Spotify war eines der ersten Streamingdienste, der mit KI-Technologie erfolgreich NutzerInnen von seinem Angebot überzeugen konnte. Spotify musste sich aber auch den Vorwurf gefallen lassen, KI missbräuchlich für die Erstellung von Fake-KünstlerInnen eingesetzt zu haben, um mehr vom Streamingkuchen zu bekommen. Der Missbrauch von KI zur Manipulation von Musikstreams ist die Schattenseite der KI-Revolution im Musikstreaming und führte sogar zu staatsanwaltlichen Untersuchungen gegen den Musikstreamingdienst Tidal in Norwegen. Auch wenn dieses Verfahren letztendlich eingestellt wurde, macht es doch auf den zunehmenden Einfluss von KI-generierten Inhalten, die über illegale Streamingfarmen in Dauerschleife abgespielt werden, aufmerksam, die wiederum nur durch KI-Tools der Betrugsbekämpfung aufgedeckt werden können. Wir erleben daher einen regelrechten Krieg zwischen StreamingbetrügerInnen und BetrugsbekämpferInnen, der mit einer Aufrüstung von KI-Technologien einhergeht. Das ist nun Thema im sechsten Teil der Serie „KI in der Musikindustrie“.
KI in der Musikindustrie – Teil 6: Fake-Streams und Streamingfarmen
Im Sommer 2016 wurden gegenüber Spotify der Vorwurf erhoben, dass der Streamingdienst Accounts für Fake-KünstlerInnen angelegt haben soll, deren Musik millionenfach gestreamt wurde, um einen Anteil am Streamingkuchen zu erhalten.1 Das Branchenportal Music Business Worldwide hat im Juli 2017 insgesamt 50 KünstlerInnen-Profile auf Spotify identifiziert, hinter denen trotz intensiver Recherche keine realen Personen standen.2 Innerhalb von zwei Jahren haben diese „KünstlerInnen“ 2,85 Milliarden Streams generiert, die einen Gegenwert von US $11,4 Millionen darstellten.3 Spotify hat stets die Betrugsvorwürfe zurückgewiesen, musste sich aber verpflichten, gegen Betrug auf seiner Plattform rigoros vorzugehen. Dazu hat Spotify 2023 gemeinsam mit anderen Musik-Providern wie Amazon Music, Believe, DistroKid, CD-Baby und Downtown die Music Fights Fraud Alliance ins Leben gerufen, deren Mitglieder sich verpflichtet haben, jede Art von Betrug auf ihren Plattformen aufzuspüren, zu verhindern oder zumindest zurückzudrängen.4
Aufsehen erregt hat der Fall von Tidal. Der Streamingdienst ist das Ergebnis der Übernahme eines 59 Prozentanteils um US $56 Millionen durch Black Panther, dem Firmenkonglomerat des US-Rappers Jay-Z.5 Im Januar 2017 erhielten Redakteure der norwegischen Wirtschaftszeitung Dagens Næringsliv ein Paket und staunten nicht schlecht über den Inhalt. Es handelte sich um eine Festplatte, auf der brisante, interne Daten von Tidal gespeichert waren. Milliarden von Datenzeilen mit gestreamten Song-Titeln, Streamingzeiten, UserInnen-IDs und Länder-Codes konnten ausgelesen und analysiert werden. Besonders die Streamingzahlen zweier Alben fielen ins Auge: „The Life of Pablo“ von Kanye West und „Lemonade“ von Jay-Zs Gattin Beyoncé, die in kürzester Zeit hunderte Millionen Streams auf Tidal generieren konnten. Die Redakteure recherchierten nach und fanden heraus, dass registrierte NutzerInnen, ging es nach den Daten auf der Festplatte, mitten in der Nacht hunderte Male die genannten Alben gestreamt hätten. Auf Nachfrage verneinten die Betroffenen den nächtlichen Musikkonsum, was den Verdacht erhärtete, dass die Streams manipuliert worden waren.6 Die Zeitung gab Anfang 2018 ein forensisches Gutachten bei der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie (NTNU) in Trondheim in Auftrag, um den Verdacht zu erhärten. Das Gutachten, das im April 2018 veröffentlicht wurde, war eindeutig und kam zum Schluss: „We have through advanced statistical analysis determined that there has in fact been a manipulation of the data at particular times. The manipulation appears targeted towards a very specific set of track IDs, related to two distinct albums. It is difficult to determine the exact cause and means of the manipulation, but it is likely that several methods were used. The manipulation looks to have become more sophisticated during the period for which we have data.“7 Zwar konnten die WissenschafterInnen eine Attacke von außen auf das Tidal-System nicht ausschließen, hielten dieses Szenario aber für unwahrscheinlich.8
Daraufhin brachten die norwegische Leistungsschutzgesellschaft Tono, die Interessenvertretung für MusikerInnen GramArt, der Indie-Labelverband Fono und die KünstlerInnen-Gewerkschaft Creo Klage gegen Tidal in Norwegen wegen Manipulation von Streamingzahlen ein. Im Herbst 2018 nahm die norwegische Behörde zur Verfolgung von Wirtschafts- und Umweltkriminalität, Økokrim, Untersuchungen gegen Tidal auf,9 die sich wegen juristischer Schachzüge von Tidal und der COVID-19-Pandemie verzögerten. Erst im Mai 2020 – also mehr als zwei Jahre nach den ersten Anschuldigungen – konnte die Behörde bei Tidal Hausdurchsuchungen durchführen.10 Trotzdem zogen weitere drei Jahre ohne konkrete Untersuchungsergebnisse ins Land. Überraschend und wenig beachtet von der medialen Öffentlichkeit gab die Økokrim am 27. Juni 2023 in einer Pressemitteilung bekannt, dass die Untersuchungen gegen Tidal eingestellt worden sind. Die Beweislage wäre, so die leitende Beamtin, nicht ausreichend, um den Fall vor ein norwegisches Gericht zu bringen.11 Auch wenn der Fall zugunsten von Tidal eingestellt worden ist, kann der Verdacht auf manipulative Streamingaktivitäten nicht gänzlich ausgeräumt werden.
Das Streamingmuster, dass die WissenschafterInnen der NTNU festgestellt haben, entspricht in etwa dem, was Streamingfarmen verursachen. Es handelt sich dabei um zusammen geschaltene Bots, die in Dauerschleife Musiktracks streamen, die über digitale Musikvertriebe auf die Streamingplattformen gestellt wurden.12 Erstmals hat 2013 der australische Cyber-Sicherheitsexperte Peter Fillmore mit einem Experiment auf die Betrugsproblematik mit Fake-Streams aufmerksam gemacht. Er lud mit relativ geringem, technischen Aufwand notdürftig zusammengebastelte Songs von einem Fake-Künstler namens John Matrix auf den Streamingdienst rdio, die in Endlosschleife abgespielt wurden und so eine Million Streams innerhalb von sechs Monaten generierten, was einem Gegenwert von rund US $1.000 entsprach. Erst dann erkannte rdio die betrügerischen Streams und nahm das Album aus dem Angebot.13
Das immer noch vorherrschende Pro-Rata-Abrechnungsmodell der Streamingdienste begünstigt diese Form des Betrugs. Alle Streams in einer Periode werden gepoolt und die Ertragsanteile werden nach Marktanteil an die RechteinhaberInnen ausgeschüttet. Dadurch wird der Umsatzkuchen zwar nicht vergrößert, aber ein Teil davon fließt in die Taschen von BetrügerInnen. Um ihrer Kritik an diesem Abrechnungsmodell Nachdruck zu verleihen, hat die US-Funk-Band Vulfpeck im März 2014 das Album „Sleepify“ auf Spotify veröffentlicht, das ausschließlich aus 31-sekündigen Tracks bestand, auf denen nichts zu hören war. Sie riefen ihre Fans auf, das Album in Dauerschleife zu streamen und konnten auf diese Weise US $20.000 einnehmen, bis Spotify nach einem Monat dem Treiben ein Ende setzte. Mit den Einnahmen finanzierte Vulfpeck die Sleepify-Konzerttournee, die für die Fans gratis zugänglich war.14
Die aufsehenerregende Aktion von Vulfpeck hat aber nicht zur Änderung des Abrechnungsmodells geführt, wodurch es Streamingfarmen weiterhin möglich war, die Musikstreamingdienste mit Fake-Songs zu fluten, um ein Stück vom Umsatzkuchen zu erhalten. Mittlerweile bieten Streamingfarmen ihre „Dienstleistungen“ ganz offiziell im Internet an, damit Labels oder KünstlerInnen mit Fake-Streams ihr Einkommen aufbessern können.15 Das ist natürlich illegal, aber die Manipulationen sind nur schwer festzustellen.
An dieser Stelle kommt nun die KI ins Spiel. So können mittels KI erstellte Musiktracks über digitale Vertriebe in die Streamingportale eingestellt werden, die dann von Streamingfarmen millionenfach gestreamt werden, um Tantiemenzahlungen von den Streamingportalen abzuzweigen. Besonders die Möglichkeit, mit KI-Stimmen-Klone von Superstars zu erstellen, leistet dieser Form des Streamingbetrugs Vorschub. Eine Studie des französischen Centre National de la Musique bezifferte 2021 den Anteil betrügerischer Streams auf 1 bis 3 Prozent des gesamten Streamingaufkommens allein in Frankreich.16 Der französische Streamingdienst Deezer hat zudem erhoben, dass 2022 rund 7 Prozent aller Streams auf seiner Plattform betrügerisch sind.17 Auf Basis dieser Zahlen schätzte das Billboard Magazin den Schaden, der durch betrügerische Musiktracks 2022 weltweit entstanden ist, auf mehr als US $1 Milliarde.18
KI kommt aber auch bei der Betrugsbekämpfung zum Einsatz. So führte der CEO von Deezer, Jeronimo Folgueira, in einem Interview aus, dass täglich mehr als 100.000 Tracks auf die Streamingplattform hochgeladen werden und nur künstliche Intelligenz in der Lage ist, manipulierte Streams zu detektieren. Dazu setzt Deezer seit 2023 die Radar-Technologie ein. Damit können ganze Musikkataloge auf korrumpierte Tracks gescannt und unübliche Streamingmuster erkannt werden.19 So tobt mittlerweile ein regelrechter Krieg zwischen Streaming-BetrügerInnen und BetrugsbekämpferInnen, wobei sich beide Seiten mit KI-Technologie hochrüsten.
Die verstärkte Betrugsbekämpfung, zu der sich die digitalen Musik-Provider selbst verpflichtet haben, hat Anfang Mai 2023 dazu geführt, dass das in Kalifornien ansässige KI-Musikkreationsportal Boomy von Spotify wegen des Verdachts der Erstellung und Verbreitung betrügerische Musiktracks gesperrt wurde.20 Boomy wies sämtliche Vorwürfe zurück, selbst illegale Handlungen gesetzt zu haben hat und verurteilte jede Form von Manipulation und Betrugsabsichten seiner NutzerInnen.21 Der digitale Musikvertrieb DashGo,22 den Boomy nutzt, um die Songs auf die Streamingplattformen zu laden, hat von sich aus untersucht, ob betrügerische Tracks hochgeladen wurden und hat diese nach eigenen Angaben gesperrt.23 Gleichzeitig suchen die Musik-Majors die Zusammenarbeit mit Boomy, das ab November 2023 eine Vertriebsvereinbarung mit der Alternative Distribution Alliance (ADA) der Warner Music Group für einige seiner Top-KünstlerInnen, die mit KI arbeiten, geschlossen hat.24 Das weist auf das ambivalente Verhältnis der phonografischen Industrie zu den KI-Musikunternehmen hin, auf das noch in einer späteren Folge der Serie genauer eingegangen wird.
Peter Tschmuck
Dieser Artikel erschien erstmal am 19. Feber 2024 auf der Seite https://musikwirtschaftsforschung.wordpress.com/2024/02/19/ki-in-der-musikindustrie-teil-6-fake-streams-und-streamingfarmen/
Teil 1: Was ist künstliche Intelligenz?
Teil 2: Wie funktioniert künstliche Intelligenz?
Teil 3: Der Aufstieg von Musikerkennungsdiensten
Teil 4: KI in der Musikerkennung und Musikempfehlung
Teil 5: Die Musikempfehlung im Musikstreaming
Teil 7: KI in der Musikproduktion
Peter Tschmuck ist Professor am Institut für Popularmusik (ipop) der mdw.
Endnoten
- Music Business Worldwide, „Spotify is making its own records… and putting them on playlists“, 31. August 2016, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Music Business Worldwide, „Spotify denies it’s playlisting fake artists. So why are all these fake artists on its playlists?“, 9. Juli 2017, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Rolling Stone, „‚Fake Artists‘ Have Billions of Streams on Spotify. Is Sony Now Playing the Service at Its Own Game?“, 15. Mai 2019, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Siehe dazu: Music Fights Fraud Alliance, https://www.musicfightsfraud.com/, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Billboard, „Jay Z’s Bid for Swedish Streaming Company Reportedly Accepted“, 11. März 2015, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Dagens Næringsliv, „Project Panther“, 20. Januar 2017, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Norwegian University of Science and Technology (NTNU), Digital Forensics Report for Dagens Næringsliv, 10. April 2018, S. 54. ↩︎
- Ibid. ↩︎
- Music Business Worldwide, „TIDAL ‚fake streams‘: Criminal investigation underway over potential data fraud in Norway“, 14. Januar 2019, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Music Business Worldwide, „TIDAL now officially a suspect in Norwegian data fraud investigation“, 10. Juni 2020, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Økokrim Pressemitteilung, „Charges dropped in Tidal case“, 27. Juni 2023, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Hypebot, „Are music streaming farms really that bad? Take a closer look…“, 28. Juli 2022, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Futurezone, „Wie mit schlechter Musik viel Geld verdient werden kann“, 29. März 2016, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Billboard, „Vulfpeck’s Half-Joke ‚Silent Album‘ Made Some Serious Cash“, 22. Juli 2014, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Qonzertapp-Blog, „Streaming Farms: How Big Artists and Labels Fake Their Streaming Numbers“, o.D., Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Centre national de la musique, 2021, „Manipulation des écoutes en ligne“, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Billboard, „Why Can’t Music Fix Its Fake Streams Problem?“, 5. April 2023, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Ibid. ↩︎
- Music Business Worldwide, „As AI-made music explodes, Deezer lays out strategy to identify AI tracks and ‚weed out illegal and fraudulent content‘ on its platform“, 6. Juni 2023, Zugriff am 29.01.2024. ↩︎
- Music Business Worldwide, „The Boomy/Spotify streaming fraud debacle proves ‚pro-rata‘ must go – urgently“, 4. Mai 2023, Zugriff am 25.09.2023. ↩︎
- Music Business Worldwide, „AI music app Boomy has created 14.4m tracks to date. Spotify just deleted a bunch of its uploads after detecting ’stream manipulation’“, 3. Mai 2023, Zugriff am 25.09.2023. ↩︎
- DashGo gehört dem Musikrechteverwerter Downtown, der ein Mitbegründer der Music Fights Fraud Alliance ist. ↩︎
- Ibid. ↩︎
- Music Business Worldwide, „Warner’s ADA to distribute select artists‘ music from generative AI platform Boomy in ‚first-of-its-kind deal’“, 29. November 2023, Zugriff am 30.11.2023. ↩︎