • Galina Ustvolskaya – Komposition Nr.1 „Dona nobis pacem”
  • Bernhard Lang – A Song for Rachela (UA)

An diesem Abend ist alles auf die Uraufführung von Bernhard Langs„A Song for Rachela“ ausgerichtet. Vor 80 Jahren wurde das jüdische Ghetto in Warschau geschliffen. Flucht war vielen nicht möglich. Die Musik musste schweigen. Bernhard Lang evoziert einen Klang der Verstummung. Dafür verarbeitet er in diesem großen Ensemblewerk ein Libretto aus dem Ringelblum-Archiv, das die Situation im Warschauer Ghetto zwischen 1939-1942 dokumentiert. In rhziomatischer Anordnung lassen die Texte durch eine Vielschichtigkeit von klanglichen Strukturen das Grauen der Zerstörung von Humanität und Empathie nach und nach erahnen. Der 3. Teil aus Peter Ruzickas Kammersinfonie „STILL“ ist ein allmähliches Erlöschen und nimmt das Ende von Bernhard Langs Werk schon voraus. Dazwischen steht ein Werk von Galina Ustvolskaya und sie als Person für den inneren Widerstand im Angesicht der Schreckensereignisse.

Zyklus VII Mozart-Saal – Himmel (5. Mai 2023)

Klangforum Wien
Institut für Elektronische Musik und Akustik Graz
Vera Fischer, MIDI-Flöte
Joonas Ahonen, Klavier
Florian Müller, MIDI-Klavier
Dirigent: Tim Anderson

  • Lisa Streich – HIMMEL for large ensemble
  • Mauricio Sotelo – De Imaginum, signorum, et idearum compositione II (EA)
  • Philippe Manoury – La partition du ciel et de l’enfer pour flute midi, piano, piano midi, ensemble et électronique

Das letzte Zyklus Konzert spannt einen sehr weiten Bogen zwischen dem Himmel hoch oben und der Hölle tief unten; dazwischen gibt es mit „De Imaginum, signorum, et idearum compositione II“ von Mauricio Sotelo eine Architektur des Hörens, die ihre direkte Inspiration aus der Lektüre des gleichnamigen, letzten Werkes von Giordano Bruno schöpft. Lisa Streich malt mit HIMMEL Farbenwelten durch Spektralakkorde, die sich verflüchtigen wie der vor der Pandemie sicher geglaubte Boden unserer Lebensrealität. Inspiriert von Sören Kierkegaard entdeckt sie den Himmel als klangliches Kontinuum vor dieser Prekarität. Philippe Manoury, einer der wichtigsten Forscher und Wegbereiter von Musik mit Live-Elektronik, erklingt in einer Zusammenarbeit mit dem IEM – Institut für Elektronische Musik und Akustik wie neu.

Uraufführungen und Erstaufführung im Zyklus Bruch.Punkt 22/23

Uraufführungen (UA)

  • Sarah Nemtsov – SACRIFICE – Suite für Ensemble UA (Zyklus I)
  • Niccolò Castiglioni/Bearb. Emilio Pomàrico – Morceaux Lyriques für Oboe und Orchester (UA der Fassung für Ensemble) (Zyklus V)
  • Emilio Pomàrico – Konzert (Paralipomena a Caractères di N.C.), Einleitung, Metamorphosen und Coda für 24 Solisten UA (Zyklus V)
  • Bernhard Lang – A Song for Rachela UA (Zyklus VI)

Erstaufführungen (EA)

  • Beat Furrer – Klarinettenkonzert EA (Zyklus I)
  • Michael Pelzel – Pavlopetri EA (Zyklus II)
  • Mauricio Sotelo – De Imaginum, signorum, et idearum compositione II EA (Zyklus VII)

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