Jazz, einmal anders präsentiert: in ein Progressive-Rock-Kostüm gehüllt, mit elektronischen Elementen verziert, rhythmisch komplex und spieltechnisch anspruchsvoll, vielschichtig und abwechslungsreich im Sound – und in Summe höchst musikalisch und fließend. Die fünfköpfige Band ORIGINA1NERD zeigt auf ihrem zweiten Album „System Overload“ auf spannende Weise, wie weit sich die Grenzen des modernen Jazz hin zu einer ganz eigenen Klangsprache verschieben lassen. Im Interview mit Michael Ternai spricht Max Glanz, Bandleader und Saxofonist der Gruppe, über den Versuch, dem Jazz eine neue Richtung zu geben, die Bedeutung von Flow in der Musik und seine Leidenschaft für komplexe Rhythmen.
Auf eurem Album treffen unterschiedlichste musikalische Welten aufeinander. Jazz, Progrock, Elektronik. Beim Durchhören der Stücke sind mir unter anderem Acts wie Dream Theatre und Tigran Hamasyan in den Sinn gekommen. Bei so einer so großen musikalischen Breite stellt sich natürlich die Frage, auf welcher Basis bei euch die Musik bzw. der Sound entsteht?
Max Glanz: Das eine ist das Komponieren, das andere die Umsetzung. Beides spielt natürlich eine große Rolle, was das betrifft. Die Kompositionen von „System Overload“ stammen alle von mir und ich schätze, dass viele Musikstile, die ich in meinen Teenagerjahren und später gehört habe, sicher da miteinfließen. Ich habe zum Beispiel sehr, sehr viel die Progressiv-Rockband YES gehört, Dream Theatre witzigerweise eher weniger, dafür aber Tigran Hamasyan, den norwegischen Saxofonisten Marius Neset, viele Leute, die vor allem so im Odd-Meter-Bereich drin sind und zwischen Rock und Jazz etwas machen. Manche mehr Progrock, manche mehr Jazz. Die elektronischen Elemente sind im Verlauf der Arbeit an diesem Album bzw. durch die Band gekommen, weil meine Mitmusiker da schon ein bißchen interessierter daran waren und sich mehr ausgekannt haben. Andreas Erd an der Gitarre zum Beispiel verwendet eine echte Paddleboard Armada und das habe ich ihm nachmachen müssen mit einer sehr kleinen Ausführung, deswegen sind auch Effekte auf dem Saxophon drauf. Das heißt, vom Kompositorischen her üben die zuvor erwähnten Künstler natürlich einen gewissen Einfluss aus. Was die klangliche Umsetzung betrifft, ist diese jedoch vor allem auf die Band bzw. die Musiker zurückzuführen.
Ein wichtiger Punkt ist für mich das Schlagzeug. Mit dem Schlagzeuger steht und fällt die Band, da er in der Regel die Härte der Musik maßgeblich bestimmt. Ich bin auch niemand, der darauf besteht, dass etwas strikt nach meinen Vorgaben gespielt wird. Ich versuche, jedem den nötigen Raum zu lassen, damit wir wirklich als Band agieren können und es nicht nur ein reines One-Man-Projekt bleibt. Daher spielt Jonas Kočnik komplett in seinem eigenen Stil. Er ist unser zweiter Schlagzeuger. Der erste war Gabor Bedö, der eher aus dem Metalbereich stammt und der Band bereits ein bestimmtes klangliches Profil verliehen hat. Dieses hat Jonas nicht vollständig übernommen, aber es in seine eigene Interpretation sicher auch einfließen lassen.
Das Interessante am Durchhören eurer Musik ist, dass sie sehr durchdacht klingt, sie gleichzeitig immer auch mit spontanen Improvisationen überrascht. Ist dieses Spiel mit Gegensätzen ein Teil eurer musikalischen Methode?
Max Glanz: Unsere Musik wirkt auf dem Papier irgendwie wie mathematische Gleichungen, einfach deshalb, weil die Melodien und Rhythmen sehr komplex sind. Das Ziel dahinter ist jedoch, es den Zuhörer:innen so einfach wie möglich zu machen, die Musik zu genießen.
Natürlich ist das relativ zu sehen, denn unsere Musik wird sicher nicht über Ö3 oder FM4 hunderttausende Menschen erreichen. Wir sprechen ein etwas anderes Publikum an. Dennoch geht es uns nicht darum, zu zeigen, wie kompliziert wir spielen können. Vielmehr möchten wir, dass es für die Leute angenehm ist, zuzuhören, auch wenn eine musikalische Komplexität vorhanden ist.
Was den Unterschied zwischen den auskomponierten und den improvisatorischen Teilen betrifft, geht es letztendlich immer um Tension and Release. Manchmal sind die Soloteile etwas ruhiger als die durchkomponierten Passagen, aber auf der anderen Seite können sie auch deutlich intensiver sein. Das wechselt sich immer wieder ab. Es hängt davon ab, wie die Stücke im Laufe des Prozesses entstanden sind oder wie es sich gerade – vor allem live – anfühlt.
Das Besondere ist auch, dass man natürlich merkt, dass die Musik anspruchsvoll und komplex komponiert ist, nur ist das kaum spürbar, weil sich quasi alles im Flow befindet.
Max Glanz: Das ist für mich ein besonders wichtiger Punkt. Ich sage immer, dass ein gewisser Fluss, ein Flow, immer vorhanden sein muss. Ist der Flow da, kann man schreiben, was man will – es ist völlig egal.
Was ist eigentlich für dich das Faszinierende an dieser komplexen Rhythmik, an Odd-Meter usw.? Was hat deine Liebe dafür entfacht.
Max Glanz: Was genau diese Liebe entfacht hat, kann ich gar nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Ich stelle aber immer mehr fest, dass die Musik, die ich mit 16 oder 17 gehört habe, im Grunde schon genau diese Art von Musik war. Damals war ich musikalisch allerdings noch nicht so weit, um zu verstehen, wie komplex sie tatsächlich ist. Ich fand einfach den Flow dieser Stücke cool. Wenn ich jetzt beschreiben müsste, warum das so ist, würde ich sagen, dass in ungeraden Rhythmen immer eine besondere Energie steckt – eine, die man auf andere Weise nicht so gut vermitteln kann.
Im Jazz konzentrieren wir uns oft extrem stark auf Harmonik und harmonische Zusammenhänge – auf tausend verschiedene Akkorde, die man über unzählige andere Akkorde substituieren könnte, und so weiter. Die Tradition im Jazz besteht mehr oder weniger nur aus 4/4-Takten, vielleicht hin und wieder mal aus einem 3/4-Takt. Dann gab es Leute wie Dave Brubeck, die einen Fünfer- oder Siebener-Takt eingeführt haben – aber das waren wirklich große Ausnahmen.
Die Musiker haben dann vor allem über diese traditionellen Strukturen improvisiert und sich beeindruckende Konzepte überlegt, wie man harmonisch damit umgehen kann. Für mich war aber auch die andere Seite spannend: Was kann man rhythmisch noch alles machen? Denn der Groove oder Rhythmus ist eigentlich das wesentlichste Element im Jazz und in der daraus entstandenen improvisierten Musik. Dennoch wurde rhythmisch nie wirklich tiefer gegangen.
Die ungeraden Taktarten kamen eigentlich viel stärker aus dem Progrock – und das auch schon viel früher als im Jazz. Der Jazz hat das, so wie ich es sehe, später aufgegriffen. Musiker wie John McLaughlin, die einerseits Jazzgitarristen waren, andererseits aber auch stark vom Rock geprägt waren, haben diesen Ansatz weiterentwickelt. In den 1960er- und 1970er-Jahren gab es eine große Welle, bei der viele Musiker:innen aus der westlichen Welt nach Indien und Afrika gingen, um sich dort intensiv mit Rhythmus auseinanderzusetzen. So hat sich das Ganze entwickelt.
Es ist eine spannende Entwicklung, die bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist. Es gibt noch so viel zu entdecken. Früher hat man Musik programmiert und versucht, Drum Machines wie Menschen klingen zu lassen. Heute gibt es einen Gegentrend: Menschen fangen an, Drum Machines zu imitieren. Es gibt tatsächlich Musiker:innen, die versuchen, MIDI-Files nachzuspielen, 17 über 18 zu spielen oder andere verrückte polyrhythmische Konzepte umzusetzen. Dabei entsteht eine unglaubliche Bandbreite, weil die rhythmischen Möglichkeiten theoretisch unbegrenzt sind – im Gegensatz zum funktionsharmonischen System, das nur eine begrenzte Anzahl an Akkorden bietet.
Das Faszinierende daran ist, dass bestimmte rhythmische Strukturen ein so großes Energiepotenzial in sich tragen, dass es irgendwann harmonisch völlig egal ist, was man spielt, solange man sich innerhalb dieses Grids bewegt. Genau diesen Ansatz verfolgen wir mit Origina1Nerd.
Wenn man dir zuhört, wird klar, dass bei euch sehr viel Kopfarbeit im Spiel ist. Inwieweit lässt ihr euch beim Schreiben und Spielen von euren Gefühlen leiten? Wie gelingt es euch, der Musik Seele zu verleihen?
Max Glanz: Das ist eine sehr gute Frage. Ich glaube, es ist bei so einer Musik extrem schwierig, das zu erreichen. Das ist auch eine Frage, die ich mir nach der Produktion dieses Albums selbst gestellt habe. Es ist für mich ein wesentlicher Kritikpunkt, auf den ich beim nächsten Album auf jeden Fall achten möchte. Es gibt sicherlich Passagen, die etwas verkopft wirken und die wir trotzdem so durchziehen wollten, weil wir sie auf dem Papier cool fanden. Beim Aufnehmen und Livespielen gab es dann aber Interventionen seitens der Band – und das zurecht. Manche Ideen waren schlicht unnötig und haben den Flow kaputtgemacht, was ich letztlich eingesehen habe.
Das Musikalische und Emotionale liegt im Flow – er ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Es gibt bestimmte Melodien, wie zum Beispiel in der Nummer „Rigid“, die eine Rhythmik hat, die zwischen 7/8, 6/8 und wieder 7/8 wechselt. Dadurch entsteht ein sehr schneller Wechsel der Taktarten, während die Melodie selbst total langgezogen ist und sich hauptsächlich in der Pentatonik bewegt. Das verleiht der Melodie eine gefühlvolle Qualität, die entsprechend interpretiert werden kann.
Als wir mit den Aufnahmen dieses Stücks begonnen haben, habe ich gesagt, dass ich die Melodie sehr hallig haben möchte – sie sollte irgendwie verschwimmen und nicht zu sehr im Vordergrund stehen. Es gibt dabei diese feine Linie zwischen „Okay, ich spiele wie ein Computer und mache keine Fehler“ und den menschlichen Fehlern, die die Musik oft erst lebendig machen.
Wenn man sich eure Musik anhört, kann man sich ganz gut vorstellen, wie anspruchsvoll und vielleicht auch kräfteraubend es ist, diese auf der Bühne zu performen und den Flow, den sie hat, spürbar werden zu lassen.
Max Glanz: Vom Schwierigkeitsgrad her ist die Musik von Origina1Nerd sicher die schwierigste, die ich jemals live performt habe. Das gilt vermutlich auch für die meisten meiner Bandkollegen. Da die Stücke alle technisch sehr anspruchsvoll sind, müssen sich alle gleichermaßen intensiv mit der Musik auseinandersetzen, um ein Konzert technisch überhaupt zu überstehen. Das ist die eine Seite.
Die andere ist, dass man selbst so stabil sein muss, dass man einen anderen auffangen kann, falls es ihn mal „rausschmeißt“. Das kann immer passieren. Und es passiert auch bei jedem Gig immer wieder eine Kleinigkeit. Aber das ist normal – niemand ist perfekt. Es geht darum, wie man diese Probleme musikalisch löst. Wenn jemand zum Beispiel irgendwo eine Viertelnote „schluckt“ und einfach weiterspielt, also gegen die anderen spielt, funktioniert das natürlich nicht.
Das Entscheidende ist die Fähigkeit, wieder zueinanderzufinden. Und dazu gehört, dass man immer ein Ohr für die anderen hat. Konzerte sind natürlich auch mit viel Probenarbeit verbunden, wobei wir in letzter Zeit nicht mehr so viel geprobt haben, weil wiruns das Ganze schon so oft reingezogen haben, dass es inzwischen eigentlich reibungslos läuft.
Herzlichen Dank für das Interview.
Michael Ternai
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Origina1Nerd live
22.11.24. Stockwerkjazz, Graz
24.11.24. Zwe, Wien
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