KAREEM im mica-Portrait: Eine ganz neue Welt

Vor der Veröffentlichung seiner neuen Single “On To You” hat sich Tonica Hunter mit dem Singer-Songwriter KAREEM ADETORO-IPAYE zusammengesetzt, um über seinen bisherigen musikalischen Weg, seine künstlerischen Inspirationen und darüber, warum (Welt-)Schaffen für eine Künstlerin bzw. einen Künstler in der heutigen Welt so wichtig ist, zu sprechen.

Er liefert uns nicht nur erbauliche, melodische Dance-Tracks, sondern fordert uns gleichzeitig auf, Männlichkeit zu überdenken und das Patriarchat in der Musikindustrie zu überwinden, ganz zu schweigen davon, dass er emotionale Verletzlichkeit als kreative Stärke präsentiert. Kareem Adetoro-Ipaye ist einer der Künstler, die man im Auge behalten sollte, da er mit seiner neuesten Veröffentlichung die österreichische Pop- und Dance-Szene betritt und genau die frische Energie mitbringt, die sie braucht.

Kareem Adetoro-Ipaye ist ein Multitalent, das nicht wirklich wie jeder andere Künstler in Wien ist. Ja, er singt, gefühlvoll, mit Leichtigkeit und fröhlicher Energie, aber er ist auch ein überwiegend autodidaktischer Tänzer, der auch Ballett- und Hip-Hop-Tanzunterricht nahm. Er entwirft nicht nur manchmal eigene Choreografien für seine Arbeiten, sondern schreibt auch Songs – und das ist nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was dieser Künstler zu bieten hat: eine ganze Menge.

Bei der Frage nach seinen musikalischen Inspirationen denkt Kareem in großen Dimensionen: Zu den genannten Einflüssen gehört nicht nur Lady Gaga, sondern auch das belgische Hip-Hop/Elektronik-Wunder Stromae.

Wir verbringen viel Zeit damit, uns angeregt über Stromae zu unterhalten – sein künstlerisches Schaffen, sein Spiel mit Geschlechterrollen, sein Hinterfragen von Internet-Ruhm, seine verspielten Videos und seine scharfen sozialen Kommentare. Offenbar teilen wir die Leidenschaft für seine Videos und sein meisterhaftes Wortspiel – sogar sein Künstlername bedeutet „Maestro“ und ist im französischen „Verlan“ gebildet, das die Silben als Sprache des Widerstands zu „Stromae“ verdreht. Einer von Stromaes berühmtesten Hits, „Tous les mêmes“, beschimpft Männer als „alle gleich“ (Übersetzung) – eine Kritik, die damals – 2013 – den Mainstream-Gesprächen in der Musikindustrie über die Gefahren patriarchaler Männlichkeit weit voraus war – und eine der wenigen Kritiken dieser Art, die von einem Mann vorgetragen wurde.

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Die Parallelen zwischen Stromae und Kareem sind nicht zu übersehen. Beide haben einen frankophonen Hintergrund, sind aber auch im weiteren Sinne mehrsprachige Männer afrikanischer Abstammung, die in einer europäischen Metropole geboren wurden. Beide sind Künstler, die sich Welten und Räume schaffen, so wie sie sind, in ihrer Gesamtheit und vor allem kompromisslos. Sie stützen sich nicht auf traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit oder Musik und beschränken sich auch nicht auf diese Disziplin, sondern schaffen Welten, in denen sie in verschiedene Dimensionen vordringen – sie versuchen, eine Zeit und einen Raum jenseits unserer Gegenwart zu projizieren. Dazu sagt Kareem: „Diese Welt, die ich erschaffe, ist mehr ein Gefühl als ein physischer Raum. Ich bin damit aufgewachsen, dass ich mich unverstanden fühlte – ich fühlte mich wie ein Außenseiter. Dadurch habe ich erkannt und akzeptiert, dass ich anders bin, und Musik hat sich immer gut angefühlt. In diesem Raum kann mich niemand verurteilen.“ Das erinnert zweifellos an die Afrofuturismus-Bewegung und die Notwendigkeit, dass Schwarze Subjekte in ihrem Kunstbereich Räume der Befreiung und des Ausdrucks schaffen – von der Science-Fiction-Literatur bis zur Musik, so wie Kareem es tut.

Kareem Adetoro-Ipaye (c) Ina Aydogan

Ich frage ihn, warum dies ein zentraler Bestandteil seiner Praxis ist, und seine Antwort lässt mich sofort wissen, dass es sich um einen von Natur aus altruistischen Akt handelt – sein Wunsch, eine Welt zu schaffen, besteht darin, andere daran teilhaben zu lassen oder ihre eigenen Räume des künstlerischen Ausdrucks zu schaffen. Die Einladung in Kareems Welt wird in einem 60-sekündigen Einführungs-Trailer wunderbar eingefangen: „Ich möchte einen Raum schaffen, in dem man sich sicher und selbstbewusst fühlen kann“, während seine Silhouette den Bildschirm einnimmt und sich zwischen der roten Beleuchtung bewegt. Er kann gut mit Worten umgehen, denn er hat auch den Text für den Einführungstrailer selbst geschrieben und wendet sich ohne zu zögern direkt mit seinen innersten Gefühlen an das Publikum. Es ist fesselnd und energiegeladen – eine reine Erweiterung des Künstlers, der sogar auf seinen Social-Media-Konten seine Vitalität demonstriert. Während er sich zwischen den Szenen in einem verlassenen Gebäude mitten in Wien bewegt, ist es klar, dass Kareem in einer ihm vertrauten Heimatstadt eine ganz neue Welt erschafft. Es ist, als würde man der Geburt eines Künstlers beiwohnen, der aus seiner eigenen Schöpfung hervorgeht, aber auch ein Teil davon ist.

Und das ist wichtig, denn Kareem widersetzt sich nicht nur dem, was auf patriarchale Männlichkeit projiziert wird, sondern auch dem, was auf schwarze Männer projiziert wird. Seine Erscheinung: äußerlich stark, groß und körperlich markant, aber er ist auch ein Mensch, dessen verkörperte Sanftheit und Fluidität, Offenheit für Gefühle und liebevolle Güte gegenüber anderen schwer zu übersehen sind. Als er das letzte Mal bei der Eröffnung des Hotel Motto Vienna im Jahr 2021 auftrat, war es eine große Feier, bei der er den Gästen ein Ständchen brachte. Dort, abseits der Bühne, war es offensichtlich, dass Kareem die letzte Person ist, die viel Raum einnimmt – seine Schüchternheit hat einen gewissen Charme, und es ist wunderbar, ihm dabei zuzusehen, wie er zum Leben erwacht, so wie an diesem Abend.

Seit etwas mehr als zwei Jahren arbeitet Kareem mit dem österreichischen Produzenten Phil Speiser zusammen. Die beiden trafen sich zufällig auf dem Vienna Life Ball, einer AIDS-Wohltätigkeitsveranstaltung, „wo ich mich in den VIP-Bereich geschlichen habe“, lacht Kareem. Ein paar Wochen und einige Telefonate später stand Kareem wieder vor Phil, diesmal bei einer spontanen Live Audition in einer Bar. Und einige Zeit danach lud Phil ihn zu Aufnahmen in seinem Studio ein. Das Duo hat, so Kareem, seitdem eine Freundschaft und Verbindung entwickelt, die sich gegenseitig immer wieder motiviert und inspiriert. Gemeinsam arbeiten sie derzeit an Kareems EP „In Case We Meet“, die für diesen Sommer erwartet wird. „On To You“ – ein lyrisch verletzlicher und doch starker Song mit balladesker Energie und doch ein bouncender Dance-Track – ist der erste Track, der am 4. Februar 2022 veröffentlicht wird.

Aber diese Zeit im letzten Jahr war nicht die einfachste für Kareem, der, wie viele Musikerinnen und Musiker, zwischen seinem Lebensunterhalt und dem Leben mit der Musik hin- und hergerissen war. Zwischen seinen Leidenschaften Songschreiben, Singen und Aufnehmen in Phils Studio, arbeitete Kareem auch in Teilzeit irgendwo, wo er die Arbeit machen konnte, aber sein Herz blieb immer bei der Musik. In Österreich, wo nur wenige Künstlerinnen und Künstler ins Licht der Öffentlichkeit treten und dort bleiben oder Anerkennung und Preise erhalten, und wo noch weniger von ihnen, wenn überhaupt, BIPOC (Black, Indigenous and People of Colour) sind, ist es nicht einfach, allein von der Musik zu leben, es sei denn, man hat das Privileg, über das finanzielle und/oder soziale Kapital zu verfügen, das einem hilft.

Kareem Adetoro-Ipaye (c) Ina Aydogan

Als mehrsprachiger, aufgeschlossener Künstler, der gerne Leute trifft und reist, hat Kareem die Aufmerksamkeit von Labels außerhalb Österreichs auf sich gezogen. Letzten Sommer unterschrieb er bei Wagram Music – einer unabhängigen Plattenfirma mit Sitz in Paris und Büros in Berlin und Los Angeles. Das hat ihm die Möglichkeit eröffnet, eine internationale Fangemeinde zu gewinnen und in jeder seiner gesprochenen Sprachen zu singen und zu produzieren: Französisch, Englisch, Deutsch, Yoruba, wenn er will. Das war, zeitlich gesehen, der positive Schub, den er brauchte, um den nächsten Schritt seiner musikalischen Karriere zu realisieren – mit einem Label im Rücken und mit einem neuen Sound und einer neuen Energie.

Musikalisch ist „On To You“ auch eine neue Richtung für Kareem – gewagt poppig und tanzbar – es unterscheidet sich von seinen früheren Tagen des deutschen Afrobeat mit Tracks wie „Focus“. Dies scheint eher dem zu entsprechen, was er als Musiker veröffentlichen möchte, als dem, was von ihm als Schwarzer und Musiker erwartet wird. Musikgenres und das, was musikalisch oder stilistisch/imagemäßig stereotyp „schwarz“ ist, ist ein großes Thema und oft ein wunder Punkt für viele schwarze Künstlerinnen und Künstler, die mit den Erwartungen an sie brechen, typisch „schwarze“ Genres wie Hip Hop, R’n‘B, Soul zu produzieren. Dies ist eine Projektion, die für diverse schwarze Künstlerinnen und Künstler schwer zu erfüllen ist und die unsinnig ist, wenn man bedenkt, dass die meisten Genres von Rock über Pop bis hin zu Techno entweder von der schwarzen Kultur und Geschichte initiiert, beeinflusst oder inspiriert wurden. Indem er sich von der Last der Erwartungen befreit, ist Kareem wirklich ein einzigartiger Künstler, der das tut, was er tun will, und nicht das, was ihm aufgezwungen wird. Es spricht Bände für seine emotionale Reife und seine Bereitschaft, sich in vielen anderen Bereichen wie Tanz, Mode und Ästhetik zu beweisen. Es ist kein Wunder, dass diejenigen, die er als seine Inspiration anführt, all diese Disziplinen so nahtlos miteinander verbinden.

Kareem Adetoro-Ipaye bringt etwas Neues und Spannendes in die österreichische Musikszene. Sein persönlicher und künstlerischer Antrieb ist dabei die treibende Kraft, die es wagt, über begrenzte und einschränkende Vorstellungen von Geschlecht und Disziplinen hinauszugehen, und dies mit einer sanften und doch starken Intention. Er hat die Fähigkeit, ein breites Publikum anzusprechen, indem er die Genres Pop und Dance kreuzt und sein Publikum in eine Welt entführt, von der jede Künstlerin und jeder Künstler träumt und die, wenn wir ehrlich sind, für schwarze Künstlerinnen und Künstler weniger leicht zugänglich ist: ein Raum, in dem man frei kreieren und letztlich frei sein kann.

Tonica Hunter

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