IN BARTÓKS NACHFOLGE: ZUM TOD VON IVÁN ERÖD

Als sein ältester Sohn vor wenigen Tagen in der Wiener Albertina stellvertretend für ihn die Goldmedaille für Künste des Kennedy Center International Committee on the Arts in Empfang nahm, war nur dem engsten Kreis bekannt, wie ernst es bereits stand: Am 24. Juni 2019 ist der Komponist Iván Eröd 83-jährig in Wien verstorben.

Kindheit zwischen Krieg und Holocaust

Tragik und Glück, Ernst und Heiterkeit, hartes Ringen und erarbeiteter Erfolg: Gegensatzpaare zeichnen den Lebensweg von Iván Eröd – im Privaten wie im Beruflichen. Am 2. Jänner 1936 als Kaufmannssohn in Budapest geboren, erlebte er noch als Kind nicht nur die seine Heimatstadt anfänglich nur am Rande berührenden Schrecken des Zweiten Weltkriegs mit, sondern insbesondere ab dem Frühjahr 1944 die Besetzung des Landes durch deutsche Truppen und im Zuge dessen das Grauen der Judenverfolgung. Mehrere Mitglieder seiner Familie, darunter seine Großeltern und sein älterer Bruder Endre, wurden Opfer des Holocaust. Er selbst überlebte möglicherweise nur aufgrund des verzweifelten Mutes seiner Mutter, die sich mit dem 8-Jährigen an der Hand einem Abtransport in eines der Lager des Nationalsozialismus entzog.

Musterschüler in Bartóks Tradition

Das kommunistische Regime hatte bereits die Herrschaft in der neuen „Volksrepublik Ungarn“ übernommen, als Eröd 1951 seine Ausbildung an der Budapester Musikhochschule begann. Seine Lehrer dort waren u. a. Pál Kadosa (Klavier), der besonders linientreue Ferenc Szabó (Komposition) und Zoltan Kodály (Vorlesung „Ungarische Volksmusik“). Die Kompositionen dieser frühen Jahre weisen deutliche Prägung durch das für viele junge Ungarn damals Maßstäbe setzende Schaffen Béla Bartóks auf. Obwohl er bereits unmittelbar vor dem erfolgreichen Abschluss seiner Studien stand, sah Eröd sich infolge der politisch hoffnungslosen Situation nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands wie viele seiner Landsleute und Kollegen im Dezember 1956 zur Flucht nach Österreich veranlasst. Obwohl er gerade erst einmal 20 Jahre alt war, hatte die Politik in seinem Leben bereits ein zweites Mal eine tiefe Zäsur verursacht.

Neue Tendenzen und unmittelbare Kommunikation

An der Wiener Musikakademie ging Eröd bei Richard Hauser (Klavier) und Karl Schiske (Komposition) erneuten Studien nach, und hier wurden nun für ihn die Entwicklungen der Zweiten Wiener Schule zu einem zusätzlichen Ausgangspunkt seiner Arbeiten. Er beschäftigte sich mit der Dodekaphonie und seriellen Techniken, wovon u. a. Kammermusik und die Buffo-Kurzoper nach Federico Garcia Lorca „La Doncella, el marinero y el estudiante“ op. 9 (1960) zeugen. Die abendfüllende Oper „Die Seidenraupen“ op. 10 nach einem Libretto von Richard Bletschacher (1964/68) markierte einen stilistischen Wendepunkt: Von freier Dodekaphonie ausgehend, griff Eröd darin nicht zuletzt auf seine in Hinblick auf die Rezeption neuer Musik als reproduzierender Künstler gewonnenen Erfahrungen zurück und bediente sich auch wieder tonaler Mittel. Anlässlich der kontrovers aufgenommenen Uraufführung der Oper im Rahmen der Wiener Festwochen 1968 definierte Eröd sein kompositorisches Credo, wie es seine Musik fortan prägte: „Kunst ist Kommunikation. Wenn ich Musik schreibe, so mit der Absicht, dass sie auch angehört und begriffen wird. Ich muss mich also einer Sprache bedienen, die geeignet ist, wenigstens von einer größeren Anzahl von Menschen verstanden zu werden […].“

Virtuose Leichtigkeit à la Mendelssohn

Den in „Die Seidenraupen“ erfolgten ästhetischen Wandel vollzog Eröd auf dem Gebiet der Instrumentalmusik mit der ersten Violinsonate op. 14 (1969/70). Fast alle seine Werke der 1970er- und des Beginns der 1980er-Jahre (Ausnahmen sind das 2. Streichquartett op. 26 und vor allem das 2. Klaviertrio op. 42) weisen eine vorzugsweise heiter-unterhaltende Note auf, was als direkte Reaktion auf die von Eröd postulierte Entkrampfung der zeitgenössischen Musik hin zu einer unmittelbar erfassbaren Tonsprache in gelöster Stimmung aufzufassen ist. Charakteristisch ist für ihn in dieser Phase auch die weitgehend konsequente Anwendung klassischer Formmuster, die bis zur Hinwendung zu freierer Anlage ab der „Konzertanten Fantasie“ op. 35 (1980/81) in seinen Werken dominieren. Und schließlich begegnet man ab dieser Phase in seiner Musik auch immer wieder jenen gleichermaßen virtuosen wie scheinbar leicht-schwebenden Scherzo-Sätzen à la Mendelssohn, die nach der Einschätzung des Komponisten in der Musik seiner Zeitgenossen damals kaum zu finden waren und der modernen Musik schlicht abgingen. Dass Eröd die während seiner Wiener Studien erlernten Techniken keineswegs ad acta legte, sie sich aber seinem eigenen Personalstil untertan machte, zeigen beispielsweise die „Drei Stücke“ für Violine op. 27 (1978/79), in denen er in satirischer Antwort der Tonalität auf die Dodekaphonie eine Siebentonreihe streng nach den Regeln der Reihentechnik behandelte.

Biografische Hintergründe im Schaffen

Fern der Idee der Programmmusik enthalten viele von Eröds Werken Bezüge zu unmittelbar biografisch Erlebtem oder zeithistorischen Ereignissen, worin denn auch einer der Schlüssel zu ihrem Verständnis liegt: So weisen u. a. das Violinkonzert op. 15 (1973), die „Krokodilslieder“ op. 28 (1979/80), das Violakonzert op. 30 (1979/80) oder das 2. Streichsextett op. 68 (1996) auf die innige Nähe zu seiner Frau und seinen Kindern hin. Der Liederzyklus „Über der Asche zu singen“ op. 65 (1994) greift im Rückblick nach einem halben Jahrhundert das Erlebnis der rassischen Verfolgung auf. Die Parallelität des Gegensätzlichen in seinem Leben und Schaffen zeigt sich an der gleichzeitig wie diese Gesänge entstandenen „Bukolika“ für Kammerensemble op. 64 (1994). In gelöster Stimmung zeichnet der Komponist darin die Beschaulichkeit des kurz zuvor neugewonnenen Idylls in seinem ungarischen Landhaus. Nach dem 1989 erfolgten Fall des „Eisernen Vorhangs“ und dem 1993 zuerkannten Preis der Budapester Béla-Bartók-/Ditta-Pásztory-Stiftung war der Erwerb dieses kleinen Refugiums im Dorf Csákberény so etwas wie eine Heimkehr in jenes Land, aus dem er sich einst zur Flucht gezwungen sah. Im neuen Jahrtausend erfolgte eine weitere markante künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte: Das Konzert für Violoncello und Orchester op. 80 (2005) ist dem im Konzentrationslager Buchenwald ermordeten Bruder – einem ausgebildeten Cellisten – gewidmet. Auch in der späten Schaffensphase ragen markante Werke heraus. Die in Graz uraufgeführte 3. Symphonie op. 90 „Øresund“ (2013) thematisiert die Rettung dänischer Juden während des 2. Weltkrieges. Ganz ohne äußere Bezüge und nur der Spielfreude der Interpreten verpflichtet ist hingegen jenes Werk, das Ernst, Daniel und Andreas Ottensamer mit den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Andris Nelsons zum 80. Geburtstag des Komponisten im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins aus der Taufe hoben, das Tripelkonzert für drei Klarinetten und Orchester op. 92.

Er hat uns Neues hinterlassen

Schon 1984 hatte Eröd den Plan zu einer Oper nach Eugène Ionescos „Die Nashörner“ gefasst, darüber auch ein Gespräch und Korrespondenz mit dem Autor geführt und sich die Vertonungsrechte gesichert. Da sich die geplante Uraufführung im Rahmen des steirischen herbstes zerschlug, kam dieses Projekt in die Schublade und erlebte vor zwei Jahren eine wundersame Aktualisierung, als sich eine deutsche Bühne ernsthaft dafür interessierte. Die mit Feuereifer und geradezu jugendlich wirkendem Enthusiasmus begonnene Arbeit kam durch einen Intendantenwechsel erneut zum Erliegen – eine besonders bittere Enttäuschung für Eröd, über die er nur schwer hinwegkam. Umso mehr freute ihn der Auftrag, den ihm die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zum Jubiläum „150 Jahre Musikverein“ erteilte: Zwei Tage vor jener Operation Anfang Juni, an deren Folgen er nun verstarb, vollendete er die „Canti di un Ottantenne“, also Gesänge eines Achtzigjährigen. Sie entstanden für seinen Sohn Adrian sowie das Artis-Quartett und werden am 20. Mai 2020 im Brahms-Saal zur Uraufführung gelangen. Sie bilden den Abschluss eines Lebenswerkes, aus dem vieles überdauern können und so manches postum wiederentdeckt werden sollte.

Christian Heindl

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Iván Eröd
Iván Eröd (music austria Datenbank)