IMPROVISATION – EINE GLEICHBERECHTIGTE FORM DER NEUEN MUSIK

MIA ZABELKA (Komponistin, Violinistin, Vize-Präsidentin ACOM, künstlerische Leiterin Klanghaus Untergreith und Phonofemme Vienna) gab in einem Vortrag im Rahmen des „Austrian Composers Day“ der ACOM (Austrian Composers Association) an der mdw–Universität für Musik und darstellende Kunst Wien am 27. April 2024 einen Einblick in den Mikrokosmos der Improvisationsmusik sowie in ihre künstlerische Arbeit und ihren Ansatz der freien Improvisation. Wir dürfen diesen Vortrag in gekürzter Form zur Nachlese bringen.

We are all Improvised Beings

Wir improvisieren in der Kunst, aber auch in unserem alltäglichen Leben. Improvisation und Experiment sind grundlegende Bestandteile der Musik seit ihren Anfängen. Von den frühesten menschlichen Gesängen und Trommelschlägen bis hin zur elektronischen Musik haben Künstler:innen immer neue Klänge und Ausdrucksformen erforscht. Durch Improvisation und Experiment schaffen Musiker:innen nicht nur neue Klänge, sondern drücken auch ihre individuelle künstlerische Vision aus und tragen zum Fortschritt der Musik bei. Ohne Experiment gibt es keinen Fortschritt.

In vielen Kulturen weltweit war und ist Improvisation eine wesentliche Form der musikalischen Ausdrucksweise.

  1. Europäische Musikgeschichte:
    In der Barockmusik spielte Improvisation eine entscheidende Rolle, im Jazz, der im 20. Jahrhundert in den USA entstand, ist Improvisation ein zentrales Element. Auch in der neuen Musik spielt die freie Improvisation eine immer wichtigere Rolle.
  2. Außereuropäische Musiktraditionen:
    In der indischen Musik ist Improvisation ein grundlegender Bestandteil.
    In der afrikanischen Musiktradition gibt es viele Beispiele für improvisierte Elemente.
  3. Neue Musikgenres (Klangkunst, elektronische Musik) und Technologien:
    Mit dem Aufkommen neuer Technologien und Tonstudiotechniken haben sich auch die Möglichkeiten für Improvisation erweitert. Elektronische Musikgenres ermöglichen es Künstler:innen, Klänge in Echtzeit zu manipulieren und zu improvisieren.
  4. Zukünftige Bedeutung:
    Mit der fortschreitenden Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und weiteren technologischen Fortschritten können neue Möglichkeiten für die musikalische Improvisation entstehen. Musiker:innen können beispielsweise mit Algorithmen interagieren und auf ihre Aktionen reagieren.

Interaktion zwischen Violine und dem IRCAM KI-Programm O-Max:
https://miazabelka.bandcamp.com/track/the-quantum-violin-4

Die Improvisation ist ein lebendiges Element in der Musik, welches sich im Laufe der Zeit verändert und an die jeweiligen kulturellen und technologischen Kontexte anpasst.

Mikrokosmos der freien Improvisation

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Eine Dokumentation des englischen Magazins The Guardian mit Interviews einiger der renommiertesten internationalen Vertreter der freien Improvisation.

Freie Improvisation ist eine Musiksprache, die weitestgehend frei von den meisten herkömmlichen Musikklischees ist, die aber auch aus einer intensiven Konzentration auf den Moment entsteht, in dem der Klang produziert wird und gegenseitiges Raumgeben und Zuhören stattfindet.

Improvisierende Komponist:innen, die über viele Jahre eine eigenständige, authentische und individuelle Musiksprache auf ihren Instrumenten entwickelt haben, kodifizieren ihre eigenen spezifischen Regeln.

„Ich sage, dass es eine Reihe von Regeln gibt. Allein die Tatsache, dass ich das Spiel eines bestimmten Musikers von einer Gelegenheit zur anderen erkennen kann, zeigt mir, dass es eine Reihe von Regeln gibt. Wenn es kohärent ist, muss es Regeln geben. Es gibt Regeln; es sind andere Regeln.“ (Eddie Prevost 1987)1

Was ist das Faszinierende an der freien Improvisation? Was interessiert mich an der freien Improvisation?

1. Improvisation ist ein dynamisches System

„David Borgo verwendet in seinem Buch ,Sync or Swarm‘ die Metapher eines nicht-linearen dynamischen Systems, um zu beschreiben, wie freie Improvisation funktioniert. Ein musikalischer ,Schmetterlingseffekt‘, bei dem die Eingabe in das System weitreichende Folgen haben kann. (Cobussen 2013)“, zitiert Per Zanussi.

Marcel Cobussen schreibt in seinem Artikel „The Field of Musical Improvisation“ Folgendes zu dieser Metapher:

„Der musikalische Schmetterling ist ein Detail in der Klangproduktion, welches, wenn es von Musikern beachtet oder anerkannt wird, Veränderungen in der Entwicklung der Musik hervorrufen kann, sodass die letztendlichen Ergebnisse in keinem Verhältnis zu den ursprünglichen Ursachen stehen. Mit anderen Worten: Während einer Improvisation kann jede Geste möglicherweise erhebliche Veränderungen im Gesamtklang und in der musikalischen Entwicklung hervorrufen.“ (Cobussen 2013)2

2. Automatic Playing

„In der freien Improvisation gibt es definitiv mehr Spielraum als in jeder anderen Musik. Man hat die Freiheit, persönlich zu sein, im Laufe der Zeit eine eigene Sprache aufzubauen. Man hat die Freiheit, einen eigenen Ausdruck dafür zu schaffen, was freie Improvisation sein sollte. John Butcher wiederum sagt, wie wenige ,große Ideen‘ in der freien Improvisation von Nutzen sind“, schreibt Per Zanussi weiter.
„Die Sprache oder Stimme des Improvisators, also das, was der Improvisator tendenziell spielt, wird in Echtzeit und im Laufe der Zeit in kleinen Schritten entwickelt. Jedes Mal, wenn wir improvisieren, entdecken wir etwas Neues und nehmen es in unser Lexikon musikalischer Materialien auf, wo wir es zu einem späteren Zeitpunkt bewusst oder unbewusst noch einmal aufgreifen und weiterentwickeln können.“ (Butcher 2011)3

Was Improvisationsmusiker:innen spielen, ist nicht nur etwas, das sie zu Hause jahrelang geübt haben, sondern es muss dann auch auf der Bühne spontan improvisiert werden, sozusagen aus der körperlichen Geste spontan entstehen. Das nenne ich „Automatic Playing“.

Automatic Playing
Das Konzept des „Automatic Playing“ (in Analogie zum „Automatic Writing“ von Friederike Mayröcker beispielsweise) bezieht sich darauf, einen Zustand des Fließens zu erreichen, bei dem die Musik ohne bewusste Kontrolle oder vorherige Planung entsteht. Es geht darum, sich dem Moment hinzugeben, sich von Intuition und Instinkt leiten zu lassen und spontan auf das zu reagieren, was im Moment geschieht:

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3. Freie Improvisation ist eine Form der Echtzeitkomposition

Freie Improvisation ist eine Form der Echtzeitkomposition, da Musiker:innen während des Spielens schnell Entscheidungen treffen müssen, um die Musik kompositorisch zu gestalten. Diese Echtzeitkomposition erfordert ein hohes Maß an sensorischer Aufmerksamkeit, Entwicklung einer authentischen und individuellen Musiksprache und interaktiver Kommunikation zwischen den Musiker:innen. Es handelt sich um einen äußerst komplexen Prozess.

4. Das Spiel im Ensemble – Musikalische Koordination

„In der frei improvisierten Musik verstehen wir musikalischen ,Erfolg‘ als das Erreichen musikalischer und zwischenmenschlicher Interaktionen, bei denen sich die Spieler in der Lage fühlen, starke und unverwechselbare musikalische Beiträge zu leisten und bei denen ein hohes Maß an musikalischer Koordination vorhanden ist.“
(Borrows und Reed 2014:1)
Per Zanussi führt dazu aus: „Burrows und Reed beschreiben, wie eine Gruppe kollektiv improvisierender Musiker:innen ohne vorherige Diskussion schnell zu dem gelangen kann, was sie ,ein musikalisches Gleichgewicht‘ nennen, in dem die Spieler gemeinsam einen kohärenten musikalischen Raum erkunden. Sie nennen dieses Erreichen des Gleichgewichts ,musikalische Koordination‘ und beschreiben weiter, wie ,die großartigsten freien Improvisationen eine ununterbrochene Reihe hochwertiger Gleichgewichte aufweisen, die miteinander verbunden sind, um eine kohärente Struktur oder Erzählung zu bilden‘.
Dieses Erreichen des Gleichgewichts und die anschließende Koordination erfolgt, wenn alle Eingaben im dynamischen System im Gleichgewicht sind, was für eine gewisse momentane Stabilität sorgt. Dies ist der Moment, in dem ich Fluss und Konzentration (Automatic Playing) erlebe und das Gefühl habe, mit den Worten von Burrows und Reed, ,in der Lage zu sein, wichtige und unverwechselbare musikalische Beiträge zu leisten‘.“4

Video Trio Blurb – John Russell (Schüler Derek Baileys), Maggie Nicols (Ikone der freien Improvisation) und mir beim Discovery Festival 2017 in London

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5. Methode oder Genre

Per Zanussi schreibt weiter: „Derek Bailey spricht in seinem wegweisenden Buch ,Improvisation: Its Nature and Practice in Music“ von freier Improvisation als der Musik, in der man normalerweise ,nicht-idiomatische Improvisation findet. Diese Musik, ,obwohl sie stark stilisiert sein kann, stellt keine idiomatische Identität dar, wie Neue Musik, Jazz usw. (Bailey 1993: xi).
Was ist also der Unterschied zwischen der ,idiomatischen Identität der Neuen Musik bzw. des Jazz und der ,nicht-idiomatischen Identität der freien Improvisation?
Eine Erklärung könnte sein, dass freie Improvisation eher eine Methode als ein Genre ist, bei dem es einem freisteht, die eigene idiomatische Identität und Interaktionsweisen zu erfinden, wie Butcher über die Entwicklung seiner Improvisation sagt.
Für mich hat dieses Genre- oder Schulbewusstsein keinen wirklichen Einfluss auf meine ästhetischen Entscheidungen beim Spielen, abgesehen davon, wie ich von anderen Musikrichtungen beeinflusst werde. Die Methode der freien Improvisation ist meiner Meinung nach stark genug, um die Musik auf interessante Weise weiterzuentwickeln, unabhängig davon, ob es sich um ein Genre handelt oder nicht.“5

Ich stimme Per Zanussi inhaltlich voll und ganz zu. Auch für meine künstlerische Arbeit hat es keine Relevanz, ob meine Improvisationen auf der Violine einem Genre zugehörig sind oder nicht. Im Gegenteil, wie ich im folgenden Absatz hervorheben werde.

6. Freie Improvisation ist weit mehr als nur eine Nischenkunstform.

Tatsächlich ist sie ein fundamentaler Bestandteil von Musik und künstlerischem Ausdruck in vielen Formen und Genres, sowohl in der Kunst als auch im Alltagsleben.

David Bowies letztes Album „Blackstar“ ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie freie Improvisation in die Popmusik integriert werden kann. Bowie und seine Band erforschten innovative und experimentelle Ansätze, um eine Klanglandschaft zu schaffen, die durch improvisatorische Elemente bereichert wurde.

Auch Künstlerinnen wie Björk haben die freie Improvisation in ihre Musik eingebunden, indem sie mit verschiedenen Klängen, Texturen und Strukturen experimentierten, um eine organische und originelle Klangwelt zu erschaffen.
Karlheinz Stockhausen hatte einen wichtigen Einfluss auf die Elektropopband Kraftwerk. Daran ist zu erkennen, wie wichtig das musikalische Experiment auch für andere Musikgenres ist.

Elliott Sharp:

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HIER (Bandcamp) mit Saadet Türköz – einer türkischen Worldmusikerin und Improvisatorin.

Ich spiele vor 30 Personen im Rahmen von kleinen Improvisationskonzerten genauso wie vor 3.000 Personen bei Festivals für elektronische Musik. Es macht für mich keinen Unterschied. Es ist mir eine große Freude, die von mir entwickelte musikalische Sprache in vollkommen unterschiedlichen Kontexten zu präsentieren.

7. Freie Improvisation ist kein künstlerisches Monument

Sie ist nicht für die Ewigkeit gemacht. Angesichts der derzeitigen Weltsituation stellt sich auch die Frage, für welche Ewigkeit?

Die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Moments kann als Teil der Schönheit und des einzigartigen Charakters der freien Improvisation betrachtet werden. Es geht darum, den Moment zu leben, den spontanen künstlerischen Ausdruck und eine unmittelbare Verbindung zur Musik und zum Publikum herzustellen.

8. Dialog mit dem Publikum

In der freien Improvisation wird das Publikum als aktiver Teil des Entstehungsprozesses der Musik betrachtet, obwohl es nicht direkt in die musikalische Performance eingreift. Wie beeinflusst das Publikum diesen Entstehungsprozess?

Dialog und Kommunikation: In Echtzeit kann im Spiel auf das Publikum reagiert werden.

Atmosphäre und Energie: Die Atmosphäre im Konzertsaal kann einen Einfluss auf die Performance haben.

Reaktion auf den Raum: Der Raum kann ebenfalls einen Einfluss auf die Musik haben. Die Akustik, die Architektur und die Atmosphäre des Raums können die Art und Weise beeinflussen, wie die Musik wahrgenommen wird und wie die Musiker:innen darauf reagieren.

Kollektives Erlebnis: Die freie Improvisation schafft ein gemeinsames Erlebnis zwischen den Musiker:innen und dem Publikum. Obwohl das Publikum nicht aktiv an der Erzeugung der Musik beteiligt ist, ist es dennoch ein integraler Bestandteil des künstlerischen Prozesses.

9. Der politische Aspekt

Die freie Improvisation hat eine vielschichtige gesellschaftliche Bedeutung, die verschiedene Aspekte umfasst:

Kulturelle Vielfalt: Freie Improvisation ermutigt zur kulturellen Vielfalt, da sie Künstler:innen aus verschiedenen kulturellen Backgrounds die Möglichkeit bietet, ihre einzigartigen Perspektiven und künstlerischen Ausdrucksformen zu präsentieren. Dies trägt zur Förderung des interkulturellen Dialogs und des Verständnisses bei.

Bildung von Communities: Die Praxis der freien Improvisation kann Communities von Künstler:innen und Zuhörer:innen zusammenbringen. Durch gemeinsame Performances, sogenannte Gatherings, und Diskussionen entstehen Netzwerke und unterstützende Gemeinschaften, die den Austausch von Ideen und die Zusammenarbeit – vor allem international – fördern.

Reflexion über Gesellschaft und Kultur: Freie Improvisation kann als kritischer Spiegel dienen, der gesellschaftliche und kulturelle Themen reflektiert. Künstler:innen können durch ihre improvisierten Darbietungen komplexe soziale und politische Fragen aufgreifen und zur Diskussion stellen.

10. Demokratisierung

Die freie Improvisation kann also in vielerlei Hinsicht zu einem Demokratisierungsprozess innerhalb der Kunst und darüber hinaus beitragen:

Gleichheit der Stimmen: In vielen improvisatorischen Kontexten haben alle Beteiligten die Möglichkeit, ihre Stimme gleichberechtigt einzubringen. Es gibt oft keine hierarchischen Strukturen, wie sie in traditionelleren musikalischen Ensembleformen zu finden sind. Dadurch wird eine Atmosphäre der Gleichberechtigung und des gegenseitigen Respekts geschaffen. Zuhören, sich gegenseitig Raum zu geben, stellen wichtige Parameter dar.

Experimentelle Kultur: Freie Improvisation ermutigt zum Experimentieren und zum Ausprobieren neuer Ideen und Techniken. Dies kann dazu beitragen, bestehende kulturelle Normen in Frage zu stellen und neue künstlerische Möglichkeiten zu erforschen, was letztendlich zu einem demokratischeren kulturellen Raum beiträgt, der offen für Vielfalt und neue Entwicklungen ist.

Dazu wieder ein Best-Practice-Beispiel:
John Zorn – „Cobra“: Als Dirigent hat John Zorn ein komplexes Symbolsystem zur Koordination des Zusammenspiels seines Ensembles entwickelt.

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Meine Auseinandersetzung mit Improvisation

Ich möchte Ihnen nun kurz einen Einblick in meine künstlerische Arbeit geben und meinen Ansatz zur freien Improvisation vorstellen.

Warum Improvisation?

Ich habe eine klassische Ausbildung als Violinistin, Komponistin und Elektroakustikerin und habe zu Beginn meiner kompositorischen Tätigkeit traditionell notierte Musik geschrieben. Warum habe ich mich der Improvisation zugewandt?

  • Über den Ö1-Musikredakteur Giselher Smekal lernte ich Improvisationsmusiker:innen des Wiener Ensembles Reform Art Unit wie Fritz Novotny und Walter Malli kennen, mit denen ich mehrere Konzerte gespielt und Alben aufgenommen habe.
  • Im Rahmen eines Aufenthalts in Berlin mittels eines DAAD-Stipendiums lernte ich auch einige internationale Improvisationsmusiker:innen wie John Zorn, Fred Frith, Peter Kowald, Pauline Oliveros oder Alvin Curran kennen und habe auch mit ihnen zahlreiche Konzerte gespielt und Alben aufgenommen.
  • Bald wurde mir klar, dass ich durch die Improvisation auf meinem Instrument viel unbekannteres musikalisches Terrain erkunden, erforschen konnte. Wie ich bereits sagte, freie Improvisation ist eine Methode, bei der man selbst die Regeln festlegen kann und dadurch Freiheit bei der Erforschung neuer Klangmaterialien hat. Ich wollte die Grenzen meines Instruments ausloten und hatte den Eindruck, dass ich durch freie Improvisation auf Ideen komme, auf die ich als Komponistin notierter Musik nicht gekommen wäre.

„Somateme“

Mia Zabelka - Giselher Smekal: Somateme (Cover)
Mia Zabelka – Giselher Smekal: Somateme Körperklänge (Cover)

Obwohl ich mit vielen internationalen und österreichischen Improvisationsmusiker:innen zusammenarbeite, besteht nur ein Drittel meiner kompositorischen Arbeit ausschließlich aus freier Improvisation; bei zwei Drittel meiner Arbeit folge ich einem grenzüberschreitenden kompositorischen Ansatz, bei dem ich neben der Improvisation auch Elemente der experimentellen Elektronik – beispielsweise der Drone-, Dark Ambient- und Noise-Musik – in meine Kompositionen einfließen lasse (vor allem auf meinen Solo-Alben – „M“, „Cellular Resonance“ und Kooperationen mit Elektronikmusiker:innen – wie etwa James Plotkin, Asferico, Icostech, Rupert Huber, Electric Indigo, Zahra Mani uva.).
Begonnen habe ich damit bereits während meiner Studienzeit am ELAK, dem Institut für Komposition, Elektroakustik und TonmeisterInnen-Ausbildung an der mdw–Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Ich habe damals gemeinsam mit Giselher Smekal den elektroakustischen Performancezyklus „Somateme“ (Bandcamp) entwickelt, bei dem ich meine elektroakustischen Kompositionen in Verbindung mit meinen Improvisationen mit Stimme und Violine gesetzt habe. Beispielsweise habe ich mittels Kontaktmikrophonen Atem- und Pulsgeräusche zu elektroakustischen Soundscapes verarbeitet und dazu mit der Violine improvisiert. Das war damals Pionierarbeit, noch vor dem Computer-Zeitalter. Wir haben Tonband-Loops quer durch das Studio gelegt, an Revox-Maschinen und am Mischpult Sounds manipuliert. Es war eine sehr physische Arbeit.

Insgesamt ist anzumerken, dass es für mich auch ein Vorteil war, dass ich bereits mit vierzehn Jahren angefangen habe, in Jazz- und Rockbands zu spielen – zusätzlich zu meiner klassischen Violin-Ausbildung. Je früher man mit dem Improvisieren beginnt, desto besser. Zu einem späteren Zeitpunkt fällt es klassisch ausgebildeten Musiker:innen, insbesondere Streicher:innen, umso schwerer, das Gelernte beiseite zu lassen und frei zu improvisieren.

Wissenschaftliche Musik

Heutzutage geht es mir um die Interdisziplinarität zwischen Musik und Wissenschaft. Der Begriff „wissenschaftliche Musik“ beschreibt meine künstlerische Arbeit daher am besten. Über Melodien, Harmonien und Rhythmen hinaus geht es darum, automatische Prozesse der Modulation, Auslöschung und Schwingung von Elementarteilchen hörbar zu machen. Mit meinen Klangexperimenten erforsche ich die Übersetzung chemischer und struktureller Prozesse von subatomaren Wechselwirkungen in Klänge, indem ich sie im Audiobereich wahrnehmbar mache. Es geht um eine intuitive, instinktive Auseinandersetzung mit Geräuschen, Bewegung, Automatisierung, Teilung, Symbiose, Dissonanz und Resonanz etc. Wissenschaftliche Musik ist für mich der Code der Zukunft, weil sie uns die Vorstellung bzw. Vision fortgeschrittenerer Lebensformen ermöglicht. Und damit meine ich nicht „künstliche Intelligenz“!

Audiobeispiel: Mia Zabelka – „PhotoTone“ (Bandcamp)

Improvisation mit akustischen versus elektronischen Sounds

Ich spiele sowohl akustische als auch elektrische Violine in Verbindung mit verschiedenen electronic Devices. Besonders wichtig ist mir beim Spiel mit der E-Violine der direkte, haptische Zugriff auf das Klangmaterial über meine Effektpedale. Der elektronische Klang entsteht somit durch „physisches“ Spielen auf der Violine. Mit diesem Setup habe ich die Möglichkeit, die Bandbreite meines Klangs so weit zu erweitern, dass die Violine selbst zum elektronischen Klangerzeuger wird. Ich habe einmal über meine Musik gesagt: „Ich nutze den elektronischen Klang, um den natürlichen akustischen Klang des Instruments zu maskieren. Durch diesen Maskierungsprozess schlüpfe ich in eine unendliche Vielfalt an Rollen und betrete für mich unbekanntes Terrain.“

Mit akustischen Instrumenten kann die freie Improvisation eine unmittelbare Verbindung zu den Klängen und Texturen bieten, die direkt aus dem Instrument entstehen. Man kann sich auf die physische Interaktion mit dem Instrument konzentrieren und sich auf die Nuancen des Tons und der Technik konzentrieren. Die klangliche Palette akustischer Instrumente kann vielfältig sein, von der subtilen Nuance eines Streichinstruments bis hin zu den dynamischen Klanglandschaften eines Schlagzeugs.

Mit elektronischen Instrumenten bietet die freie Improvisation eine breitere Palette von Klängen und Effekten, die durch Manipulation von Klangsynthese, Sampling und digitalen Effekten erzeugt werden können. Somit ist es möglich, Klänge zu formen und zu verändern, die über das hinausgehen, was mit rein akustischen Mitteln möglich ist. Die ständige Weiterentwicklung von Technologien in der elektronischen Musik bietet permanent neue Möglichkeiten für das Experimentieren und Erforschen von Klängen. Freie Improvisation im Kontext elektronischer Musik ist für mich zukunftsweisend.

Audiobeispiel:

„Of Hidden Spaces“ – ein Werk, das in Kooperation mit der Komponistin und Klangkünstlerin Zahra Mani entstanden ist. Mit Zahra Mani arbeite ich seit Jahren zusammen, etwa auch im Rahmen des Ensembles One-Night-Band, welches die Schnittstellen zwischen Improvisation, Komposition, experimenteller Elektronik und Klangkunst erforscht.

„Of Hidden Spaces“ wurde auch auf die Spotify-Playlist „Female Film Composers“ aufgenommen, die vom Verband Women Music Austria in Kooperation mit FC Gloria initiiert wurde.

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Transmedialität und Transdisziplinarität der freien Improvisation

Im Kontext der freien Improvisation spielen Transmedialität und Transdisziplinarität eine wichtige Rolle.
Transmedialität bezieht sich darauf, wie künstlerische Praktiken verschiedene Medien und Plattformen überschreiten können, während Transdisziplinarität darauf hinweist, wie verschiedene Disziplinen miteinander verbunden werden können. In Bezug auf freie Improvisation bedeutet dies, dass Musiker:innen mit Künstler:innen aus anderen Bereichen wie Tanz, bildender Kunst, Videokunst, Literatur, aber auch Wissenschaftler:innen zusammenarbeiten, um Erfahrungen zu schaffen, die über die traditionelle Musikperformance hinausgehen.

Durch die Vielseitigkeit und Flexibilität von elektronischen Sounds können sie in einer Vielzahl von Medien und Kontexten verwendet werden, was ihre transmediale Natur unterstreicht.

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Ich möchte diesen kurzen Einblick in den Mikrokosmos der freien Improvisation mit einem Zitat des renommierten Jazz- und Improvisationsmusikers Steve Lacy abschließen:

„Eine Frische, eine gewisse Qualität, die nur durch Improvisation erreicht werden kann, etwas, das man beim Schreiben unmöglich erreichen kann. Es hat etwas mit der ,Kante‘ zu tun. Immer am Rande des Unbekannten stehen und auf den Sprung vorbereitet sein.“ (Steve Lacy in Bailey 1993: 57)6

Da man über Musik viel reden kann, sich aber die Magie der Musik mit Worten nicht erschließt, lade ich Sie herzlich dazu ein, Konzerte mit improvisierter Musik zu besuchen und an diesen Sprüngen (ins Ungewisse) teilzunehmen.

  1. Dieses sowie die weiteren Zitate sind folgender Website entnommen und durch die Autorin aus dem Englischen übersetzt: Per Zanussi: NATURAL PATTERNS – MUSIC MAKING WITH AN ENSEMBLE OF IMPROVISERS (Stand: 21. Mai 2024) ↩︎
  2. Ebda. ↩︎
  3. Ebda. ↩︎
  4. Ebda. ↩︎
  5. Ebda. ↩︎
  6. Ebda. ↩︎

Über Mia Zabelka
* 1963 in Wien; lebt in der Südsteiermark und in Wien
Mia Zabelka erhielt mit sieben Jahren ihren ersten Violinunterricht und begann, neben ihrem klassischen Studium bei Alexander Arenkov am Konservatorium Wien, in Jazz- und Rockbands zu spielen. Anschließend studierte sie Kontrapunkt bei Kurt Schwertsik sowie elektroakustische Musik bei Dieter Kaufmann und Komposition bei Roman Haubenstock-Ramati an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien (heute mdw). Seit ihrer ersten Veröffentlichung Somateme setzt sie Live-Elektronik und andere innovative Spieltechniken in ihrer musikalischen Sprache ein, um Klang und Geräusch als physikalische Phänomene zu entdecken, die auf den Möglichkeiten der De- und Rekonstruktion des Violinklangs basieren. 2008 gründete sie Klanghaus, ein Zentrum für Sound Art in der Südsteiermark. Seit 2009 ist sie künstlerische Leiterin von PhonoFemme Vienna, einem internationalen Festival im Bereich experimentelle Musik von Frauen. 2015 wurde sie Präsidentin der SFIEMA. Seit 2019 ist Zabelka Vize-Präsidentin der Austrian Composers Association. Sie kollaboriert mit Künstler:innen aus diversen musikalischen Richtungen, darunter John Russell, Maggie Nicols, Peter Kowald, Elliott Sharp, Fred Frith, John Zorn, Pauline Oliveros, Balazs Pandi und ICOSTECH, tritt weltweit bei Festivals auf und veröffentlichte zahlreiche Tonträger, die seit Jahren von der internationalen Musikkritik positiv rezensiert werden. Mia Zabelka erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. 2018 den Akademia Music Award für ihre im Auftrag des musikprotokolls und des Österreichischen Kulturforums New York entstandene Komposition Für Pauline Oliveros. 2021 wurde Mia Zabelka mit dem Österreichischen Kunstpreis in der Sparte Musik ausgezeichnet.

Preise für „Somateme:

  • 1987 Internationaler Wettbewerb für elektroakustische Musik „Luigi Russolo“, Varese (Italien): Anerkennungspreis (Ströme)
  • 1988 Prix Ars Electronica, Linz: Anerkennungspreis (Sandstrahlentrost)
  • 1992 Internationaler Wettbewerb „Forum junger Komponisten“ – WDR. Westdeutscher Rundfunk, GNM Köln (Deutschland): Preis (Aura)

Links:
Mia Zabelka
Mia Zabelka (music austria Musikdatenbank)
Austrian Composers (ACOM)
„Ich habe die Vision von einer Musik, die von einem Individuum mit höherem Bewusstsein ausgeht“ – Mia Zabelka im mica-Interview