Es war schon immer ein Traum der Menschheit, dass Musik nicht nur von Instrumenten durch MusikerInnen hervorgebracht wird, sondern Maschinen in der Lage sind, selbständig Musik zu schaffen. So waren bereits im 18. Jahrhundert Spieldosen sehr beliebt, die bekannte Melodien wiedergeben konnten und Komponisten im Rang eines Mozarts und Beethoven waren sich nicht zu schade, um für sogenannte Musikuhren Stücke zu komponieren.1 Die theoretischen Grundlagen für eine Maschine, die neben komplizierten Rechenaufgaben auch Musikstücke hätte komponieren können, wurden aber später im Jahr 1840 von Charles Babbage mit der „Analytical Machine“ gelegt. Ausgehend von dieser frühen Vision maschinellem Musikschaffens, wird in diesem Teil der Serie „KI in der Musikindustrie“ vor allem das Musikschaffen mittels Computer seit den 1980er Jahren genauer beleuchtet.
Im August 1840 hielt der Mathematiker und Erfinder Charles Babbage eine Reihe von Vorlesungen an der Universität Turin über seine jüngst entwickelte Rechenmaschine, die er „Analytical Engine“ nannte und die nicht nur einfache Rechenoperationen beherrschte, sondern ganze Gleichungssysteme lösen konnte. Im Publikum saß der junge italienische Mathematiker und Ingenieur Luigi Federico Menabrea, der später Ministerpräsident des vereinigten italienischen Königreichs werden sollte, und schrieb eine Zusammenfassung von Charles Babbages Vortrag, der im Oktober 1842 in Französisch in der Bibliothèque Universelle de Genève erschienen ist. Dieser Text wurde von Augusta Ada King-Noel, Countess of Lovelace ins Englische übersetzt und unter dem Kürzel A.A.L. im September1843 in der Zeitschrift „Scientific Memories“, die von Richard Taylor in London herausgegeben wurden, veröffentlicht.2
Ada Lovelace war die Tochter des berühmten Dichters der Romantik Lord Byron und hatte von ihren Hauslehrern eine fundierte mathematische Ausbildung erhalten. Mit 17 Jahren lernte sie Charles Babbage kennen, als dessen Mitarbeiterin sie zur Entwicklung der „Analytical Engine“ beitrug.3 Sie war also mit der Babbage’schen Rechenmaschine sehr gut vertraut und es ist wenig verwunderlich, dass sie nicht nur die Übersetzung von Menabreas Text vornahm, sondern diesen auch ausführlich kommentierte. Diese „Notes by the Translator“,4 die übrigens dreimal so lang wie der übersetzte Ausgangstext sind, enthalten nicht nur eine Erläuterung der mathematischen Grundlagen und die Funktionsweise der „Analytical Engine“, sondern auch grundsätzliche Überlegungen zu den Einsatzgebieten der Maschine: „Supposing, for instance, that the fundamental relations of pitched sounds in the science of harmony and of musical composition were susceptible of such expression and adaptations, the engine might compose elaborate and scientific pieces of music of any degree of complexity or extent.“5 Das war eine kühne Prognose, aber letztendlich sollte Lady Lovelace recht behalten, dass Maschinen selbstständig Musik komponieren können.
Es dauerte mehr als 140 Jahre,6 bis Lady Lovelaces Vision Wirklichkeit wurde. Verantwortlich dafür war eine Schreibblockade des US-amerikanischen Komponisten David Cope. 1985 erhielt er einen Auftrag zur Komposition einer Oper über das in Arizona und New Mexico lebende Volk der Navajos vom Dirigenten Fred Cohen und dem Cornell New Music Ensemble. Der erfolgreiche Komponist und Vater von vier Kindern war aber nicht in der Lage, den Auftrag durchzuführen und je näher der Abgabetermin rückte, desto schwieriger fiel es ihm, sich aufs Komponieren zu konzentrieren. In einem Interview für Live INNOVATION.ORG7 aus dem Jahr 2018 erzählt Cope, dass ihm KollegInnen von der University of Calfornia, Santa Cruz (UCSC) im Scherz geraten hätten, sich von einem Computer bei der Komposition der Oper helfen zu lassen, um die Blockade zu überwinden. Cope griff diesen Vorschlag auf, weil er schon seit den frühen 1980er Jahren das Ziel verfolgte, den Kompositionsstil von großen Komponisten wie Bach, Mozart, Beethoven oder Chopin durch ein Computerprogramm nachahmen zu lassen.8 Die Ergebnisse waren aber wenig überzeugend. Nun fütterte er seinen Apple 2E mit seinen Kompositionen, um sich bei der Erstellung der Auftragsoper helfen zu lassen. Er nannte das Programm „Experiments in Music Intelligence“, kurz EMI. EMI oder Emmy,9 wie er später sein Kompositionstool nannte, machte ihm nun Kompositionsvorschläge, die er akzeptieren oder ablehnen konnte. Jedenfalls half ihm Emmy, die Oper fertigzustellen, die am 30. November 1989 unter dem Titel „Cradle Falling“ im Camp Theater an der Richmond University ihre Welturaufführung feiern konnte.10
David Cope hat aber das Publikum nicht wissen lassen, dass ein Computerprogramm ihm bei der Komposition unter die Arme gegriffen hatte, und war erfreut, als er tags darauf die Rezensionen in der Zeitung las. Der Musikkritiker des Richmond News Leader war von der Musik berührt und lobte: „‚Cradle Falling‘ unquestionably is a modern masterpiece.“11 Dieser Erfolg spornte David Cope nunmehr an, seine Experimente in musikalischer Intelligenz fortzusetzen und zu vertiefen. Er trainierte Emmy mit Kompositionen von Johann Sebastian Bach, Wolfgang A. Mozart, Frederik Chopin, Johannes Brahms, Scott Joplin und weiteren Komponisten, damit der Algorithmus deren besonderen Stil erlernen konnte. Das Ergebnis war verblüffend. Als er einmal Emmy den Auftrag erteilte, Choräle in der Manier von Johann S. Bach zu komponieren, hatte das Programm, während er sich in der Küche ein Sandwich zurecht gemacht hatte, 5.000 Werke ausgespuckt.12 Ähnliche Erfolge erzielte er mit Klaviersonaten im Stil von Mozart oder mit Mazurken, die nach Chopin klangen.
1991 fasste Cope seine Vorgehensweise und die dabei gewonnenen Erkenntnisse im Buch „Experiments in Musical Intelligence“ zusammen und brachte bei Centaur Records zwei Jahre später die CD „Bach by Design: Computer Composed Music“ (CRC2184) heraus, auf der Werke im Stil von Johann Sebastian Bach, Johannes Brahms, Béla Bartók, Frederik Chopin, Wolfgang A. Mozart, George Gershwin, Scott Joplin und Sergej Prokofjew sowie vom Komponisten selbst zu hören sind. Da sich keine MusikerInnen fanden, um die Werke zu interpretieren, musste die Aufgabe ebenfalls der Computer zu übernehmen. 1997 folgte die CD „Classical Music Composed by Computer: Experiments in Musical Intelligence“ (CRC2329), auf der die Kompositionen im Stil von Bach, Beethoven, Chopin, Joplin, Rachmaninow, Mozart und Strawinsky von menschlichen InterpretInnen, unter anderem von seiner Frau und Pianistin Mary Jane Cope, eingespielt wurden. Es folgten auf Centaur Records 1997 noch die CDs „Virtual Mozart“ (CRC2452) mit einer Sinfonie und einem Klavierkonzert im Mozart-Stil sowie 2003 „Virtual Bach“ (CRC 2619) mit einem Klavierkonzert, einer Violoncello-Suite und einem Brandenburgischen Konzert nach Johann S. Bach.
2004 beschloss David Cope die „Experiments in Music Intelligence“ nach rund 11.000 Kompositionen im Stil verstorbener Komponisten zu beenden und ein neues Kapitel in der Algorithmen-basierten Musik aufzuschlagen. Sein neues Kompositionsgramm mit dem Namen „Emily Howell“ sollte nicht nur existierende Musikwerke nachahmen, sondern neue, originäre Werke schaffen, indem der Algorithmus über eine Schnittstelle Feedback von den ZuhörerInnen verarbeiten und mithilfe einer riesigen Datenbank, die noch von Emmy stammte, komponierten konnte. 2009 erschien bei Centaur Records das erste Album von Emily Howell mit dem Titel „From Darkness, Light“ (CRC3023). Obwohl diese Werke nicht mehr nach dem Top-Down-Ansatz von bestehenden Kompositionen abgeleitet sind, sondern durch einen lernenden Algorithmus erzeugt wurden, ging Cope nicht so weit zu behaupten, dass Emily Howell eine Komponistin wäre, sondern lediglich ein Werkzeug, mit dem neuartige Kompositionen geschaffen werden können, wie er im oben bereits zitierten Interview mehrfach betonte.13 Dennoch sind Copes „Experiments in Music Intelligence“ die ersten Versuche eines KI-generierten Musikschaffens, das originäre Musikwerke hervorbrachte.
Peter Tschmuck
Dieser Artikel erschien erstmal am 4. März 2024 auf der Seite https://musikwirtschaftsforschung.wordpress.com/2024/03/04/ki-in-der-musikindustrie-teil-8-maschinen-schaffen-musik/
Teil 1: Was ist künstliche Intelligenz?
Teil 2: Wie funktioniert künstliche Intelligenz?
Teil 3: Der Aufstieg von Musikerkennungsdiensten
Teil 4: KI in der Musikerkennung und Musikempfehlung
Teil 5: Die Musikempfehlung im Musikstreaming
Teil 6: Fake-Streams und Streamingfarmen
Teil 7: KI in der Musikproduktion
Peter Tschmuck ist Professor am Institut für Popularmusik (ipop) der mdw.
Endnoten
- Siehe dazu Ludwig Misch, 1960, „Zur Entstehungsgeschichte von Mozarts und Beethovens Kompositionen für die Spieluhr“, Die Musikforschung, 13. Jg., Heft 3, S. 317-323, Zugriff am 27.02.2024. ↩︎
- Wikisource, „Sketch of the Analytical Engine invented by Charles Babbage Esq. By L. F. Menabrea, of Turin, Officer of the Military Engineers“ translated by Augusta Ada Lovelace. Article XXIX in Scientific Memoirs, selected from the Transactions of Foreign Academies of Science and Learned Societies, edited by Richard Taylor, Volume 3, London: Printed by Richard and John Taylor, Red Lion Court, Fleet Street, S. 666-690. ↩︎
- Zur Biografie von Ada Lovelace siehe Doris L. Moore, 1977, Ada Countess of Lovelace. Byron’s Legitimate Daughter. London: John Murray. ↩︎
- Wikisource, „Notes by the Translator“ zu „Sketch of the Analytical Engine invented by Charles Babbage Esq. By L. F. Menabrea, of Turin, Officer of the Military Engineers“ translated by Augusta Ada Lovelace, Article XXIX in Scientific Memoirs, selected from the Transactions of Foreign Academies of Science and Learned Societies, edited by Richard Taylor, Volume 3, London: Printed by Richard and John Taylor, Red Lion Court, Fleet Street, S. 691-731. ↩︎
- Ibid., S. 694. ↩︎
- Um genau zu sein, wurde das erste von einem Computer komponierte Musikstück bereits 1957 geschaffen. Lejaren Hiller und Leonard Isaacson, beide Professoren von der University of Illinois at Urbana-Champaign, haben 1957 eine Großrechenanlage, die Illinois Automatic Computer I (ILLIAC I) so programmiert, dass sie selbständig ein Streichquartett, die Illiac Suite, hervorbrachte. Allerdings kann in diesem Zusammenhang noch nicht von künstlicher Intelligenz gesprochen werden, weil der Computer sämtliche Vorgaben von den Programmierern bekam und nur das ausführte, was vorgeben war. Siehe: Lejaren A. Hiller und Leonard M. Isaacson, 1959, Experimental Music: Composition with an Electronic Computer, 2. Auflage, New York: McGraw-Hill, S. 5-7. ↩︎
- Live Innovation.org, „David Cope: A Lifetime Contribution to Artificial Intelligence and Music“, 19. November 2018, Zugriff am 12.09.2023. ↩︎
- In seinem Buch „Computers and Musical Style“ aus dem Jahr 1991, zitiert der Komponist eine Tagebucheintragung aus dem Jahr 1981: „I envision a time in which new works will be convincingly composed in the styles of composers long dead. These will be commonplace and, while never as good as the originals, they will be exciting, entertaining, and interesting. Musicians and non-musicians alike will interact with programs that allow them to endlessly tinker with the styles of the composing programs“, S. xiii. ↩︎
- Später verwendete David Cope statt EMI das Kürzel Emmy, um eine Verwechslung mit der gleichnamigen britischen Plattenfirma zu vermeiden. Siehe: David Cope & Douglas Hofstadter, 2001, Virtual Music. Computer Synthesis of Musical Style, Cambridge, Mass.: MIT Press, S. 33. ↩︎
- Das Konzertprogramm ist im Repository der University of Richmond abrufbar: https://scholarship.richmond.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1924&context=all-music-programs, Zugriff am 12.09.2023. ↩︎
- Die Konzertkritik vom 1. Dezember 1989 im Richmond New Leader kann auf der Webpage von David Cope an der University of California, Santa Cruz nachgelesen werden: http://artsites.ucsc.edu/faculty//cope/cradle.htm, Zugriff am 12.09.2023. ↩︎
- The Guardian, „David Cope: ‚You pushed the button and out came hundreds and thousands of sonatas’“, 11. Juli 2010, Zugriff am 12.09.2023. ↩︎
- Live Innovation.org, „David Cope: A Lifetime Contribution to Artificial Intelligence and Music“, 19. November 2018, Zugriff am 12.09.2023. ↩︎