Kanonbildung der Moderne – HUDDERSFIELD CONTEMPORARY MUSIC FESTIVAL

Ende November ging das HUDDERSFIELD CONTEMPORARY MUSIC FESTIVAL, das zu den führenden Festivals zeitgenössischer Musik Englands gehört, nach 9 Tagen zu Ende. Grund genug Bilanz zu ziehen und der besonderen Anziehungskraft dieser international renommierten Kulturveranstaltung nachzuspüren.

Was ist es also, das dieses Festival so besonders macht? Eine kleine Anekdote vom Eröffnungskonzert durch das Klangforum Wien in der zum Konzertsaal umgebauten ehemaligen Kirche St. Paul kann vielleicht als Hinweis dienen: Ein älteres Paar aus Manchester blätterte gemeinsam das Gesamtprogramm durch. Dass viele der aufgeführten Werke noch aus dem letzten Jahrtausend stammten, dürfte ihn enttäuscht haben: „Oh, that’s all so old“. Nach einer Weile bemerkte sein Freund, dass sie bei der Uraufführung eines dieser doch so alten Werke persönlich dabei gewesen waren und fragte darauf: „When did it cease to be contemporary?“.

Auf der Suche nach Neuem in der Neuen Musik kann es passieren, dass der Kompositionszeitraum für die Aktualität eines Werkes hinhalten muss und es in den Konzertsälen zum „Uraufführungswahn“ kommt, wie es Olga Neuwirth ausdrückte. Darüber, ob eine Kanonbildung  erwünscht ist – wenn Werke also aufhören zeitgenössisch zu sein und in den Olymp der erzählten Musikgeschichte aufsteigen – kann gestritten werden. Dass es aber überhaupt schwieriger wird der Aufführung eines  Werkes oder musikalischen Konzeptes mehr als einmal beizuwohnen, stellt nicht nur einen ästhetischen Nachteil sondern auch ein praktisches Problem für alle an einem Musikerlebnis beteiligten Personen dar: KomponistInnen bekommen weniger Geld für ihre Arbeit, Veranstalter müssen mehr ausgeben, Ensembles haben weniger Zeit eine Aufführung zu perfektionieren und ZuhörerInnen bekommen nur eine Chance eine Aufführung zu besuchen.  Der künstlerische Leiter des Festivals, Graham McKenzie, setzt mit einer ausgefeilten Mischung von Aufführungen von Werken des 20. Jahrhunderts, jüngeren, aber schon aufgeführten Werken und Uraufführungen dagegen.

So beim Eröffnungskonzert: Der erste Programmpunkt, Peter Jakobers „Substantie“, das eine Woche zuvor bei Wien Modern als prämiertes Werk des Erste-Bank-Kompositionspreises uraufgeführt worden war, stand zusammen mit Agata Zubels „Not I“ neben zwei Werken der bereits etablierten Komponisten Beat Furrer und Pierluigi Billone. Insbesondere begeisterte Agata Zubels stimm- und klanggewaltige Interpretation Becketts Monologs, dessen Wiederaneignung der Sprache durch eine Verstummte sie glaubwürdig als Kraftakt der Emanzipation und Stimmgebung zeigen konnte. Die Zweitaufführung Peter Jakobers Werk unter anderen raumakustischen Gegebenheiten ermöglichte es, anderen Aspekte dieses vielschichtigen Werkes als in Wien Beachtung zu schenken.

Im Gegensatz zu anderen Festivals hatte man weniger auf mit der Postmoderne einhergehende Strömungen wie Trans- und Intermedialität oder der Öffnung der Genres gesetzt. Vielmehr wurde gesucht und gezeigt, was sich mit den mittlerweile klassischen Ausformungen des musikalischen Experimentes alles noch so machen lässt (um wieder das ältere Pärchen zu zitieren: „Ah the bass clarinet. All the old cliches are coming back.“). Richard Uttley nahm sich z.B. mit Thomas Larchers „Smart Dust“ die vielfältige Klangwelt des präparierten Klaviers vor und mit Michael Cuttings „This Is Not A Faux Wood Keyboard“ auf einer Fender Rhodes Bezug auf die stark elektroakustisch geprägte Tradition der Experimentalmusik. Auch beim Konzert des Ensembles United Instruments of Lucilin wurden mit erweiterter Spieltechnik und elektromechanischen Instrumenten richtiggehend neue Welten aufgemacht. In „epar“ fasste Manuela Meier Klänge als veränderliche Organismen auf und Mauro Lanza ließ sich von Wolfgang von Kempelens Sprechmaschine, einem experimentellen, noch mechanischen Musikinstrument aus dem 18. Jahrhundert, inspirieren.

Was ist es aber nun, das dem Festival seinen so besonderen Flair gibt? Um die Konzerte herum ist die Grenze zwischen OrganisatorInnen, künstlerischen Mitwirkenden und BesucherInnen sehr dünn und oft nicht ausmachbar. Mehrere Generationen Kunstsinniger aus den Weiten der Welt – und damit ist nicht nur die westliche gemeint – kommen zusammen, um experimentelle Musik zu machen, zu hören und zu reflektieren. Es entsteht eine ausgesprochen familiäre Atmosphäre, die in der Art der Zusammenkunft an ein antikes Symposium erinnert.

In Zeit-Ton wird am Mittwoch, den 2.12.2015, ab 23 Uhr ein Beitrag zum Huddersfield Contemporary Music Festival mit einem kurzen Interview mit Sabine Reiter und Philip Röggla sowie Konzertmitschnitten gesendet.

Philip Röggla

Peter Jakober (c) Franz Reiterer

http://www.hcmf.co.uk/
https://www.musicaustria.at/magazin/neue-musik/artikel-berichte/oesterreichische-komponistinnen-im-festival-fokus-der-britischen