CHRISTINA NEMEC ist grantig. Die ehemalige SHAMPOO BOY-Bassistin und Gründerin von SV DAMENKRAFT sitzt ihn ihrem Haus im Waldviertel und ärgert sich über einen Journalisten. „Wie deppert muss man sein, bitte?“, sagt sie und meint: „Das Nicht-Verstanden-Werden finde ich schlimm“. NEMEC, solo als Knister-, Knarz- und Krachmacherin CHRA bekannt, kann trotzdem nicht lange herumgranteln. Dafür habe sie Menschen zu gern. Außerdem fehle ihr die Attitude. Ihr mag zwar die Wut von Ernie Mangold imponieren – „weißt eh, die wohnt einen Ort weiter“ – sie liebt Metal aber genauso wie Idiotenmusik. Damit hat ihr neues Projekt PARADISO INFERNAL so viel gemeinsam wie ein Wellnesswochenende in Gramatneusiedl. Mit Longtime-Spezi und Titelfabrikant CHRISTIAN SCHACHINGER brummt der Winter im Waldviertel drei Oktaven tiefer und sorgt für Rambazamba unterm Herrgottswinkel. Wieso sie lieber wahnsinnig wird, bevor sie nach Wien zurückkehrt, hat CHRISTINA NEMEC im Gespräch mit Christoph Benkeser erklärt. Außerdem haben wir über das Weitermachen nach dem Tod von Peter Rehberg gesprochen, über Lorbeerblätter aus Pescara gelacht sowie dem Kreisky-Sozialismus gehuldigt. Und: NEMEC verrät, was sie „am SCHACHINGER“ wirklich gut findet.
Hallo, hörst du mich?
Christina Nemec: Ja, aber sehen tu ich dich nicht.
Weil wir nur telefonieren. Sollen wir auf Skype wechseln?
Christina Nemec: Das passt schon. Wenn ich über das Album reden soll, muss ich mich eh noch mit Giacinto Scelsi auseinandersetzen. Das ist der Namenspatron.
Der Namenspatron der Platte? Über den müssen wir nicht reden.
Christina Nemec: Ich möchte aber den Pfad weiterführen. Schließlich nehme ich schon das nächste Album auf. Es kommt immer das nächste, das alte muss aber noch … egal, du kochst jetzt, hast du geschrieben.
Ja, ein Süßkartoffel-Risotto. Aber wir können ruhig reden.
Christina Nemec: Hast du Ingwer und Koriander?
Hab ich, ja.
Christina Nemec: Koriander erst ganz zum Schluss, das weißt du eh?
Du kennst dich aus. Kochst du gerne?
Christina Nemec: Kochen ist eine Leidenschaft von mir, ja. Aber mich interessiert dein Risotto. Hast du schon eine Gemüsesuppe angesetzt?
Gestern. Aber ich mach das nach einem vegetarischen Kochbuch, das ich letzthin bekommen hab.
Christina Nemec: Ah, du bist voll vegetarisch?
Schon länger. Wie ist das bei dir?
Christina Nemec: Ich esse manchmal Fleisch.
Weil du es regional bekommst, nehm ich an.
Christina Nemec: Heroben bekomm ich das Fleisch von einer Bäuerin, die lustigerweise Schachinger heißt. Jedes Mal, wenn ich den Christian anrufen will, ruf ich zuerst aus Versehen bei ihr an.
Und bestellt gleich ein Fleisch.
Christina Nemec: Ja, sie hält Galloway-Rinder, die die ganze Zeit draußen sind. Bei ihr bekomm ich Faschiertes und Fleisch. Aber weißt du, Fisch essen wir auch.
Ich könnt keinen Fisch töten. Deshalb hab ich damals aufgehört, ihn zu essen.
Christina Nemec: Ich versteh das. Es ist schon grausam, man muss ihn ja erschlagen.
Mit einem Stein!
Christina Nemec: Eben, es ist ähnlich wie beim Fleisch, ich mag es eigentlich nicht. Darüber rede ich mit Konstantin [Drobil, Christinas Partner; Anm.] oft. Wenn es Schweine nicht eine Minute ihres Lebens schön haben, wozu dann? Aber ich will nicht pathetisch sein.
Ich versteh dich.
Christina Nemec: Man muss trotzdem alles hinterfragen. Der Bauer, bei dem ich oft Gemüse kaufe, holt auch einen Teil aus dem Großmarkt in Wien. Deshalb kannst du einen großen Sack Gemüse für drei Euro kaufen.
Sonst wär das nicht so billig.
Christina Nemec: Alles andere wäre eine Lüge, ja. Weißt, die Erni Mangold wohnt im Nachbardorf …
Die Erni Mangold auch? Du hast eh gemeint, dass der Armin Wolf und der Rubey bei dir im Ort wohnen.
Christina Nemec: Ja, die Erni ist mittlerweile 95 und wohnt im Wolfshoferamt, einer Straße, die nach ihr benannt ist. Wegen Corona hat sie ihre letzten Geburtstage nicht mehr in den grindigen Wirtshäusern der Gegend feiern können. Grantig ist sie trotzdem immer.
Ja?
Christina Nemec: Ich liebe das, wenn jemand so grantig ist. Am liebsten würde ich mein ganzes Leben damit verbringen, grantig zu sein.
Du bist gern grantig?
Christina Nemec: Ja, aber ich bin es nicht gut genug.
Was fehlt dir, um gut grantig zu sein?
Christina Nemec: Attitude!
Welche?
Christina Nemec: Na ja, das Selbstbewusstsein, immer grantig zu sein – ohne Konsequenzen! Dafür mag ich Menschen viel zu gern. Mein Ex-Freund Mika Vainio war das Gegenteil. Er mochte die Menschen, aber er mochte sie nicht. Verstehst du? Das war immer schwierig abzuschätzen … Mit Peter [Rehberg, Anm.] war es auch so. Er hasste die Menschen und mochte nur jene, die er mochte. Peter und ich haben uns aber – obwohl nie auf einer sexuellen Ebene – immer gemocht. Es gab ein Grundvertrauen, das er zu vielen anderen nicht aufbauen konnte. Vielleicht sind wir alle zu verkopft.
Wir sollten blöder sein, um grantiger zu werden.
Christina Nemec: Ha, grantig! Weißt du, was mich gerade am meisten ärgert? Dass der Fasthuber im Falter schreibt, dass ich ein Stück auf dem Album nach Karl Fluch benannt habe. Wie deppert muss man sein, bitte? Glaubst du, ich würde in meinem Leben eine Sekunde meiner Energie verwenden, um ein Stück nach Karl Fluch zu benennen? Niemals! In dem Track stecken, abzüglich der Arbeit, locker 1000 Euro – das widme ich doch nicht einem Kollegen vom Christian!
Das find ich wirklich sehr lustig.
Christina Nemec: Na, vollkommen absurd ist das! Ich muss aber ehrlich sagen, der Schachinger darf immer die Titel auswählen.
Also kommen sie doch von ihm.
Christina Nemec: Ja, aber sicher nicht wegen Karl Fluch. Die Titel hat immer schon der Christian gemacht. Auch bei Shampoo Boy.
Er ist der Titelgeber.
Christina Nemec: Ja, außer mit Paradiso Infernal. Das kommt von mir. Genauso wie die EP auf Vienna Underground Traxx.
Die erschien letztes Jahr. Da hieß das Projekt aber noch nicht Paradiso Infernal?
Christina Nemec: Es hieß „Movimiento“ und war der Vorgänger zum Album. Die Idee zur Referenz auf Scelsi kam mir vor zwei Jahren in Mailand. Ich liebe ja Italien. Es war so super, man kann es sich nicht vorstellen.
Was war in Italien?
Christina Nemec: Sowohl Urlaub als auch Arbeit. Ich war in Mailand, da war alles immer super vorbereitet, weil Professionalität dort großgeschrieben wird. Ich hab in der Kirche San Fedele gespielt, gleich um die Ecke des Mailänder Doms. Es huschten andauernd Pfarrer herum, aber sie waren sehr nett!
In welchem Rahmen hast du dort gespielt?
Christina Nemec: „Inner Spaces“ heißt die Veranstaltung, bitte google das! Ich bin dort mit Vladislav Delay aufgetreten. Vor Ort haben sie eine Anlage für 48 Kanäle. Und ich komm mit einem Stereo-Signal. Ich hab dem Tontechniker gesagt, dass ich ihm das Signal schicke und er die Kanäle fährt. Es war ausverkauft und wunderbar! Der österreichische Kulturattaché hielt eine Laudatio auf mich. Nur Alkohol gab es während der gesamten Veranstaltung keinen. Also irrten wir danach durch die Gassen, bis wir endlich einen Laden fanden, bei dem wir Bier kaufen konnten. Aber sag, wo bist du mit deiner Kocherei?
Ich schäle gerade Süßkartoffeln und wir schweifen ab. Weil wir von Fluch und dem Titelgeber Schachinger geredet haben: Wieso gibst du den Stücken nicht selbst einen Namen?
Christina Nemec: Das ist eine gute Frage! Ich sag so: Der Christian ist wesentlich eloquenter als ich.
Ist er das?
Christina Nemec: Ha, ich vertrau ihm in der Hinsicht. Mit Peter war das auch schon so. Wir machten die Musik, aber Christian konnte daraus die wörtliche Essenz ziehen. Bei meinem letzten Album auf Mego habe ich den Namen selbst gewählt – war aber nicht wirklich glücklich. „Empy Airport“ war der einzige Titel, der mir jemals geglückt ist.
Der Titel macht viele Bilder auf, ja.
Christina Nemec: Ich bin aber nicht … weißt du, ich schreib zwar viel, bin aber zu pathetisch.
Wie meinst du das?
Christina Nemec: Das Projekt Paradiso Infernal habe ich entwickelt – ein langer Arbeitsprozess, den ich nicht beschreiben kann, der aber mit der EP auf Vienna Underground Traxx begonnen hat. Diese EP habe ich wichtig genommen. So wie alle Projekte, die ich mache, wichtig für mich sein müssen. Ich erzähl dir nichts, du kennst doch die Leute, die einen Knall haben.
Aber ist man das selbst nicht auch? Zu einem gewissen Grad.
Christina Nemec: Natürlich! Aber nur manche überleben das.
Lässt du dich ganz auf den Wahnsinn ein?
Christina Nemec: Eher ja! Was soll man schon mit 53 tun? Schau dir die Toyah Wilcox an. Die ist mit Robert Fripp zusammen, der ist der von … du kennst die, oder?
King Crimson?
Christina Nemec: Genau. Toyah und Robert sind verheiratet und stellen seit dem Lockdown Videos auf YouTube. Schau dir das an, es ist wirklich lustig, weil es alles entwirrt, was man sich von ihnen vorstellen würde! Würde Mika heute noch leben – er war ja ein unglaublicher Fan von King Crimson – er fände es wahrscheinlich richtig scheiße.
Aber dir gefällt es.
Christina Nemec: Ich finde es urlustig. Aber weißt du, ich hab mit Mika damals stundenlang Filme von Tarkovsky geschaut. Irgendwann hab ich ihm Spongebob gezeigt. Und er meinte: Damit machst du mir wirklich Angst! Er hatte eine andere Art von Humor. Am Schluss war ich froh, dass ich aus der Beziehung gekommen bin.
Wieso froh?
Christina Nemec: Mika war Alkoholiker. Ich kann mich an die Ars Electronica 2005 erinnern. Mika und Ilpo [Vaisänän, Anm.] bekamen einen Preis. Es ging rund. Später kam ich in die Hotellobby und sagte zu Ilpo: “Ich muss nach Wien und komm nicht mehr zurück.” Er verstand das. Danach war es aus.
Weil Mika für dich eine Linie überschritten hat?
Christina Nemec: Egal wo wir waren, er hat sich unmöglich aufgeführt. Wir hatten überall Lokalverbot. Und wenn er nichts trank, war er schlecht gelaunt. Ich war dann die Einzige, mit der er ein Wort redete. Bei Peter war es anders. Er trank die letzten Jahre nur noch alkoholfreies Bier.
Das hat sich aber nicht auf seine Stimmung ausgewirkt. Er war, als ich letztes Jahr mit ihm in Innsbruck beim Heart of Noise Festival sprach, derselbe Grantler zu Leuten, die er nicht kannte.
Christina Nemec: Peter hasste Innsbruck. Aber nicht nur Innsbruck. Das PMK, Chris Koubek und Stefan Meister [Organisatoren von Heart of Noise, Anm.] mochte er auch nicht besonders.
Und trotzdem ist er wiedergekommen.
Christina Nemec: Weil ich damals das Abendessen für Mark Fell und Peter bezahlte! Das ist fünf oder sechs Jahre her. Es war entsetzlich, man kann sich das gar nicht vorstellen. Trotzdem sind sie wiedergekommen, ja.
Das ist doch eine pragmatische Entscheidung, oder?
Christina Nemec: Natürlich müssen wir alle Geld verdienen.
Ist dir Geld wichtig?
Christina Nemec: Ja, weil ich meine Rechnungen zahlen muss.
Und wenn deine Grundbedürfnisse gedeckt wären?
Christina Nemec: Na, dann nicht, schau mich an! Ich hab trotzdem Angst, dass mir in 20 Jahren alles davon fließt. Meine Pension wird niedrig sein. Deshalb versuche ich jetzt zu sparen. Über dieses Thema redet niemand. Von daher hast du recht: Ich will schon Geld verdienen. Ich will einfach ins Gasthaus gehen. Ich will meinen Freunden eine Runde zahlen. Und beim Luki Mraz im Lokal essen, ohne aufs Geld zu schauen. Ich würd uns allen wünschen, dass wir gut leben können – egal wie.
Ist das Leben im Waldviertel nicht besser als in Wien?
Christina Nemec: Es ist eine Erleichterung, wenn ich nach Wien komme.
Ja?
Christina Nemec: Weißt du, wie dumm manche Leute hier heroben sind? Außerdem sind viele gar nicht an einem sozialen Leben interessiert, sie wollen nur allein sein. Aber ich sag eh nichts und grüß alle.”
Man will ja nicht als Städterin abgeschrieben werden.
Christina Nemec: Durch Corona hab ich die Bodenständigkeit verloren. Ich kann nichts mehr beurteilen, weil ich so selten mit Menschen zu tun habe. Ist das für dich nicht auch so?
Na ja, ich wohne in der Stadt …
Christina Nemec: Ja, der Christian sagt zu mir: Du musst wieder in die Stadt kommen und unter Leute gehen, ansonsten wirst du verrückt. Ich sag ihm, dass er recht habe. Aber ich will nicht.
Wieso denn?
Christina Nemec: Weil es mich langweilt!
Also wirst du lieber verrückt bevor du in die Stadt zurückgehst?
Christina Nemec: Wahrscheinlich. Ich kann es aber nicht sagen. Mir geht so vieles gleichzeitig auf die Nerven, dass ich es gar nicht beurteilen kann.
Und im Waldviertel kannst du alleine sein.
Christina Nemec: Vor allem kann ich mit mir alleine sein. Ich wollte ja immer in die Stadt. Sie war als Jugendliche die Verheißung. Das Klischee der 80er in Wien kennen alle – man musste dabei sein. Das hat sich aber alles verändert. Durch die Globalisierung gibt es die Stadt nicht mehr. Ich weiß nicht mal, ob ich noch eine Lieblingsstadt habe.
Eine Lieblingsstadt?
Christina Nemec: Ja, ich glaub es ist Tokio! Dabei ist man dort auch in jedem Viertel in einem kleinen Dorf … Na ja, das Distrito Federal in Mexico City mag ich auch gern.
Und Wien hat sich für dich abgenutzt?
Christina Nemec: Das kann schon sein. Ich will das aber nicht sagen, weil ich Wien sehr gerne mag. Es ist eine Ambivalenz, die nicht leicht zu formulieren ist. Gerade jetzt möchte ich mir nicht anmaßen, als Künstlerin im Waldviertel zu sitzen und zu sagen, dass Wien scheiße sei.
Es ist ein Privileg.
Christina Nemec: Ja. Außerdem kann ich ja nach Wien fahren. Aber wenn ich in der Stadt bin, geht mir das Ganze nach ein paar Stunden wieder auf die Nerven und ich wünsche mich zurück.
Kannst du den Bernhard’schen Hass nachempfinden?
Christina Nemec: Ich bin Fan von Thomas Bernhard und hab viel von ihm gelesen. Aber wo war er glücklich? In Lissabon! Und das ist auch eine Stadt.
Da hast du recht.
Christina Nemec: Deshalb hab ich dem Schachinger damals geschrieben, wenn ich es mir leisten kann, geh ich nach Triest.
Dabei ist Triest wie Wien mit Meerzugang.
Christina Nemec: Und freundlichen Menschen! Nach Barcelona würde ich auch sofort gehen.
Alles außer Österreich also.
Christina Nemec: Na, Wien passt schon, aber ich sag dir jetzt was: Paradiso Infernal ist eigentlich ein düsterer Strand in Grado.
Wart, wo sind wir jetzt. Beim Album?
Christina Nemec: Ja eh.
OK, Urlaubsstimmung kommt dabei nicht auf. Ich spür eher den Winter im Waldviertel in den Knochen.
Christina Nemec: Es soll ja nicht gefallen. Das Nicht-Verstanden-Werden finde ich problematischer. Wenn du nicht verstanden wirst, ist das schlimm. Aber damit lebt man.
Oder man hat eine Message-Control …
Christina Nemec: Die das reinschreibt, was man vermitteln möchte genau! Leider hab ich die nicht. Deshalb mach ich weiter mit meinem Zeug. Seitdem Peter gestorben ist, ist das Weitermachen für mich aber schwierig geworden. Er fehlt mir – als Freund, Feedback und Labelmacher. Dass er auf einmal nicht mehr da ist, hätte ich nie gedacht. Das mag sich naiv anhören – jeder von uns stirbt irgendwann –, aber es war so überraschend.
„WENN DU DA DRINNEN WARST, GEHÖRTEST DU ZUR FAMILIE.“
Damit konnte man nicht rechnen. Nie.
Christina Nemec: Ja! Ich ärgere mich so, weil ich noch mit ihm verabredet war, ihm aber aus Faulheit abgesagt habe. Das wär unser letztes Treffen gewesen – eine Woche vor seinem Tod. Jetzt steht sein ganzer Freundeskreis unter Schock. Niemand weiß, wie es weiter geht. Editions Mego war schließlich eine Homebase. Wenn du da drinnen warst, gehörtest du zur Familie. Und konntest fast alles machen.
Das ist das Grundvertrauen, von dem du gesprochen hast. Wenn das da war, ist …
Christina Nemec: Alles gegangen. Sofern es finanziell möglich war. Mittlerweile kommt auch die lange Produktionszeit dazu. Das Album zu Paradiso Infernal haben wir im September 2020 aufgenommen. Veröffentlichen konnten wir es ein Jahr später. Ob pressen, drucken oder produzieren – alles dauert zu lange. Mit Daft Punk und diesem „Back-to-Black“-Vinylding ging es damals los, inzwischen wartet man als kleines Label Monate, wenn man Vinyl pressen lässt. Deswegen haben auch viele begonnen, Kassetten aufzunehmen. Aber … wer hat noch einen Kassettenspieler? Die meisten kaufen die als Deko und laden dann das File runter. Du, wie schaut’s mit deinem Risotto aus?
Ich rühre …
Christina Nemec: Ich muss morgen auch wieder kochen und überlege jetzt schon.
Das ist die Arbeit, die niemand sieht?
Christina Nemec: Absoluter Stress, ja! Weißt, ich bin ein Mise-en-Place-Typ. Wenn ich koche, bringe ich die Küche auf Vordermann und richte alles her, wie ich es brauche.
Wie in der Fernsehküche!
Christina Nemec: So ungefähr. Wenn Konstantin kocht, bereitet er nichts vor – und ich werd grantig, weil ich alles bis aufs kleinste Detail planen möchte. So kann ich stundenlang in der Küche verbringen und daneben ein Bier trinken. Das ist für mich Kontemplation. Aber nur, wenn es gscheid vorbereitet ist.
Das hört sich nach logistischer Planung an. Ist das in deiner …
Christina Nemec: Ja, in meiner Musik ist das auch so. Ich weiß vor dem Aufnehmen genau, was ich machen möchte, weil ich alles vorbereitet habe. Anders geht das nicht. Ich bin kein Improvisations-Jazz-Fuzzi. Sondern ich plane. Das gelingt nicht immer, aber ich habe eine Vorstellung, wie ich meine Pläne umsetzen kann.
Bei einem 17 Minuten langen Stück kann man doch nicht, wie beim Kochen, alle Zutaten vor sich aufstellen, oder?
Christina Nemec: Das stimmt. Deshalb liegt das Editieren ja in meiner Hand.
Bleiben wir pathetisch und sagen: Erst das Würzen bringt den Geschmack.
Christina Nemec: Genau. Wir bekamen für das Haus im Waldviertel einen Lorbeerbaum aus Pescara geschenkt. Wenn ich eine Suppe mache und diese Lorbeerblätter verwende, schmeckt es zehnmal besser als jeder Packerl-Lorbeer.
Es kommt aber auch drauf an, wer die Suppe kocht.
Christina Nemec: Bei Shampoo Boy hat immer Peter editiert. Aber das war ein anderes Projekt. Paradiso Infernal ist meines. Darüber hat er sich geärgert. Es hat ihm nicht gepasst, dass wir das nur zu zweit gemacht haben.
Es hat ihm nicht gepasst, dass er außen vor war?
Christina Nemec: Na ja, er wäre gerne dabei gewesen, glaub ich. Schließlich war davor schon ewig ein neues Album von Shampoo Boy geplant. Aber es ging nicht. Auch weil Peter sein Leben umkrempelte und seinen Lebensmittelpunkt verlagerte. Christian und ich waren plötzlich nicht mehr so wichtig. Das ist so – und nichts Schlimmes. Trotzdem habe ich auf meiner Festplatte ungefähr 30 Stunden Material für eine Shampoo-Boy-Platte. Das veröffentliche ich jetzt nicht, vielleicht in ein paar Jahren, wenn es passt … Jedenfalls war Paradiso Infernal die Idee von mir und Christian macht mit. Wir spielen demnächst live, werden die Stücke aber nicht nachspielen – wie denn auch? Es geht darum, die Stimmung zu halten.
Das wäre auch im Sinne von Scelsi, deinem Namenspatron des Albums.
Christina Nemec: Weißt du, dass ihn seine Eltern im Zweiten Weltkrieg in die Psychiatrie schickten? Er war dadurch safe, musste nicht in den Krieg ziehen. Und konnte an seinem Spleen – oder war es seine Krankheit? – arbeiten, immer nur einen Ton zu spielen, um ihn zu perfektionieren. Seine Frau war Japanerin und war in der Lage, seinen minimalistischen Stil zu erklären. Ich besitz ja zwei Bibeln von Scelsi.
Wie hast du ihn entdeckt?
Christina Nemec: Ich sammle Zeitungsberge und arbeite sie über die Zeit ab. In einem Falter bin ich auf einen Artikel von Sven Hartberger gestoßen. Er hat Scelsi besprochen. Und ich war sofort interessiert. Später traf ich Sven auf einer Geburtstagsfeier und erzählte ihm davon. Er ging sofort nach Hause und brachte mir zwei Bücher von ihm. Ich hab mich darin eingegraben, weil er so eine interessante Persönlichkeit war. Fairerweise muss ich sagen: Scelsi hatte auch Glück, dass er reiche Eltern hatte, die ihm das Leben retteten …
Und ihm die Kunstfreiheit ermöglichten.
Christina Nemec: So wird es in Zukunft auch wieder sein wird.
So war es in der Vergangenheit nicht?
Christina Nemec: Schau, die Möglichkeit zu studieren habe ich dem Kreisky-Sozialismus zu verdanken. Dass die Jüngeren das nicht mehr verstehen, finde ich legitim. Allerdings haben sich die Unis so stark verändert … ich begann ja erst mit 30 und einem Selbsterhalterstipendium zu studieren. Außerdem hatte ich viele Freiheiten. Ich konnte überall Kurse belegen – neben meinen Einschreibungen in Publizistik, Theaterwissenschaft und Performance. Heute wäre das nicht mehr möglich. Es geht nicht mehr ums Nachdenken.
Sondern um das Erreichen von Softskills, wenn ich das aus manchen Lehrveranstaltungen zitieren darf. Den Powi-Studierenden im 34. Semester findet man nicht mehr. Alle husteln, weil sie Punkte sammeln.
Christina Nemec: Ich sag dir: Worüber man nachdenkt – man bekommt Kopfweh!
Hast du eigentlich fertigstudiert?
Christina Nemec: Ich wollte meine Diplomarbeit über Female Pressure schreiben, war aber nie zufrieden. Als bildungsverwahrlostes Kind gibt man keine Seepocken ab und zweifelt, so ist das. Das Ende war aber ein Kommentar von einer meiner damaligen Professorinnen, Elisabeth Büttner. Sie meinte zu einem angedachten Thema über Performance: „Frau Nemec, brauchen’S den Titel oder warum studieren’S?“ Das hat mich so geärgert, dass ich drauf geschissen hab. Darüber ärger ich mich immer noch.
Dass du aufgehört hast?
Christina Nemec: Ja, natürlich! Hätte ich ein anderes Selbstbewusstsein mitgebracht, hätt ich der gesagt: Natürlich mach ich es wegen des Titels! Ich wäre die erste in meiner Familie mit einem Abschluss gewesen. Aber nein …
Dafür hast du andere Wege gefunden.
Christina Nemec: Manchmal frag ich mich schon: Wozu verplempere ich meine Zeit? Warum mach ich das? Um Leute zu erreichen? Wir beide wissen, dass ich in engen Genre-Grenzen arbeite. Wir sind nicht Mainstream.
Dafür weißt du, wen du ansprichst. Das ist manchmal besser, als zu einer gesichtslosen Masse zu sprechen.
Christina Nemec: Das kann sein. Mir ist die intellektuelle Faust wichtig. Ich will die Dummheit rauskehren – und das, obwohl ich Metal liebe! Dort seh ich die Dummheit aber nicht so schlimm. Weißt, darüber hab ich schon mit deinen Vorgängern – Florian Obkircher oder Philipp L’heritier diskutiert. Kannst du dich noch an die erinnern?
An L‘heritier schon, an Flo nicht. Wie kanntest du sie?
Christina Nemec: Flo Obkircher ging irgendwann nach London. Vor 20 Jahren waren wir eine kleine Clique und haben immer diskutiert. Meine Musiksozialisation war die Musicbox und später der Sumpf, für Diskurssachen auch die Spex. Irgendwann konnte man aber nicht mehr sagen, dass man ein Outsider und damit interessant sei.
„WIR MÜSSEN UNS AUF ETWAS EINIGEN, SONST WÜRD ICH DEN GANZEN TAG NUR EUROTRASH HÖREN.“
Ich versteh, was du meinst. Musik hat den Distinktionscharakter verloren.
Christina Nemec: Eigentlich ist es eh wurscht. Die einzigen Genres, die richtige Fankulturen haben, sind Improvisations-Jazzer und Metaller. Gut, im Techno oder House gibt’s das auch noch. In allem anderen hat man aufgehört, die Leute abzuholen.
Die Leute gründen ihre Identität nicht mehr auf ihrem Musikgeschmack.
Christina Nemec: Wenn ich das erste Riff von „Fade to Grey“ von Visage oder „Vienna“ von Ultravox hör, fühl ich mich so jung. Das kannst du dir nicht vorstellen! Übrigens: Ich war mit meinen Bandkolleginnen von SV Damenkraft vor ein paar Jahren in Mexiko. Mit Sabine Marte, die auch bei Pendler spielt, bin ich mit einem Bus zur österreichischen Botschaft in Mexico City gefahren. Auf einmal spielt‘s „Rock Me Amadeus“ von Falco im Radio – und Sabine konnte sogar den Text.
Das ist eine schöne Erinnerung.
Christina Nemec: Mir war Falco ja immer wurscht. Ich bin eher eine Eurotrash-Queen. „Call Me Mister Vain tüdel tüdel dü!“ – ich kann das alles auswendig. Und mit SV Damenkraft haben wir „No Limit“ von 2 Unlimited sogar in einer 40-Sekunden-Version gecovert.
Der Sound deiner Jugend, wobei … das geht sich nicht ganz aus.
Christina Nemec: Na, weißt, womit ich aufgewachsen bin? Meine Eltern haben Deep Purple und Led Zeppelin und das ganze Zeug gehört. Außerdem hat meine Mutter überall mitgesungen. Ich hab es gehasst! In den 90ern war ich schon erwachsen. Und hab Eurotrash gehört. Einfach weil ich’s lustig fand.
Du hast es ironisch gehört.
Christina Nemec: Ja, aber wir mochten es auch echt. „Mr. Vain“ hab ich geliebt.
An was kannst du’s festmachen?
Christina Nemec: Felix Kubin nennt das Idiotenmusik. Aber ich hab mich immer gern damit abgelenkt. Und Konstantin hasst solche Sachen. Wenn er nicht im Haus ist, darf ich das Zeug spielen. Ansonsten spiel ich nur Reggaeton.
Moment, Konstantin hört Reggaeton?
Christina Nemec: Na, überhaupt nicht! Aber wir müssen uns auf etwas einigen, sondern würd ich den ganzen Tag nur Eurotrash hören, weißt!
Puh.
Christina Nemec: Natürlich nicht Anton aus Tirol oder DJ Bobo. Aber „No Limit“ find ich richtig gut!
Das ist doch keine Idiotenmusik!
Christina Nemec: Na, Idiotenmusik geht eigentlich komplett am Mainstream vorbei. Zumindest meint es Felix Kubin so. Ich kokettier damit – wenn ich Abba oder Boney M. aufleg, sag ich, dass ich Idiotenmusik spiel.
Gut, das führt jetzt zu weit. Zum Schluss frag ich gern, was der eine am anderen gut findet. Christian wollte nicht mitreden. Sagst du mir trotzdem, was du an ihm gut findest?
Christina Nemec: Er hat mir 2013 eine Nachricht geschickt und gefragt, ob ich mit ihm und Peter in einer Band Bass spielen möchte. Ich hab geantwortet: Mach ich. Wir haben uns dann bei Peter verabredet. Ich war eine Stunde zu früh dort. Weil ich so nervös war, hab ich vier Biere in einer Pizzeria getrunken. Schließlich sind wir hoch in seine Wohnung und haben die Band gegründet, die wir später Shampoo Boy nannten. Das war der Moment, in dem wir uns wieder näher kennengelernt haben. Danach haben wir Christian oft im Waldviertel besucht. Er hat sich immer gefreut. Und jetzt sag ich dir, was ich an ihm mag: Dass man – egal zu welcher Uhrzeit –immer ein Bier mit ihm trinken kann.
Und er würd sagen, dass du gern eins mittrinkst.
Christina Nemec: Na, er würd sagen, dass ich immer grantig bin.
Vielen Dank für das Gespräch!
Christoph Benkeser
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