„Irgendetwas in mir möchte das Rad immer neu erfinden.“ – GLAM im Mica-Interview

GLAM machen elektro-experimentellen Drama-Pop. Und sobald man herausgefunden hat wie das klingt, machen GLAM vielleicht schon wieder ganz anderen Sound. Die Formel des panta rhei (“alles fließt”), trifft auf die in vielen Elementen fluide Band auf treffliche Weise zu.
Das Album „THE COLOR, THE DARKerscheint am 12.05.2023 auf teacup records. Dominik Beyer spricht im Zuge dessen mit GLORIA AMESBAUER und dem Gitarristen MARKUS W. SCHNEIDER im mica-Interview über Genres, Songwriting und inwieweit die Utopie der nahezu regellosen musikalischen Freiheit den Arbeitsprozess beeinflusst.

Wie beschreibt ihr eure Musik?

Gloria Amesbauer: Genrebezeichnungen find ich ja schwierig. Im Pressetext steht electro-experimental Drama-Pop. 

Ist das eure eigene Beschreibung?

Gloria Amesbauer: Das war mein Versuch, alles zusammenzufassen. Man könnte auch sagen Avantgarde-Pop. 

Welche Elemente sind dabei Avantgarde und welche eher Pop?

Gloria Amesbauer: Auf der Bühne improvisieren wir viel mit Sounds. Songformen werden gebrochen. Es gibt keinen Song, der den typischen Ablauf eines Popsongs besitzt, oder?

Markus W. Schneider: Das klassische Strophe-Strophe-Bridge-Refrain-Schema kommt bei uns wirklich nicht vor.

Dann sind die Melodien populärer Musik zuzuordnen?

Gloria Amesbauer: Ja. Ich bediene mich der Waffen des Pop. Das Popelement, harmonisch oder formell betrachtet, ist etwas, mit dem wir teasen. Wir lösen damit etwas auf, dass aus einer ganz anderen Richtung kommt. Manchmal bewegt es sich am Rande mit und schneit dann auf einmal rein. Kitsch hat so viel Power. Das meine ich, wenn ich von den Waffen des Pop spreche. Das setzen wir aber nur gezielt ein. Ich hör tatsächlich viel Musik, die andere vielleicht als kitschig bezeichnen würden. Bei mir kommt es aber nur dann zum Einsatz, um andere Elemente zu brechen. Viele Techniken bekommen ihren eigenen Moment. Zum Beispiel die Dreistimmigkeit. Dadurch, dass wir es im Set nicht inflationär benutzen, hat es eine ganz eigene Bedeutung, hoffe ich. 

Was ist Popmusik für euch?

Markus W. Schneider: In unserem Fall sind die Songs schon auch Transportmittel für das Verständnis. Damit es zugänglich für alle zugänglich bleibt – auch ohne Vorbildung. Etwas nicht Elitäres. Gefühle, die auch aus der eigenen Lebensrealität verstanden werden können.

Wie entstehen die Songs?

Gloria Amesbauer: Wenn ich dafür eine Antwort hätte, müsste ich nicht immer so mit der Komposition kämpfen. Manchmal gibt es Momente, da drückt etwas und möchte raus – und ist in zehn Minuten fertig. Meist entsteht ein Text schon in Kombination mit einer Stimmung zur Musik. „Bookshelf“ zum Beispiel war innerhalb weniger Minuten fertig. Nach dem ersten Demo habe ich nicht mehr viel verändert, bis wir es aufgenommen haben. 

Markus W. Schneider: Da hatten wir auch nicht das Gefühl, irgendwas ändern zu wollen. Das hat man beim ersten Demo schon gespürt, dass das ein besonderer Song ist. 

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Gloria Amesbauer: Und dann gibt es andere Sachen, an denen man ewig sitzt und dann versucht, seinen Kopf auszutricksen. Die Songs sind so unterschiedlich, weil sie auch so unterschiedlich entstehen. Die einen kommen, kitschig formuliert, aus dem tiefsten Inneren heraus. Und dann gibt es Songs, an denen man emotional hängt. Die möchte man nicht aufgeben und ändert sie immer weiter.

Gibt es Regeln, denen ihr euch bei komponieren unterwerft?

Gloria Amesbauer: Keine Snare. [schmunzelt]

Markus W. Schneider: Ich glaube, dass jeder Song die Regeln für sich vorgibt. Denn die Songs funktionieren auch sehr unterschiedlich. Wenn ich z.B. an „Embryo“ denke. Den spielen wir schon seit längerer Zeit live. Da gibt es eine Melodie. Ein Grundgerüst. Live improvisieren wir den Song immer anders, aber es bleibt immer eine gewisse Stimmung oder ein Gefühl. 

„Auch wenn ein Song mal gut funktioniert hat, muss der nächste wieder komplett was ganz anderes sein.”

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Gloria Amesbauer: Wobei es schon immer ähnlicher wird, je öfter man es miteinander spielt. 

Markus W. Schneider: „Still“ hingegen ist strikt durchkomponiert. 

Gloria Amesbauer: Schon auch eine spannende Frage, ob wir uns beim Zusammenspielen Regeln unterwerfen.

Ich meine eher beim Schreiben. Nur, weil du vorhin erwähnt hattest, der Kompositionsprozess sei immer eine schwere Geburt von Song zu Song. Man kann sich heutzutage leicht in einer Unzahl an Möglichkeiten verlieren. Umso mehr, wenn man sich sämtliche Möglichkeiten der Klangerzeugung, Spielpraxen und Genres offen lässt. Nicht dass ich glaube, dass ihr euch verliert. Vielleicht sprich ich auch zu viel aus eigener Erfahrung. Manchmal tut man sich leichter, indem man sich selbst limitiert. Wenn ausschließlich die Emotion als einzige Regie führt, kann ein Song auch im Wechselbad derselben landen. Regeln oder besser gesagt Struktur, erleichtert einem da oft den Prozess.

Markus W. Schneider: Vielleicht ist das unsere Utopie, dass alles existieren darf. 

Gloria Amesbauer: Das ist genau der Punkt. Das macht aber auch die Komposition bzw. das Projekt aus, dass ich es mir mit einer Regel nicht leicht machen möchte. Auf der anderen Seite ist es natürlich voll anstrengend. Irgendetwas in mir möchte das Rad immer neu erfinden. Daher möchte ich für mich keine Regeln machen. Auch wenn ein Song mal gut funktioniert hat, muss der nächste wieder komplett was ganz anderes sein. 

Das ist sympathisch.

Gloria Amesbauer: Aber ich versuche, das nach und nach abzulegen. Geschichten können ja auch weitererzählt werden. Thematisch gibt es schon einen roten Faden. Auf dem Album sind Textzeilen, die bereits auf der ersten EP waren. So blitzen rote Fäden durch. Das überlege ich mir aber nicht im Vornhinein. Konzeptioniert ist bei uns nichts. 
Manchmal würde ich am liebsten nur Techno machen, weil ich mir wünsche, dass die Leute bei unseren Konzerten Party machen. Dann wieder cineastische Powerballaden. 
Wenn es eine Regel gibt, die ich mir mache, ist diese, meine Musik nicht rational zu bewerten. Denn es gibt zu viele Momente, in denen ich sie scheiße finde. Die Momente, in denen ich sie feiere, legitimiert die Fortführung der Arbeit. Meine kompositorische Regel ist also, die momentane Einschätzung nicht immer ernst zu nehmen. So banal es klingt: aufs Bauchgefühl hören. Heißt nicht, dass sich alles immer nur wohl und geil anfühlen muss. Es gibt Textzeilen, die mir auf der Bühne unangenehm sind, vorzutragen. Manche Sachen müssen aber sein. Warum das so ist, kann ich dir nicht sagen.

„Konzeptioniert ist bei uns nichts.” 

Was zum Beispiel?

Gloria Amesbauer: Auf „Still“ ist die Strophe, insofern man sie so nennen möchte, auf Deutsch. Da sing ich: „Auf meine Haut tropft kalter Regen.

Was ist daran unangenehm?

Gloria Amesbauer: Das ist so persönlich. Der ganze Job beinhaltet ja auch das Innere nach außen zu kehren. Blablabla. Die Songs sind so nah an mir. Und mir sind ja Sachen an mir auch unangenehm. Aber ich versuche, sie trotzdem anzunehmen. Vor allem bei „Still“ geht es um arge Depressionen. Einige Facetten an mir sind nicht hip. Viele denken dann vielleicht, dass das jetzt peinlich ist, wenn dieser komische deutsche Text kommt. Weißt du, was ich mein?

Vielleicht machst du dir zu viel Gedanken, was die anderen denken?

Gloria Amesbauer: Das ist mit Sicherheit so. Aber ich versuche ja dann, wieder dagegen zu wirken. Daher die Regel, dass ich mir nicht alles glaube. 

Ist jedes Konzert dann auch sehr unterschiedlich, was die Sounds betrifft?

Markus W. Schneider: Sehr unterschiedlich nicht. Es geht darum, die Sachen neu zum Leben zu erwecken. Aber mit Mitteln, die funktionieren und passen, um es lebendig zu halten. Nicht nur deswegen, weil man sich die Freiheit nehmen möchte.

So war die Frage auch gemeint. Man zwingt, sozusagen, die Mitmusiker auf der Bühne zum Zuhören, indem man sie mit kleinen Variationen überrascht.

Gloria Amesbauer: So oft kommt das nicht vor. Das gehört dann in dem Moment so. Es überrascht mich aber nicht. Gänsehautmomente gibt es schon. 

„Ich habe eine Vorstellung, aber die kann übertroffen werden, in dem die anderen beiden ihre Ideen miteinfliessen lassen und noch mehr daraus machen.”

Gibt es hierarchische Strukturen bei der Zusammenarbeit zwischen euch?

Gloria Amesbauer: Eine gewisse Hierarchie gibt es schon. Ich würde zwar gerne sagen, dass es sie nicht gibt. Aber ich schreibe die Musik. Aber es fühlt sich nicht streng hierarchisch an. Als ich die Band gründete, hatte ich keine Instrumentierung im Kopf, sondern Leute, mit denen ich zusammenarbeiten möchte. Solange sich Aras Levni Seyhan und Markus W. Schneider ihre Freiheiten nehmen können, wird es zu dem, was ich mir wünsche. Ich habe eine Vorstellung, aber die kann übertroffen werden, wenn die anderen beiden ihre Ideen miteinfließen lassen und noch mehr daraus machen. 

Markus W. Schneider: Das ist mir auch wichtig, nicht nur ein dienstleistender Musiker zu sein. Das ist keine Band, inder ich meine geübten Riffs und Licks rauslassen kann.

Gloria Amesbauer: Wir haben uns auch wirklich sehr lieb. Ich find das wichtig. 

Markus W. Schneider: Wegen des Geldes macht man das ja eh nicht. [lacht]

Welche Musik inspiriert dich derzeit? 

Gloria Amesbauer: „Multilove“ von Unknown Mortal Orchestra hat mein Gehirn zuletzt gekitzelt. Genauso der Song „Jericho“ von Iniko. Das ist eine RnB Sängerin, die über TikTok bekannt geworden ist. Da gibt es eine acappella Version auf TikTok. Wow!

Experimentelle Musik auch?

Gloria Amesbauer: Im Grunde jedes einzelne Konzert von Isabella Forciniti inspiriert mich extrem. Ich habe sie erst kürzlich wieder live gesehen. Da muss ich die ganze Zeit grinsen und abgehen zugleich.

Apropos TikTok. Wie stehst du zu sozialen Medien? 

Gloria Amesbauer: Ich hasse es. TikTok habe und möchte ich auch gar nicht. Instagram ist ein gutes Tool. Aber auf jeden Fall der anstrengende Teil der Arbeit. Der private davon ist lustig. Memes und reels retten mir manchmal den Tag. So einfach kanns gehen.

Vielen Dank für das Gespräch

Dominik Beyer

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Glam Live:
02.06. RKH, Wien
09.06. Bertholdsaal, Weyer
10.06. Alter Bauhof, Ottensheim
20.06. Cafe Wolf, Graz
15.07. Milla-Club, München (solo, w/ Rosa Anschütz)

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